Kulturelle Aneignung

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NaWennDuMeinst
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Sa 18. Sep 2021, 17:26

Nauplios hat geschrieben :
Sa 18. Sep 2021, 15:23
Das ist der Einstieg in den Ausstieg des Mali-Engagements der Bundeswehr. Und der Ton wird grundsätzlicher. Bei Baerbock geht es bereits um die Überprüfung "aller Auslandseinsätze". Eine "Neukalibrierung" künftiger Außenpolitik zeichnet sich ab am Horizont.
Fragt sich wie diese Neukalibrierung aussehen wird.
Kuschelkurs mit Massenmördern und Terroristen?
Ich wollte eigentlich grün wählen, aber gerade habe ich mich entschlossen meine Wahlentscheidung neu zu kalibrieren.



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Nauplios
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Sa 18. Sep 2021, 19:25

In der Debatte um die Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak und ihr Scheitern ist in den letzten Wochen gelegentlich vom "Ende des amerikanischen Jahrhunderts" die Rede gewesen. Die Blätter für deutsche und internationale Politik (herausgegeben u.a. von der hier schon erwähnten Katajun Amirpur, Seyla Benhabib, Jürgen Habermas, Claus Leggewie, Rudolf Hickel) bringen in ihrer aktuellen September-Ausgabe einen Artikel des Historikers Bernd Greiner, der die historischen Grundlinien beider Einsätze und ihres verheerenden Scheiterns nachzeichnet. - Ob man von einem "Ende des amerikanischen Jahrhunderts" sprechen kann, sei dahingestellt; aber ich denke, daß mit dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan eine Zäsur vorliegt. Die Führungsmacht des Westens wird ihre Strategie im Kampf gegen den Terror ändern.

"Nine-eleven", Afghanistan, Irak: Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts.




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NaWennDuMeinst
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Sa 18. Sep 2021, 20:23

Offenbar kann man aus den Ereignissen unterschiedliche Schlüsse ziehen.

Ralph Brinkhaus ist nicht der einzige Politiker in diesen Tagen, der sich fragt, wie die künftige Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich aussehen soll.

Mit den Grünen geht's wahrscheinlich ab in den Kuschelkurs:

Jürgen Trittin von den Grünen macht der Bundesregierung bei "Welt TV" schwere Vorwürfe: "Man hat die Taliban in eine Situation gebracht, wo sie uns jetzt erpressen können, Geiseln genommen haben." Damit diese Menschen freikommen, müsse man politische Schritte auf die Taliban zugehen.

Andere wollen sich unabhängig machen, und die Bundeswehr stärken:

Außenpolitik-Experte Johann Wadephul hat bereits eine Schlussfolgerung gezogen: "Wir müssen aus der amerikanischen Abhängigkeit herauskommen. Die ganze Situation ist dadurch gekommen, dass zwei amerikanische Präsidenten ein schnelles Ende angeordnet haben, und wir waren hilflos. Diese europäische Hilflosigkeit muss beendet werden." Es müsse eine Bereitschaft im europäischen Rahmen geben, "mehr zu machen" und auch eine entsprechende Ausstattung der Bundeswehr, so Wadephul.

Und die Wähler stellen jetzt die Weichen.

https://www.tagesschau.de/inland/deutsc ... k-101.html

Für mich ist Grün deshalb keine Option mehr.



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Nauplios
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Sa 18. Sep 2021, 22:06

"Der Chef der Unions-Bundestagsfraktion [Ralph Brinkhaus] sagte dem 'Spiegel', er habe manchmal das Gefühl, dass die Deutschen sich für alles Unrecht in der Welt zuständig hielten."

Das ist eine etwas seltsame Äußerung für jemanden, dessen Partei ja der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes im Deutschen Bundestag Jahr für Jahr zugestimmt hat und dessen Fraktion in den letzten 16 Jahren die größte war. Dennoch hat Ralph Brinkhaus hier einen Punkt. Über den Afghanistan-Einsatz gab es kaum eine größere Debatte in den letzten Jahren in Deutschland. Der Bundestag hat der Verlängerung meist nach kurzer Aussprache kurz vor Mitternacht zugestimmt. Für die Bevölkerung bedeutete er: wir bauen Brunnen und sorgen dafür, daß afghanische Mädchen in die Schule gehen können. Wir beseitigen Unrecht.

Die Amerikaner werden sich künftig mehr mit dem chinesischen Aufstieg zur Weltmacht beschäftigen. Und die Europäer werden ihre neue Rolle in den nächsten Jahren finden müssen. Auch hier gibt es große Unterschiede - etwa zwischen Frankreich und Deutschland.

Ich hätte es gut gefunden, Annalena Baerbock im Kanzleramt zu sehen. Zum Teil ist sie an ihren (durchaus verzeihlichen) Fehlern gescheitert, zum Teil an der für die Grünen typischen Moralisierung des Politischen. Die Chance war da. Und ich glaube auch, daß die Grünen der nächsten Bundesregierung angehören werden.

Man darf gespannt sein.




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Sa 18. Sep 2021, 23:27

Nauplios hat geschrieben :
Sa 18. Sep 2021, 22:06
und ich glaube auch, daß die Grünen der nächsten Bundesregierung angehören werden.
Ich denke auch. Und das ist auch gut so. Irgendjemand muss ja das Klimathema vorantreiben.



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Nauplios
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Di 21. Sep 2021, 04:20

Stefanie hat geschrieben :
Di 14. Sep 2021, 20:31
Gibt es eigentlich auch Islamwissenschaftlerinnen, die Mann genauso ernst nimmt, wie die hier zitierten Männer?
Aus dem erweiterten Zusammenhang dieser Frage (es geht dabei grundsätzlicher um die Rolle der Frau in der Geschichte des Islam) hier noch ein Fund aus dem DeutschlandRadio Kultur:

Weibliche Gelehrte im Islam - Unbekannte Hüterinnen der Tradition

"Mohammad Akram Nadwi trug die Biografien von mehr als 10.000 weiblichen Islamgelehrten in 43 Bänden zusammen."




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Di 21. Sep 2021, 18:48

Interressant wäre doch auch die Frage ob Frauen aktiv zum Beispiel die Sharia befürworten.
Wenn man hier in Europa diese Frage stellt ist die Antwort meist: Die gibt es, aber die sind Unterworfene (also Frauen die nur freiwillig tun, bzw sich nur einreden sie würden frei entscheiden). Das ist mir irgendwie zu billig.
Die Theorie, dass alle Frauen im Islam unterdrückt werden lässt sich dann ja gar nicht mehr falsifizieren. Sie ist dann eigentlich gar keine richtige Theorie.



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Nauplios
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Sa 9. Okt 2021, 14:24

Während der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr in der innenpolitischen Diskussion von den Sondierungsgesprächen und den möglichen Koalitionen schon wieder in die zweite Reihe der Berichterstattung gedrängt wird, hat sich in der Zeit dieser Woche der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (Die Deutschen und ihre Mythen) in grundsätzlicher Manier zur Frage künftiger deutscher und europäischer Außenpolitik geäußert.

Münkler beginnt seinen Artikel mit der Bestandsaufnahme: "Die Zeit des humanitären Interventionismus ist vorbei, kaum daß sie begonnen hatte. [...] Als responsibility to protect hatte sie für kurze Zeit von sich reden gemacht, weil durch sie das klassische Souveränitätsprinzip unter Verweis auf die Höherrangigkeit der Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden konnte. In ihr hatte das Projekt einer wertegebundenen Weltordnung seinen Höhepunkt erreicht. Deutlicher als in den Bildern der verzweifelten Menschen am Flughafen von Kabu, die ihrem Schicksal überlassen wurden, hätte dieses Projekt kaum enden können."

Man habe "normativ auf zu großem Fuß gelebt" stellt Münkler fest. Der Rückzug aus Afghanistan sei auch einer vom universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte, "zumindest von dem Anspruch, diesen Rechten, wo immer dies möglich war, zur Durchsetzung zu verhelfen".

Damit ist das Ende jedweden militärischen Eingreifens nicht gekommen. Jedoch wird sich dieses Eingreifen laut Münkler künftig an Interessen orientieren. Die Unterfütterung militärischer Interventionen mit humanitären Anspruchshaltungen wird eine künftige Außenpolitik zu überdenken haben. "Die militärischen Interventionen, die es auch in Zukunft geben wird, werden normativ anspruchsloser, in ihren Zielsetzungen bescheidener und zeitlich enger begrenzt sein."

In dem Zusammenhang spricht Münkler von "postheroischen Gesellschaften", die sich "mit der Zerschlagung des Gefährlichen [...] begnügen und die Verwirklichung des Besseren sich selbst überlassen".

Münkler plädiert aus dieser Situation heraus für einen "neuen Realismus":

"An die Stelle der Idee einer auf universellen Werten beruhenden globalen Ordnung tritt nämlich eine Vorstellung von Einflusszonen, von 'Großräumen' im Sinne Carl Schmitts, die ihre je eigenen Werte und Normen haben und darauf verzichten, diese für alle verbindlich machen zu wollen."

Die seit kurzem bestehende Militärallianz von USA, Großbritannien und Australien trägt diesem Gedanken der alten Schmitt'schen "Großräume" bereits Rechnung (Eindämmung des chinesischen Einflußes in Südostasien). In den vergangenen Tagen konnte man an dem unverhohlenen Ärger der Franzosen infolge ihrer Ausbootung beim U-Boot-Geschäft bereits beobachten, wie wenig die Europäer zur Zeit noch auf die bereits im Gange befindliche Umstellung der Außenpolitik ihrer amerikanischen Verbündeten vorbereitet sind.

Münkler schließt seinen Aufsatz mit: "Keine guten Aussichten für die Vorstellung globaler Rechte und Werte". - Dem von Münkler herbeizitierten "neue Realismus" liegt kein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber diesen Rechten und Werten zugrunde. Dieser politische Realismus läßt die Kategoriendifferenz des Politischen zum Moralischen hervortreten.




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Sa 9. Okt 2021, 15:56

Nauplios hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 14:24
Münkler schließt seinen Aufsatz mit: "Keine guten Aussichten für die Vorstellung globaler Rechte und Werte". - Dem von Münkler herbeizitierten "neue Realismus" liegt kein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber diesen Rechten und Werten zugrunde. Dieser politische Realismus läßt die Kategoriendifferenz des Politischen zum Moralischen hervortreten.
Aber das heißt doch im Prinzip: Wir denken so und handeln anders.



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Burkart
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Sa 9. Okt 2021, 15:56

Apropos Werte:
Wenn Polen nicht mal die europäischen Werte akzeptieren will - ok, die Machthaber, aber das ist ja überall so mehr oder weniger - ist es da ein Wunder, wenn es weiter weg noch weniger klappt?



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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NaWennDuMeinst
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Sa 9. Okt 2021, 16:03

Es heißt: Die Idee der Menschenrechte ist gescheitert. Sie lässt sich nicht umsetzen, sie scheitert am Widerstand ihrer Gegner
Es muss in Zukunft "Europäerrechte" oder "Amerikanerrechte" heißen.
Menschenrechte, die von ihrer Idee her für alle Menschen gelten (egal wo sie leben, weil der Aufenthaltsort keine Rolle für das Zugestehen dieser Rechte spielt) wird es nicht mehr geben.
Menschenrechtler (die Menschrechte genau so auffassen wie sie im Ursprung gemeint waren) liegen falsch. Genau das heißt es in letzter Konsequenz.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Sa 9. Okt 2021, 16:35, insgesamt 1-mal geändert.



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Burkart
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Sa 9. Okt 2021, 16:18

NaWennDuMeinst, das siehst du etwas zu pessimistisch.
Das Recht auf Leben wird einem z.B. wohl nirgends völlig abgesprochen werden o.ä.

Aber ja, lokale Rechte sollten schon nicht unterschätzt werden, ob nun für Europa, Amerika oder ggf. auch im Nahen Osten,
jedenfalls so lange es relativ unterschiedliche Systeme sind, die Verhältnisse unterschiedlich sind (z.B. wirtschaftliche) u.ä.
Man kann schlecht erwarten, dass Menschen(gruppen) freiwillig ihre Rechte einfach anderen überlassen, z.B. dass wir alles mit beliebig vielen Einwanderern teilen wollen.



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Jörn Budesheim
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Sa 9. Okt 2021, 17:23

In solchen Beiträgen wie dem von Münkler werden dementsprechend die fraglichen Rechte auch nie beim Namen genannt. Denn sonst müsste man sich ja das fragen, warum das Recht auf Bildung für junge Mädchen in Afghanistan nicht uneingeschränkt gelten soll, für junge Mädchen in Europa aber schon. Wie kommt das? Handelt es sich dabei um einen Geburtsfehler oder wie soll man das verstehen?




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NaWennDuMeinst
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Sa 9. Okt 2021, 18:54

Burkart hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 16:18
NaWennDuMeinst, das siehst du etwas zu pessimistisch.
Ich denke nicht, dass ich das zu pessimistisch sehe.
Das was Nauplios da oben beschreibt ist eine Kapitulation.
Der Anspruch, dass bestimmte Rechte für alle Menschen gelten sollen wird damit fallengelassen.
In Zukunft gelten diese Rechte nur noch für Menschen in bestimmten "Räumen". Dann sollten sie aber auch nicht mehr Menschenrechte heißen.



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Nauplios
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 15:56

Aber das heißt doch im Prinzip: Wir denken so und handeln anders.
Wenn der Politikwissenschaftler Münkler vom "neuen [klein geschrieben] Realismus" spricht, ist nicht der "Neue [groß geschrieben] Realismus" gemeint, der in der Philosophie von sich reden macht. (Da auch Münkler Philosophie studiert hat, darf man ihm zutrauen, daß er mit dem philosophischen Diskurs der Gegenwart und auch mit dem "Neuen Realismus" vertraut ist; dennoch gibt es in dem Artikel keine Anhaltspunkte dafür, daß der "neue Realismus" eine Anspielung auf den "Neuen Realismus" ist.)

Ich denke, daß Münklers "neuer Realismus" die Antwort auf den Höhenflug eines politischen Idealismus ist. "Der Rückzug aus Afghanistan war auch einer vom universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte, zumindest von dem Anspruch, diesen Rechten, wo immer dies möglich war, zur Durchsetzung zu verhelfen." - Etwas später schreibt er: "Man kann das als neuen Realismus beschreiben, der nach drei Jahrzehnten des euphorischen Idealismus in die Politik zurückgekehrt sei: die Ziele müßten sich nach den vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten richten."

Das ist ja zunächst mal eine Beschreibung dessen, was sich im politischen Raum seit dem Afghanistan-Desaster als neue Perspektive auftut. Man hat sich normativ übernommen. Man hat sich aber auch im Hinblick auf Ressourcen übernommen, militärische und finanzielle. "Afghanistan war, ähnlich wie der regime change im Irak, ein Projekt, das auf seine Umgebung ausstrahlen und auf eine Verbindung von leidlicher Prosperität, einer begrenzt bürgerpartizipativen Ordnung und einer gewissen gesellschaftlichen Liberalität hinauslaufen sollte. Das war sicherlich keine Reduplikation des Westens, aber so etwas wie 'Westen light' für Gesellschaften im Übergang. Beides ist gescheitert, nicht nur am dortigen Widerstand, sondern auch am westlichen Ungeschick. Einen zweiten Versuch wird es nicht geben."

"Wir denken so und handeln anders." - An dieser Zuspitzung ist was dran. Politik ist nicht Philosophie.

Militärische Interventionen werden künftig anders aussehen. "Denn solche Interventionen werden nicht nur zeitlich kürzer und mit begrenzteren Zielen angelegt sein, sondern sich auch nicht mehr in der Perspektive einer globalen Ordnung und einem Horizont der Menschenrechte bewegen."

Weil dieser "Horizont der Menschenrechte" nicht mehr das Mitspracherecht bei künftigen militärischen Interventionen haben wird, das er - insbesondere in Europa und ganz besonders in Deutschland - bislang hatte ("drei Jahrzehnte euphorischer Idealismus"), kann Münkler zu einem bemerkenswerten Resümee ansetzen:

"Es werden Interventionen zur Begrenzung beziehungsweise Verhinderung von Migrationsbewegungen sein, bei denen es vor allem um die Zerschlagung von die Region destabilisierenden Terrorgruppen und die Einsetzung politisch genehmer Regime geht. Darin werden sich die Europäer nicht sonderlich von den USA und wird sich 'der Westen' nicht grundlegend von Russland und China unterscheiden."

Das ist eine gewagte These. Indem der "Horizont der Menschenrechte" bei künftigen militärischen Interventionen in den Hintergrund tritt, wird aus "dem Westen" (Europa inklusive) ein Großraum, der sich von anderen "Großräumen" (Carl Schmitt) wie Russland oder China "nicht grundlegend unterscheidet". Im "Wettbewerb der Modelle" (Münkler) ist davon auszugehen, "daß sich auch hier auf die Dauer das effizienteste durchsetzen wird". Dann folgt der Schlußsatz: "Keine guten Aussichten für die Vorstellung globaler Rechte und Werte."




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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 18:54
Burkart hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 16:18
NaWennDuMeinst, das siehst du etwas zu pessimistisch.
Ich denke nicht, dass ich das zu pessimistisch sehe.
Das was Nauplios da oben beschreibt ist eine Kapitulation.
Der Anspruch, dass bestimmte Rechte für alle Menschen gelten sollen wird damit fallengelassen.
In Zukunft gelten diese Rechte nur noch für Menschen in bestimmten "Räumen". Dann sollten sie aber auch nicht mehr Menschenrechte heißen.
Nicht der Anspruch der Menschenrechte wird fallengelassen. Der Anspruch einer idealistisch inspirierten Politik, diese Menschenrechte im Windschatten militärischer Interventionen in Ländern wie Afghanistan durchzusetzen wird fallengelassen. Der Westen - insbesondere die Europäer - fühlte sich nach 1989 berufen zum "Demokratieexport". Münklers neuer Realismus wertet ja Demokratie und Menschenrechte nicht ab, versteht sie aber als Embleme eines "Modells", das im Wettbewerb mit anderen "Modellen" steht.




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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 18:54

Das was Nauplios da oben beschreibt ist eine Kapitulation.
Kapituliert hat der Westen in Afghanistan in Form seines Hals-über-Kopf-Abzugs. "Dem militärischen und politischen Rückzug folgt ein normativer Rückzug." (Münkler) - Insofern ist also auch an Deiner Kapitulations-These durchaus etwas dran.

Ein Sieg des Westens in Afghanistan hätte ja zu all diesen Überlegungen eines "neuen Realismus" gar nicht erst geführt. Sagen wir nicht Sieg, sagen wir besser - Erfolg. (Wie bedeutend die politische Rhetorik bei der Zustimmung der Bevölkerung zum Afghanistan-Einsatz war, läßt sich daran ermessen, daß man lange Zeit nicht von "Krieg" sprechen wollte; ähnlich löst das Wort "Sieg" Unbehagen aus.) Natürlich, keine Regierung der Welt möchte von Niederlagen, Kapitulationen, Scheitern u.ä. sprechen; nur ist die politische Debatte darüber längst weitergegangen.




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Sa 9. Okt 2021, 20:26

Burkart hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 16:18
NaWennDuMeinst, das siehst du etwas zu pessimistisch.
Das Recht auf Leben wird einem z.B. wohl nirgends völlig abgesprochen werden o.ä.

Aber ja, lokale Rechte sollten schon nicht unterschätzt werden, ob nun für Europa, Amerika oder ggf. auch im Nahen Osten,
jedenfalls so lange es relativ unterschiedliche Systeme sind, die Verhältnisse unterschiedlich sind (z.B. wirtschaftliche) u.ä.
Man kann schlecht erwarten, dass Menschen(gruppen) freiwillig ihre Rechte einfach anderen überlassen, z.B. dass wir alles mit beliebig vielen Einwanderern teilen wollen.
Vor zwei Tagen hat Georg Restle den Umgang mit Migranten an der EU-Außengrenze so kommentiert:


"Das Hohe Lied von den Menschenrechten und den europäischen Werten: ich kann es nicht mehr hören! Europa lässt politisch Verfolgte in Afghanistan im Stich. Lässt Menschen im Mittelmeer ertrinken und Flüchtende in Griechenland vor sich hin vegetieren – und prügelt sie in Kroatien und anderswo mit Schlagstöcken aus der EU." (Quelle)

Von dieser Seite stellt sich ohnehin die Frage nach der Legitimität eines moralischen Anspruchs, den die EU gerne erhebt, die sich als Wertegemeinschaft versteht.




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AndreaH
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Sa 9. Okt 2021, 20:27

Die Menschen in Afghanistan haben nicht nur die Kriegsjahre der Amerikaner hinter sich, auch Russland kämpfte Jahre zuvor dort erfolglos. Hoffen wir das die Menschen dort nach den Jahrzehnten des Krieges zur Ruhe kommen. Für die Frauen in Afghanistan sind die Taliban ein großer Rückschritt. Man sollte aber auch den Stellenwert der Frauen weltweit betrachten und nicht nur auf die Taliban reduzieren. Schaut man beispielsweise in die arabischen Emirate, Indien findet man dort ähnliche Bilder.
Aus dem Grund bin ich mir nicht einmal so sicher, ob es vom Westen her nur um Menschenrechte geht und ging. Mali und Afghanistan haben eines gemeinsam, sie sind reich an Bodenschätzen. Afghanistan hat auch noch seltene davon. Daher wird es nicht lange dauern, dass von Seiten des Westens wieder eine Gesprächesebene gesucht wird.
Die Taliban haben derzeit Probleme mit
Terroranschläge von Seiten der IS (dies nur so nebenbei) .




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NaWennDuMeinst
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Sa 9. Okt 2021, 21:18

Als Menschenrechte werden moralisch begründete, individuelle Freiheits- und Autonomierechte bezeichnet, die jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins gleichermaßen zustehen.[1] Sie sind universell (gelten überall für alle Menschen), unveräußerlich (können nicht abgetreten werden) und unteilbar (können nur in ihrer Gesamtheit verwirklicht werden)

Das was Du, Nauplios hier beschreibst ist nichts anderes als die Aufgabe des wichtigsten Teils der Menschrechte. Ihre Universalität.
Es ist für mich völllig absurd von Menschenrechten zu reden ohne ihre universelle Gültigkeit.
Für mich heißt dieser neues Realismus nichts anderes als die praktische Aufgabe dieser Rechte. Sie sind per se. Geschichte. Es gibt sie nicht mehr.
Wenn man ihre universelle Gültigkeit leugnet, leugnet man sie komplett.
Und ich sehe auch nicht, wie sie dann noch begründet werden könnten, auch hier bei uns.



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