Kulturelle Aneignung

Dieser Teil des Forums befaßt sich mit politischen, sozialen und historischen Aspekten der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.
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Nauplios
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Fr 20. Aug 2021, 20:17

Man kann das Afghanistan-Desaster aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, außenpolitisch, sicherheitspolitisch, militärisch, auch innenpolitisch. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Bundestagswahl zeichnet sich ab, daß die Union in den Umfragen an Zuspruch verliert, ebenso die Grünen. Diese waren bis dahin für die Union der Hauptgegner. Das ändert sich gerade. Den Grünen ist ihr Thema, der Klimawandel ein wenig abhanden gekommen. Die AfD hatte bis dahin überhaupt noch gar kein spezifisches Wahlkampfthema. Die große Sorge der CDU ist nun, daß sie angesichts möglicher Flüchtlingsbewegungen aus Afghanistan Stimmen an die AfD verliert. Wie eine Monstranz trägt sie deshalb den Satz "2015 darf sich nicht wiederholen!" vor sich her.

Das heißt, die durch eigene Fehlentscheidungen ausgelöste Flucht von Menschen aus Afghanistan wird nun auch noch dämonisiert, indem man daraus aus wahltaktischem Kalkül ein Schreckensszenario konstruiert. - Demokratie, Menschenrechte, Werte ... werden bemüht, um die Legitimität eines militärischen Engagements zu stärken und wenn das schiefgeht, "darf sich 2015 nicht wiederholen". - Aus den Trümmern folgenschwerer Fehleinschätzungen wird ein wahlkampftaktisches Rettungsboot gezimmert. Dabei war der Kanzlerkandidat der Union 2015 einer der vehementesten Befürworter der Merkel'schen "Willkommenskultur". In Afghanistan ist man verantwortlich für das größte außenpolitischen Desaster nach 1945, was im Land große Flüchtlingsbewegungen auslöst, "willkommen" sind diese Flüchtlinge der Union jedoch nicht.




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Nauplios
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Fr 20. Aug 2021, 20:40

In den Nachrichten ist heute zu hören, daß Griechenland afghanische Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei zurückweisen wird. Ich erinnere an einen Hubschrauberflug der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an der griechisch-türkischen Grenze, die einer Feldherrin gleich von oben auf die Flüchtlinge herabschaute. Als "Wertegemeinschaft" versteht sich die EU.




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Stefanie
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Fr 20. Aug 2021, 22:28

Das ist noch nett formuliert.
Deutschland und die EU haben seit 2015 nichts dazu gelernt. Die Menschen werden kommen, das ist für mich klar.
Das Chaos von 2015, die auf denn letzten Drücker getroffene Entscheidung, die Menschen reinzulassen, darf sich nicht wiederholen, die gestorben Menschen in Kühllastern darf sich nicht wiederholen, tote Kinder am Strand darf sich nicht wiederholen, usw.
Deutschland und die anderen westlichen Staaten einschließlich der USA haben es bzgl. Afghanistan verbockt. Aber sowas von. Sie tragen die Verantwortung für das, was gerade passiert. Es ist daher ihre verdammte Pflicht, den Menschen zu helfen, Flüchtlinge aufzunehmen.
Jede Partei, die die Verantwortung für Flüchtlinge ablehnt, werde ich nicht wählen. Und wenn ich am Ende die Die Linken wählen muss.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Stefanie
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Fr 20. Aug 2021, 22:47

Im Ahrtal, in Sinzig sind seit 4 Wochen etwa 150 Geflüchtete aus Syrien als freiwillige Helfer unterwegs. Unterschiedlich Lebensgeschichten, einige schon vor 2015 gekommen, einige schon Deutsche. Etliche haben sich von ihrer Arbeit freistellen lassen, ohne Lohnfortzahlung. Sie werden von zwei anderen freiwilligen Organisationen versorgt, die auch die Einsätze koordinieren. Sie schleppten erst Schlamm aus den Häusern, räumten auf, und Hämmern nun, flexen, klopfen usw. in Privathäusern Wände und Böden ab. Es eint sie alles folgendes: Der in ihrer Religion verankerte Gedanke der Solidarität und zu spenden, und vor allem dem Land was zurück zu geben, was sie aufgenommen hat und eigene gemachte Erfahrungen.

U.a.
https://ga.de/region/ahr-und-rhein/mehr ... d-62138255



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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 02:34

Stefanie hat geschrieben :
Fr 20. Aug 2021, 22:28

Deutschland und die anderen westlichen Staaten einschließlich der USA haben es bzgl. Afghanistan verbockt. Aber sowas von. Sie tragen die Verantwortung für das, was gerade passiert. Es ist daher ihre verdammte Pflicht, den Menschen zu helfen, Flüchtlinge aufzunehmen.
Genauso sehe ich das auch. - Wie verzweifelt die Menschen in Afghanistan sind zeigen Bilder, die jetzt um die Welt gehen. Mütter reichen amerikanischen Soldaten am Flughafen ihre kleinen Kinder über den Zaun, damit wenigstens die in Sicherheit sind. -

Ein Mann, der für die Bundeswehr 18 Jahre als Übersetzer tätig war und jetzt in Kabul mit seiner Frau und drei kleinen Kindern umherirrt, war zutiefst davon überzeugt, daß die Deutschen ihn und seine Familie nicht zurücklassen würden. Seine Enttäuschung faßt er am Ende der kleinen Dokumentation so: "Wenn meine Familie und ich getötet werden, trägt die deutsche Regierung dafür die Verantwortung. Ich habe mein halbes Leben für Deutschland gegeben. [...] Die Deutschen haben uns benutzt und werfen uns nun auf den Müll. [...] Guten Tag, verehrte Bundeskanzlerin. Ich weiß nicht, verehrte Deutsche, was ich noch sagen kann. Wir flehen Sie an: retten Sie uns! Retten Sie unser Leben! Wir haben 18 Jahre Ihrer Armee gedient."





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NaWennDuMeinst
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Sa 21. Aug 2021, 03:23

Was mich ein bißchen stört ist, dass offenbar niemand die Taliban in der Verantwortung sieht.
Man darf ja nicht vergessen, was letztlich der Grund für das ist, was wir jetzt sehen.

Und was Deutschland und Europa angeht: Wie hätte man das denn verhindern können, was hätte man besser machen können?
Hätte Deutschland sich komplett heraushalten sollen, damit man jetzt sagen könnte "Damit haben wir nichts zu tun"?
Selbst wenn Deutschland sich nicht beteiligt hätte, stünde doch Europa jetzt, was die drohenden Flüchtlingsströme angeht, vor der selben Situation.
Denn letztlich waren doch die Militäreinsätze in der Hauptsache eine Entscheidung der USA, genauso wie jetzt der Rückzug.
Man hätte den USA damals natürlich die Unterstützung verweigern können. Geändert hätte das aber nichts. Sie wären ja trotzdem in Afghanistan einmarschiert.
Wie soll das also in Zukunft laufen? Müssen wir, so wie Maas es sagt, uns unabhängiger von den USA machen?

Oder werden wir in Zukunft einfach wegsehen, wenn irgendwo in der Welt Menschenrechte missachtet werden, damit man uns hinterher nicht nachsagen kann wir hätten es verbockt?
Wenn demnächst die nächste Prügeltruppe in irgendeinem Staat die Bevölkerung niedermetzelt, dann werden wieder Stimmen laut werden, dass man das nicht einfach geschehen lassen darf.
Darauf könnt ihr einen lassen.
Aber wer soll denn dann noch eingreifen, mit dem Wissen im Hinterkopf, dass die selben Leute die schreien man dürfe nicht einfach wegsehen, dann hinterher diejenigen die eingegriffen haben bespucken?
Die Konsequenz kann doch nicht sein, dass Niemand mehr - aus Angst er könnte dabei einen Fehler begehen - bereit ist zu handeln.
Und man kann eben eine bewaffnete Prügeltruppe nicht mit "freundlichen Worten" zur Aufgabe bewegen. Da muss dann schon einer hin.
Also: Wie wollen die neunmalklugen Kritiker es besser machen?

Der Herr Biden hat schon gesagt, dass die USA nicht für die Probleme anderer Länder zuständig sein kann.
Na schön. Die Kritiker des "amerikanischen Imperialismus" werden sich freuen. Aber wer kümmert sich denn dann in Zukunft um solche Probleme?
Was ist die Alternative? Wegschauen? Davon ist den "Frauen und Kinderchen" ja auch nicht geholfen.
Das Hauptproblem sind doch nicht die Helfer, sondern Diejenigen die immer wieder Hilfe nötig werden lassen.

Ich kann die Kritik an dem wie jetzt der Rückzug abläuft gut verstehen. Dass man jetzt Diejenigen, die Deutschland und den anderen Nationen unterstützend zur Seite standen, so dermaßen im Stich lässt ist eine Sauerei.
Aber diese allumfassende Kritik die jetzt einsetzt, dieses Infragestellen der grundsätzlichen Ausrichtung, finde ich schwierig. Die Häme die manche jetzt zeigen bringt uns nicht weiter. Sie ändert nichts daran, dass es nun mal Probleme auf der Welt gibt die mit Waffen ausgetragen werden und dass irgendwer bereit sein muss da dann auch militärisch einzugreifen. Andernfalls können wir dann nämlich einfach nur dabei zusehen wie irgendwelche radikalen Terrormilizen Menschen abschlachten.



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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 11:21

Aus dem jetzigen Desaster um den Afghanistan-Einsatz ergeben sich viele Fragen, NWDM, die sich nicht durchweg mit einem Ja oder Nein beantworten lassen. Da ist zum Beispiel diese: Soll der Westen immer dann in ein Land militärisch eingreifen (mit Luftschlägen oder Bodentruppen), wenn es dort massive Menschenrechtsverletzungen gibt, keine demokatischen Strukturen, keine "westlichen Werte"?

"Wir können nicht überall dort intervenieren, wo das moralisch Richtige nicht getan wird“, sagt Markus Gabriel im oben verlinkten Interview. Sonst müsste man sofort durch einen Interventionskrieg Xi Jinping in China oder Bolsonaro in Brasilien ablösen.

Auf eine solche Idee käme niemand. Man sieht also, sobald man die Frage rein moralisch angeht, daß man schon gleich zu Beginn mit zweierlei Maß mißt. Die afghanische Bevölkerung habe durch die Machtübernahme der Taliban nun "die Fesseln der Sklaverei abgeworfen", kommentierte der pakistanische Premier Imran Khan die Geschehnisse im Nachbarland. Schon als die Taliban 1996 in Afghanistan an die Macht kamen und eine Schreckensherrschaft errichteten, gehörte Pakistan zu den wenigen Staaten, die das Regime anerkannten. In Afghanistan ist man einmarschiert, in Pakistan nicht. Pakistan ist eine Atommacht! Ebenso China. Mit China treiben wir erfolgreich Handel.

Eine Moped-Armee in die Berge zu treiben und in einem Land wie Afghanistan in Schach zu halten, gelingt einer hochgerüsteten Militärallianz natürlich. Ein Eingreifen in Pakistan würde ein militärisches Abenteuer mit unabsehbaren Folgen sein. Wir marschieren nicht in China ein, um dort für die Einhaltung der Menschenrechte zu sorgen oder den Chinesen westliche Werte zu vermitteln. Der Schutz der eigenen Bevölkerung hätte in dem Fall Vorrang. (Werte stehen untereinander in Konkurrenz. "Tyrannei der Werte") - Die Kanzlerin war ja gestern in Moskau und hat dort auf der Pressekonferenz die Freilassung Nawalnys gefordert. Was soll sie auch sonst tun? - Die Bundeswehr in Gang setzen?

Ich kann mir Situationen vorstellen (1994 der Völkermord an der Tutsi-Minderheit), in denen die internationale Staatengemeinschaft militärisch eingreift. Das kann auch das Aufspüren von Terrornetzwerken wie der IS und Al-Qaida sein. Da bin ich durchaus auf Deiner Seite, NWDM. - Was allerdings keine Leitlinie der Außenpolitik sein kann: überall dort militärisch flankiert einzugreifen, um universellen Werten zur Geltung zu verhelfen. Ich halte das für eine Illusion.




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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 11:37

13 Länder haben sich bislang bereit erklärt, aus Afghanistan geholte gefährdete Menschen vorübergehend bei sich unterzubringen.

- Albanien
- Kanada
- Kolumbien
- Costa-Rica
- Chile
- Kosovo
- Nordmazedonien
- Mexiko
- Polen
- Katar
- Ruanda
- Ukraine
- Uganda

Als "Transitländer" bieten sich u.a. Deutschland, Großbritannien, Italien an.

Durchfuhrland: Deutschland. Bestimmungsland: Uganda.




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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 11:53

Welche grotesken Züge das Afghanistan-Desaster begleiten, entnimmt man der Tagespresse:

"An jenem Wochenende, als die Taliban in Kabul einmarschierten, war Dominic Raab in einem Fünf-Sterne-Resort auf Kreta. Der britische Außenminister verbrachte dort seinen Sommerurlaub. Noch am vergangenen Sonntag wurde er laut Medienberichten am Strand gesichtet. Erst am Montag saß Raab wieder an seinem Schreibtisch in London. Da hatten die Taliban bereits die Kontrolle über die afghanische Hauptstadt erlangt." (Strand statt Büro)

Trotz eindringlicher Bitten von hochrangigen Beamten aus dem Außenministerium war der Minister nicht einmal bereit, ein Telefonat von seinem Urlaubsort aus mit dem afghanischen Außenminister über die dringende Evakuierung von Ortskräften zu führen.

Wird womöglich der Tag kommen, an dem der "Samen" (NWDM) westlicher Werte in Afghanistan tatsächlich aufgeht und wir auf deren Re-Import hoffen dürfen? ;)




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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 12:38

Vom "selbstgerechten Westen" schreibt Alice Schwarzer. Seine "fatale Interventionspolitik" sei "endgültig gescheitert". Schon im Irak und nun auch in Afghanistan habe der Westen versucht, "seine Auffassung von Demokratie überzustülpen". In einer Stammesgesellschaft wie Afghanistan sei das "absurd".

"Damit erleidet Afghanistan zwanzig Jahre später das Schicksal des Irak. In beiden Ländern wurden die gleichen Fehler begangen – oder sollte man sagen, wurden die Menschen Opfer des westlichen Hochmuts? Die Einheimischen wie die fremden Soldaten. Den Irak besetzte der Westen 2003 unter dem Vorwand einer von Anbeginn an durchsichtigen Lüge: Saddam Hussein horte Massenvernichtungswaffen. In Afghanistan lautete der Vorwand, man wolle die Menschenrechte und vor allem die Frauenrechte schützen (O-Ton Hillary Clinton)."

Afghanistan - ihnen droht der Tod




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NaWennDuMeinst
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Sa 21. Aug 2021, 16:33

Nauplios hat geschrieben :
Sa 21. Aug 2021, 11:21
"Wir können nicht überall dort intervenieren, wo das moralisch Richtige nicht getan wird“, sagt Markus Gabriel
Stimmt. Aber wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass man nicht intervenieren darf oder kann, dann sollte man doch auch die Schnauze halten und nicht nach Jemandem rufen, der "den armen Zivilisten hilft".
Man kann eben nicht einfach Hilfsorganisationen ins Land schicken, wenn bewaffnete Truppen das verhindern. Das geh nicht ohne militärische Intervention in irgendeiner Form.

Mir geht das gehörig auf die Nerven. Erst schreien sie alle das etwas getan werden soll. Dann wird eingegriffen und wenn das dann nicht so läuft wie gewollt sind nicht etwa die schuld die ständig ein Eingreifen fordern, sondern die die dem Ruf gefolgt sind.
Was ich sagen will: Ihr alle wolltet das doch so. Und nun schiebt jeder die Schuld auf den anderen. Und dabei gehen mir Diejenigen die jetzt am lautesten schreien, dass das alles abzusehen war ganz besonders auf die Nerven.
Frage doch mal Frau Schwarzer, wie wir ohne militärisch einzugreifen Hilfe leisten sollen, wenn Menschen mit Waffengewalt unterdrückt werden.
Wie wär's wenn sie einfach mal selber hingeht und sich beschiessen lässt? Und dann wenn das final schiefläuft kann sie sich zum Dank noch anhören was sie für eine Pfeife ist.

(Ich hoffe Du verstehst welche Art von Scheinheiligkeit und Klugscheisserei mir hier auf den Senkel geht)
Vom "selbstgerechten Westen" schreibt Alice Schwarzer. Seine "fatale Interventionspolitik" sei "endgültig gescheitert". Schon im Irak und nun auch in Afghanistan habe der Westen versucht, "seine Auffassung von Demokratie überzustülpen". In einer Stammesgesellschaft wie Afghanistan sei das "absurd".
Also ich finde absurd, dass das ausgerechnet Frau Schwarzer zum besten gibt. Ausgerechnet die Frau, die eigentlich ohne Pause und Unterlass die Anklägerin spielt, wenn es um die Frauenrechte in genau diesen "Stammesgesellschaften" geht.
Wenn Frau Schwarzer wirklich der Meinung wäre, dass man das eben so hinnehmen muss, weil westliche Werte nur im Westen gelten, und man Stammesgesellschaften nichts "überstülpen" kann oder darf - was genau will sie dann andauernd? Dass wir uns "aus der Ferne empören"? Wozu? Was soll das bringen? Davon geht es den Frauen dort ja nicht bessser.
Oder will sie nur, dass wir dafür sorgen, dass der Westen es "zuhause" besser macht, so als ob wir hier Frauen unter die Burka zwingen und ihnen das Autofahren verbieten würden?
Wenn das was diese Leute da machen falsch ist, dann ist es doch auch richtig einzugreifen, oder etwa nicht?



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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 18:41

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 21. Aug 2021, 16:33

(Ich hoffe Du verstehst welche Art von Scheinheiligkeit und Klugscheisserei mir hier auf den Senkel geht)
Vom "selbstgerechten Westen" schreibt Alice Schwarzer. Seine "fatale Interventionspolitik" sei "endgültig gescheitert". Schon im Irak und nun auch in Afghanistan habe der Westen versucht, "seine Auffassung von Demokratie überzustülpen". In einer Stammesgesellschaft wie Afghanistan sei das "absurd".
Also ich finde absurd, dass das ausgerechnet Frau Schwarzer zum besten gibt.
Ähnlich äußerte sich gestern beim Besuch der Bundeskanzlerin in Moskau Wladimir Putin. Es müsse damit aufgehört werden zu versuchen, "die Demokratie in anderen Ländern nach ausländischen Modellen aufzubauen", ohne dabei die historischen Besonderheiten und Traditionen zu beachten. "Ich denke, das ist die Lehre aus Afghanistan." (Putin)

"Der Extremismusexperte Peter Neumann bilanziert: Der Einsatz gegen den Terrorismus hat etwas gebracht, die systematische Präsenz vom Al Kaida und IS mit ihren Terrorcamps wurde in Afghanistan durch die Mission 'Enduring Freedom' vernichtet. Das später formulierte zweite Ziel, in Afghanistan einen neuen demokratischen Staat aufzubauen, sei allerdings gescheitert, so Neumann." (Einfach nur raus aus Kabul?)

Und der langjährige Afghanistan-Experte Martin Gerner sagt, der eigentliche Gegner des Westens sei die eigene Hybris: "Wir haben uns maßlos überschätzt." (s. Link oben)

Ob das nun Alice Schwarzer sagt oder Wladimir Putin oder ein renommierter Terrorismus-Experte wie Peter Neumann oder ein Journalist wie Martin Gerner - die Quintessenz ist: der Westen hat das Ziel erreicht, den islamistischen Terror in Afghanistan zu schwächen. Insofern kann man sagen: Mission erfüllt. Darüberhinaus ist es ja auch nicht ausgeschlossen, daß die Nato mit Luftschlägen auch künftig gegen Terroristen vorgeht; ähnlich machen es die Israelis gegenüber dem Iran. Es ist nicht auszuschließen, daß die Nato künftig einen ähnlichen Kurs fährt. Was hingegen nicht gelungen ist, nachhaltige staatliche Ordnungsstrukturen zu schaffen. Das Militär war nicht bereit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, freie Presse gegen die Taliban zu kämpfen.

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat sagte vor wenigen Tagen, man könne es den afghanischen Soldaten nicht übelnehmen, daß sie nicht ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn als erstes die afghanische Regierung von der Fahne geht. Viele Soldaten sind geflohen und viele sind zu den Taliban übergelaufen. Das muß man nicht moralisch tadeln; aber daraus darf man den Schluss ziehen, daß es offensichtlich nicht gelungen ist, die westlichen Werte in diesen Gruppen nachhaltig zu verankern. Wer jetzt in Afghanistan auf die Straßen geht, sind mutige Frauen. Denen bedeuten diese Werte etwas.

Diese beiden Dinge muß man auseinander halten, Bekämpfung des Terrors und die Illusion, Afghanistan von außen zu einem Rechtsstaat nach westlichen Vorstellungen zu machen. Diese Illusion ist jetzt geplatzt.

Wenn auch Die Linke jetzt sagt, wir waren von Anfang an dagegen, so mag das wohlfeil erscheinen, aber es enthebt ja dennoch nicht die jetzige und vor allem künftige Bundesregierung davon, ihre Außenpolitik in diesem Punkt neu auszurichten. Die öffentliche Diskussion in Deutschland dreht sich u.a. um diese Neuausrichtung. - Daß sich Alice Schwarzer mit einem Artikel in der Emma daran beteiligt, ist völlig legitim. In Deutschland dürfen Journalistinnen ihrer Arbeit nachgehen.

Ein Weiter-so in der Außenpolitik dürfe es nicht geben, läßt Armin Laschet heute verlauten.




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NaWennDuMeinst
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Sa 21. Aug 2021, 19:10

Nauplios hat geschrieben :
Sa 21. Aug 2021, 18:41
Diese beiden Dinge muß man auseinander halten, Bekämpfung des Terrors und die Illusion, Afghanistan von außen zu einem Rechtsstaat nach westlichen Vorstellungen zu machen. Diese Illusion ist jetzt geplatzt.

Wenn auch Die Linke jetzt sagt, wir waren von Anfang an dagegen, so mag das wohlfeil erscheinen, aber es enthebt ja dennoch nicht die jetzige und vor allem künftige Bundesregierung davon, ihre Außenpolitik in diesem Punkt neu auszurichten. Die öffentliche Diskussion in Deutschland dreht sich u.a. um diese Neuausrichtung. - Daß sich Alice Schwarzer mit einem Artikel in der Emma daran beteiligt, ist völlig legitim. In Deutschland dürfen Journalistinnen ihrer Arbeit nachgehen.

Ein Weiter-so in der Außenpolitik dürfe es nicht geben, läßt Armin Laschet heute verlauten.
Weisste, das ist alles Selbstbeschiss. Ich weiß nämlich jetzt schon was passieren wird. Wenn wir demnächst Einsätze fahren und dann das angegriffene Land sich selbst überlassen, weil wir ja gesehen haben wie das endet wenn wir uns anmaßen Ordnung schaffen zu wollen, dann werden genau die selben Leute, die sich jetzt aufspielen, sagen: "Aber man kann doch nicht einfach einreiten und sich dann verpissen".
Woher ich das weiß? Na, weil sie das vorher schon getan haben. Weil sie vorher genau das Gegenteil kritisiert haben: Der Sieger hinterlässt ein Chaos und damit künftigen Terror.
Es ist ja bei Weitem nicht so, dass die Idee, nach dem Krieg noch zu bleiben und aufzuräumen, einfach so vom Himmel gefallen ist.
Derjenige der was tut ist hier am Ende immer der Dumme, was letztlich dazu führen wird, das keiner mehr was tun will (Biden: "Andere Länder gehen uns nichts an").
Aber zu dieser Art Selbstkritik sind die Besserwisser nicht in der Lage. Inklusive Frau Schwarzer.



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Jörn Budesheim
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Sa 21. Aug 2021, 19:17

Es müsse damit aufgehört werden zu versuchen, "die Demokratie in anderen Ländern nach ausländischen Modellen aufzubauen", ohne dabei die historischen Besonderheiten und Traditionen zu beachten. "Ich denke, das ist die Lehre aus Afghanistan." (Putin)
20 Jahre - das ist fast eine Generation!

"... de facto wurde keine einzige demokratische Institution erfolgreich aufgebaut. Stattdessen bedienten sich jene Kriegsfürsten und kleptokratischen Eliten an westlichen Hilfsgelder, und sie tun es bis heute, wie afghanische Investigativjournalisten regelmäßig berichten." (Emran Feroz)

Daraus, dass es in diesem Fall nicht gelungen ist, eine Demokratie zu etablieren in 20 Jahren, folgt auf keinen Fall, dass es nicht möglich ist, das zu tun. Das ist einfach ein ganz krasser Fehlschluss.




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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 19:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Aug 2021, 19:17
20 Jahre - das ist fast eine Generation!

"... de facto wurde keine einzige demokratische Institution erfolgreich aufgebaut. Stattdessen bedienten sich jene Kriegsfürsten und kleptokratischen Eliten an westlichen Hilfsgelder, und sie tun es bis heute, wie afghanische Investigativjournalisten regelmäßig berichten." (Emran Feroz)

Daraus, dass es in diesem Fall nicht gelungen ist, eine Demokratie zu etablieren in 20 Jahren, folgt auf keinen Fall, dass es nicht möglich ist, das zu tun. Das ist einfach ein ganz krasser Fehlschluss.
Das ist eine rein logische Betrachtungsweise. In sich stimmig.




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Jörn Budesheim
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Sa 21. Aug 2021, 19:31

Es ist einfach eine absurde Schlussfolgerung aus diesem einem Fall zu schließen, dass es nicht geht. Nach dem, was ich bei Emran Feroz gelesen habe, hat man's nicht deshalb nicht geschafft, weil es nicht geht, sondern weil man sich blöd angestellt hat! Ich habe natürlich keine Ahnung, ob der Mann recht hat, aber diese Möglichkeit muss man doch in Betracht ziehen.




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NaWennDuMeinst
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Sa 21. Aug 2021, 19:34

Der Punkt ist doch, dass wir auch in Zukunft vor dem Problem stehen werden, dass Diktatoren und andere Verbrecher mit bewaffneten Kräften Gräueltaten begehen werden.
Und es wird sich auch in Zukunft die Frage stellen wie wir darauf reagieren sollen.
Da können wir dann einfach wegsehen oder wir greifen ein.
Einfach wegzusehen wird hier aber keiner ertragen. Und wenn wir eingreifen, wird sich automatisch die Frage stellen was nach dem Krieg geschehen soll.
Wenn - wie in Afghanistan - nach dem Sturz der Regierung ein Machtvakuum entsteht, dann ist das die Keimzelle für Leid in der Zivilbevölkerung und in der Folge entsteht Terror.
Genau das ist den Amerikanern ja immer vorgeworfen worden: "Ihr habt doch die Voraussetzungen selbst geschaffen für den Terror unter dem ihr jetzt (auch) leidet."
Diesmal hat man versucht diesen Fehler nicht noch einmal zu machen. Und das hat nun auch nicht funktioniert, die Bilanz ist ernüchternd.
Also, wie sollen solche Einsätze dann in Zukunft aussehen? Das würde ich von den Kritikern gerne wissen.



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NaWennDuMeinst
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Sa 21. Aug 2021, 19:37

Nauplios hat geschrieben :
Sa 21. Aug 2021, 19:22
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Aug 2021, 19:17
20 Jahre - das ist fast eine Generation!

"... de facto wurde keine einzige demokratische Institution erfolgreich aufgebaut. Stattdessen bedienten sich jene Kriegsfürsten und kleptokratischen Eliten an westlichen Hilfsgelder, und sie tun es bis heute, wie afghanische Investigativjournalisten regelmäßig berichten." (Emran Feroz)

Daraus, dass es in diesem Fall nicht gelungen ist, eine Demokratie zu etablieren in 20 Jahren, folgt auf keinen Fall, dass es nicht möglich ist, das zu tun. Das ist einfach ein ganz krasser Fehlschluss.
Das ist eine rein logische Betrachtungsweise. In sich stimmig.
Der Witz ist doch, dass die Kritiker genau umgekehrt argumentieren:
Weil es bei den Deutschen geklappt hat, heißt das nicht, dass es immer klappt.

Also, was haben wir dann? Die Gewissheit, dass wir keine Hellseher sind. Um das "Probieren" kommen wir nicht drum rum.
Am schlimmsten ist es aber, wenn man einfach vor lauter Ratlosigkeit erstarrt und gar nichts tut. Und genau deshalb halte ich die Kritik für kontraproduktiv.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Sa 21. Aug 2021, 20:03, insgesamt 1-mal geändert.



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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 19:40

Es gibt nur ein Beispiel, das belegt, daß westliche Werte von außen in ein Land eingepflanzt wurden. Das sind wir selbst (nach 1945). Darauf und darauf, daß es in 20 Jahren zwar nicht gelungen ist, eine Demokratie in Afghanistan zu etablieren und es dennoch logisch nicht auszuschließen ist, daß es beim nächsten Mal gelingt - auf dieser Grundlage wird keine Bundesregierung Außenpolitik betreiben (können). Der logische Scharfsinn, der auf eine solche Überlegung verwendet wird, hat gegenüber dem politischen Realismus, der sich jetzt allenthalben zu Wort meldet, wenig Aussichten auf Erfolg.

Hätte ich meinem ersten Impuls nachgegeben und geschrieben, er hat "keine Aussichten auf Erfolg", hätte man dagegen ein ähnliches logisches Bedenken anführen können. - Wenn nicht mehr bleibt als das Offenhalten rein logischer Möglichkeiten, dann ist das eine karge Ausbeute. Aber trösten kann man sich damit. Das mag wohl sein.




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Nauplios
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Sa 21. Aug 2021, 19:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Aug 2021, 19:31
Es ist einfach eine absurde Schlussfolgerung aus diesem einem Fall zu schließen, dass es nicht geht. Nach dem, was ich bei Emran Feroz gelesen habe, hat man's nicht deshalb nicht geschafft, weil es nicht geht, sondern weil man sich blöd angestellt hat! Ich habe natürlich keine Ahnung, ob der Mann recht hat, aber diese Möglichkeit muss man doch in Betracht ziehen.
Ja, ziehen wir sie in Betracht. -




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