NaWennDuMeinst hat geschrieben : ↑ Sa 9. Okt 2021, 15:56
Aber das heißt doch im Prinzip: Wir denken so und handeln anders.
Wenn der Politikwissenschaftler Münkler vom "neuen [klein geschrieben] Realismus" spricht, ist nicht der "Neue [groß geschrieben] Realismus" gemeint, der in der Philosophie von sich reden macht. (Da auch Münkler Philosophie studiert hat, darf man ihm zutrauen, daß er mit dem philosophischen Diskurs der Gegenwart und auch mit dem "Neuen Realismus" vertraut ist; dennoch gibt es in dem Artikel keine Anhaltspunkte dafür, daß der "neue Realismus" eine Anspielung auf den "Neuen Realismus" ist.)
Ich denke, daß Münklers "neuer Realismus" die Antwort auf den Höhenflug eines politischen Idealismus ist. "Der Rückzug aus Afghanistan war auch einer vom universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte, zumindest von dem Anspruch, diesen Rechten, wo immer dies möglich war, zur Durchsetzung zu verhelfen." - Etwas später schreibt er: "Man kann das als neuen Realismus beschreiben, der nach drei Jahrzehnten des euphorischen Idealismus in die Politik zurückgekehrt sei: die Ziele müßten sich nach den vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten richten."
Das ist ja zunächst mal eine Beschreibung dessen, was sich im politischen Raum seit dem Afghanistan-Desaster als neue Perspektive auftut. Man hat sich normativ übernommen. Man hat sich aber auch im Hinblick auf Ressourcen übernommen, militärische und finanzielle. "Afghanistan war, ähnlich wie der
regime change im Irak, ein Projekt, das auf seine Umgebung ausstrahlen und auf eine Verbindung von leidlicher Prosperität, einer begrenzt bürgerpartizipativen Ordnung und einer gewissen gesellschaftlichen Liberalität hinauslaufen sollte. Das war sicherlich keine Reduplikation des Westens, aber so etwas wie 'Westen light' für Gesellschaften im Übergang. Beides ist gescheitert, nicht nur am dortigen Widerstand, sondern auch am westlichen Ungeschick. Einen zweiten Versuch wird es nicht geben."
"Wir denken so und handeln anders." - An dieser Zuspitzung ist was dran. Politik ist nicht Philosophie.
Militärische Interventionen werden künftig anders aussehen. "Denn solche Interventionen werden nicht nur zeitlich kürzer und mit begrenzteren Zielen angelegt sein, sondern sich auch nicht mehr in der Perspektive einer globalen Ordnung und einem Horizont der Menschenrechte bewegen."
Weil dieser "Horizont der Menschenrechte" nicht mehr das Mitspracherecht bei künftigen militärischen Interventionen haben wird, das er - insbesondere in Europa und ganz besonders in Deutschland - bislang hatte ("drei Jahrzehnte euphorischer Idealismus"), kann Münkler zu einem bemerkenswerten Resümee ansetzen:
"Es werden Interventionen zur Begrenzung beziehungsweise Verhinderung von Migrationsbewegungen sein, bei denen es vor allem um die Zerschlagung von die Region destabilisierenden Terrorgruppen und die Einsetzung politisch genehmer Regime geht. Darin werden sich die Europäer nicht sonderlich von den USA und wird sich 'der Westen' nicht grundlegend von Russland und China unterscheiden."
Das ist eine gewagte These. Indem der "Horizont der Menschenrechte" bei künftigen militärischen Interventionen in den Hintergrund tritt, wird aus "dem Westen" (Europa inklusive) ein Großraum, der sich von anderen "Großräumen" (Carl Schmitt) wie Russland oder China "nicht grundlegend unterscheidet". Im "Wettbewerb der Modelle" (Münkler) ist davon auszugehen, "daß sich auch hier auf die Dauer das effizienteste durchsetzen wird". Dann folgt der Schlußsatz: "Keine guten Aussichten für die Vorstellung globaler Rechte und Werte."