Nauplios hat geschrieben : ↑ Fr 17. Jul 2020, 08:30
Das Ganze hat nur einen Haken: Wenn man beispielsweise sagt: Die Welt ist alles, was der Fall ist und darauf beharrt, dann macht man es sich besonders schwer mit dem Verstehen eines Philosophen wie Gabriel, der uns erklärt, warum es die Welt nicht gibt. Umgekehrt wird man unter der Voraussetzung, daß es die Welt nicht gibt, von der Lektüre von Schopenhauer' s "Welt als Wille und Vorstellung" nicht viel haben. Man wird dann auf Schritt und Tritt einwenden können: "Das ist doch Quatsch! Wie soll denn die Welt irgendetwas sein? Die gibt es doch gar nicht!" - Noch bevor man das Werk Schopenhauers überhaupt aufgeschlagen hat, kann man es wieder ins Regal zurückstellen - unter "Q". Q wie Quatsch.
Was Du hier forderst ist Offenheit gegenüber Neuem, oder dem Unbekannten.
Das ist nötig. Das sehe ich auch so.
Ich würde dir aber dahingehend widersprechen, dass sich ein Verständnis nur einstellen kann, wenn von allem Bekannten abgesehen wird (Den Kopf leer machen und von allem Anderen befreien).
Da bin ich gänzlich anderer Meinung. Verstehen vollzieht sich zum Großen Teil auch durch Gegenüberstellung und Vergleich.
Vor wenigen Jahren hat man zahlreiche Exoplaneten entdeckt, die den großen Gasplaneten in unserem Sonnensystem ähneln. Das war erstmal nichts Ungewöhnliches, damit hat man gerechnet.
Was allerdings untypisch ist, ist dass diese Exoplaneten in ihren Sonnensystemen an einer Stelle vorkommen, wo sie den gängigen Theorien nach eigentlich gar nicht hingehören, nämlich im "inneren Bereich".
Das wiederum war eine Sensation. Denn gemäß unserer bisheriger Vorstellung davon wie Planetensysteme entstehen, bilden sich Gasriesen (immer) im äußeren Bereich eines Sonnensystems.
Du kannst Dir sicher vorstellen, was dann in der Astronomengemeinde los war. Von "Die Daten sind falsch" (Das glaube ich nicht, das kann nicht sein. Hier liegt ein Messfehler vor), über "Unsere Vorstellung von der Entstehung sind schon richtig, aber irgendwie sind diese Planeten später ins innere Sonnensystem gelangt" (Synthese von Neu und Alt), bis hin zu "Unsere Vorstellungen sind komplett falsch, Sonnensysteme können wohl auch auf andere Art entstehen" (Verwerfen des Alten), war alles dabei.
Dabei reiben sich "alte" Vorstellungen bereits während des eigentlichen Vorgangs des Verstehens an den Neuen. Das finde ich vollkommen normal und richtig und für den Verstehensprozess förderlich.
Offenheit ist natürlich entscheidend, und natürlich muss man erstmal verstehen, was die neue Datenlage eigentlich bedeutet (hier: Was will uns der Philosoph eigentlich sagen?).
Aber warum sollte man dabei dem Neuen das Alte nicht gegenüberstellen dürfen und das Neue am Alten messen (und umgekehrt)?
Gerade durch die Gegenüberstellung werden ja auch Unterschiede (zwischen Neu und Alt) erst klar.
Kurzum: Du forderst, dass zuerst das Verstehen einsetzt, bevor die Gegenüberstellung (oder Kritik) beginnt.
Das ignoriert meiner Meinung nach aber den Umstand, dass für ein Verstehen eine Gegenüberstellung (auch in Form von Kritik) notwendig sein kann.
Deiner Forderung, sich die Mühe des Verstehens zu machen, würde ich die Forderung entgegenstellen sich die Mühe zu machen durch Beantwortung kritischer Nachfragen das Verstehen (vielleicht auch das eigene) zu fördern.
Aber vielleicht bist Du da auch der falsche Ansprechpartner. Immerhin bist Du ja nicht der Sender der hier besprochenen philosophischen Thesen, sondern nur ihr Rezipient, wie wir anderen auch.