Kulturelle Aneignung

Nauplios
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So 10. Okt 2021, 14:55

Wie bei jedem Realismus geht es auch bei Münklers "neuem Realismus" um die Realität - in diesem Fall nicht um einen erkenntnistheoretischen Realismus, sondern um einen ernüchterungstheoretischen. Der Westen hat in Afghanistan das Ziel erreicht, daß das Land nicht länger Rückzugsort und Ausbildungsregion für internationalen Terror ist. Das Kriegsziel war ja nicht, Schulen für Mädchen zu errichten und Brunnen zu bauen. Die Hauptaufgaben der Bundeswehr waren "Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte, Lufttransport und Sicherung und Schutz diplomatischer und konsularischer Vertretungen in besonderen Not- und Gefährdungslagen". Die Bundeswehr war außerdem beteiligt am Bau von Schulen und Krankenstationen; man hat Brücken gebaut und Brunnen angelegt. -

Je länger der Einsatz dauerte, desto mehr haben die politischen Akteure, den humanitären Aspekt der Mission betont. Man hat den Einsatz Jahr für Jahr verlängert, obwohl die ursprünglichen, militärischen Ziele längst erreicht waren. Man wollte nation-building und Demokratieexport. Um das dauerhaft zu erreichen, hätte man weiterhin im Land bleiben müssen. Das ging nicht, weil die führende Streitmacht aus dem Land abzog. Es war für die Amerikaner "an der Zeit". Und damit mußten auch alle anderen Nationen sich aus Afghanistan zurückziehen. Ohne die Amerikaner waren sie nicht mal in der Lage, den Flughafen von Kabul zu sichern. - Nun herrschen dort wieder die Taliban, die man zu Beginn des Krieges in die Berge vertrieben hatte.

Afghanistan ist kein Einzelfall. Im Irak und in Libyen war es ähnlich. In Deutschland hat man sich der Illusion hingegeben, daß eine militärische Intervention in Ländern wie Afghanistan automatisch mit der Installation von Demokratie und Menschenrechten einhergeht. In Wirklichkeit (hier kommt die Realität ins Spiel) hat man sich mit korrupten Warlords und Drogenbaronen eingelassen, die nach dem Abzug der ausländischen Truppen mit Koffern voller Geld, mit dem sie vom Westen vorher unterstützt worden waren, aus dem Staub gemacht haben.

Aus den Illusionen, gespeist von moralischer Hybris, erwacht man und stellt - ziemlich einhellig - fest: so kann's nicht weitergehen. Jetzt soll zunächst mal alles "evaluiert" werden. Die Ziele sollen kleiner werden. Vom "normativen Rückzug" schreibt Münkler. - Das ist nicht das Ende jedweden militärischen Eingreifens. Und es ist auch nicht das Ende jedweder humanitärer Hilfsaktionen. - Man wird sich neu aufstellen müssen. Man wird mit dem russischen und vor allem chinesischen "Modell" konkurrieren gegenüber Gesellschaften im Übergang. Es wird um Einfluß gehen. Der Westen kann dabei selbstverständlich seine Vorstellung von Demokratie und Menschenrechten mit einbringen. Natürlich wird er an der Universalität der Menschenrechte festhalten. Aber er wird sich von der Vorstellung verabschieden müssen, daß er dafür verantwortlich ist, sie überallhin zu exportieren. Demokratie kann man nicht exportieren. Deswegen muß man seine Werte nicht grundsätzlich verleugnen. Man muß eines werden: realistisch.




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NaWennDuMeinst
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So 10. Okt 2021, 23:10

Burkart hat geschrieben :
So 10. Okt 2021, 14:29
AndreaH hat geschrieben :
So 10. Okt 2021, 00:38
Burkart hat geschrieben :
Sa 9. Okt 2021, 22:38
Was genau erwartet ihr von allgemeinen (als weltweiten!?) Menschenrechten?
Und dann frage ich euch: Wie soll man sie durchsetzen können?
(Detailprobleme sind zwar nett zum Erkennen von punktuellen Problemen, aber führen (alleine) zu keiner Lösung.)
Als wir damals hier im Forum das Thema Vertrauen besprochen haben, bin ich auf ein interessantes Video gestoßen. Ab Minute 43 geht es da um Rechte und unter anderem auch Menschenrechte.
Baroness Onora O'NEILL spricht an der Stelle einen sehr entscheidenden Punkt an. Das wenn es um Rechte geht eigentlich auch Pflichten dazugehören.

https://youtu.be/Cn-13hJanNE
Klar, Rechte und Pflichten gehören eng zusammen. Es ist doch kein Wunder, wenn Rechte nicht zugestanden werden, weil es bei Anderen dadurch zu Pflichten (bzw. Einschränkung eigener Rechte) kommt.
Welche Rechte fallen dir denn ein, die eine Einschränkung der Menschenrechte rechtfertigen könnten?
Weil die rechte Tante nicht gerne Ausländer aus anderen Kulturen in ihrer Nachbarschaft sieht und sich dabei in ihrem Recht gestört fühlt lassen wir Menschen im Mittelmeer ertrinken oder in Krisengebieten zu Tode kommen?
Also ich würde sagen in dem Fall spielen die Rechte von Tante Adolf keine Rolle, bzw sind nachrangig.



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Stefanie
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Mo 11. Okt 2021, 19:11

Einige Einschränkungen bzw. Pflichten stehen sogar im Grundgesetz

Art. 14 Abs. 2
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Oder das Freiheitsgrundrecht.
Art. 2 GG
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Meine Menschenrechte erlauben es mir nicht, die Menschenrechte anderer zu ignorieren oder gar die Ausübung zu verhindern. Das hat der Staat sicher zu stellen, dass das nicht passiert.
Und genau das tun die Taliban nicht.



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Stefanie
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Mo 22. Aug 2022, 20:24

Zugegeben ein sehr langer Artikel, aber es geht hier um einige Themen, über die sich einige gerade aufregen....

https://www.augsburger-allgemeine.de/ku ... 77136.html



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Lucian Wing
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Di 23. Aug 2022, 09:43

Stefanie hat geschrieben :
Mo 22. Aug 2022, 20:24
Zugegeben ein sehr langer Artikel, aber es geht hier um einige Themen, über die sich einige gerade aufregen....

https://www.augsburger-allgemeine.de/ku ... 77136.html
Man hat die Wahl: Entweder Werbefilm ansehen oder seinen Ad-Blocker zu deaktivieren. :|

Ich nehme an, es geht um solche Geschichten wie die der Schweizer Musiker, die nicht auftreten dürfen, weil sie Dreadlocks haben.



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Stefanie
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Di 23. Aug 2022, 10:33

Es geht u.a. auch darum. Das Stichwort ist Wokeness und ich finde den Artikel durchaus ausgewogen. Der Autor schreibt von Fluch und Segen.



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Lucian Wing
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Di 23. Aug 2022, 13:31

Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 10:33
Es geht u.a. auch darum. Das Stichwort ist Wokeness und ich finde den Artikel durchaus ausgewogen. Der Autor schreibt von Fluch und Segen.
Es ist für mich die Rücknahme all dessen, was an Positivem mit der Austreibung des Miefs ab den Siebzigern in Deutschland erreicht wurde. Und der Tod der Phantasie.
Gerade kam mir folgender Bericht unter:

de/kultur/kino/ravensburger-zieht-kinderbuch-zurueck-und-erntet-dafuer-kritik-a-d301a47a-ffb7-4235-a39b-2bf3699d824d

Das ist Entmündigung. Spätestens als ich elf oder zwölf war, wusste ich, dass Karl Mays Indianergeschichten mit der Wirklichkeit des Lebens nichts zu tun hatte (Friedrich Gerstäcker, von dem er lustigerweise ganze Passagen praktisch abgeschrieben hat, war da realistischer). May war so "blöd", dachte ich damals, dass er die einzelnen Stämme nicht einmal in die richtige Gegend verteilen kann. Nichts stimmte. Notfalls hätte man die Fotos von Geronimo und von Pierre Brice, als durchaus adäquatem Abbild May'scher Phantsien, nebeneinander halten können, um zu sehen, dass May ein Phantast war.

Es war aber der Phantast May, der ursächlich dafür war, dass ich weitergelesen habe und heute nicht nur etliche der überdimensionierten, tonnenschweren wissenschaftlichen Bände des "Handbook of North American Indians" in meiner Bibliothek stehen habe, sondern auch sonst etliche Biographien über Tecumseh oder Chief Joseph oder Gruppen wie die Pawnees oder die Irokesen usw.

Und nun glaubt ein Verlag, Kinderbücher müssten Wahrheit enthalten, klischeefrei sein, um diejenigen, um die es geht, nicht zu beleidigen. Da kann ich nur sagen: Da denkt der Bewohner eines Bergtals über sein Tal hinaus, und schwupp! beleidigt er mit seiner Phantasieleistung die Bewohner des nächsten Tals. Das ist der Tod aller Phantasie, aller dichterischen Freiheit. Davon können sich die Indigenen nullkommanix kaufen. Jens Jessen von der Zeit, bekennender Marxist, hat neulich einer jener polit-aktivistischen Moderatorinnen aus DR-Kultur erklärt, das alles diene nur einem Zweck: der Selbstbestätigung, zu den Guten zu gehören. Es käme aber darauf an, etwas an den materiellen Grundlagen zu ändern. Wer glaube, so Jessen, er erreiche das mit korrektem Sprechen, täusche sich. Und das sehe ich auch. Es ist eine Mischung aus Romantik und Jakobinertum zur eigenen Selbstbestätigung. Mit der Identitätspolitik kehrt der ausgetriebene Mief langsam aber sicher wieder zurück. Das, was bunt war, wird wieder grau oder sepiafarben.



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Stefanie
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Di 23. Aug 2022, 19:48

Den Artikel wurde schon gelesen, oder?



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Jörn Budesheim
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Di 23. Aug 2022, 19:56

Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 19:48
Den Artikel wurde schon gelesen, oder?
Ich habe ungefähr dreiviertel gelesen, aber richtig glücklich hat mich der Artikel nicht gemacht :) es fehlte mir irgendwie an überzeugenden, überraschenden Argumenten.




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NaWennDuMeinst
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Di 23. Aug 2022, 19:56

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 13:31
Jens Jessen von der Zeit, bekennender Marxist, hat neulich einer jener polit-aktivistischen Moderatorinnen aus DR-Kultur erklärt, das alles diene nur einem Zweck: der Selbstbestätigung, zu den Guten zu gehören. Es käme aber darauf an, etwas an den materiellen Grundlagen zu ändern. Wer glaube, so Jessen, er erreiche das mit korrektem Sprechen, täusche sich.
Er hat's verstanden, der Jens.



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Stefanie
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Di 23. Aug 2022, 19:59

Jörn, Du warst nicht gemeint : - )



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Lucian Wing
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Di 23. Aug 2022, 20:08

Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 19:48
Den Artikel wurde schon gelesen, oder?
Schon.
Aber er bleibt halt im gutbürgerlichen Moralumfeld.



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Stefanie
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Di 23. Aug 2022, 20:13

Ich möchte das Thema wokness nicht nur am Beispiel Karl May festmachen, trotzdem hier noch ein Artikel dazu.
https://www.rnd.de/kultur/winnetou-im-k ... urce=upday
Ich selber kenne fast alle Winnetou Filme. Als Kinder hatten meine Schwester und ich Schallplatten, eine absolute Lieblingsplatte war der "Schatz im Silbersee"", mit den Stimmen aus dem Film. An Karl May als Buch hatte ich mich auch versucht ... himmel war das langweilig.

Ein Absatz aus dem Artikel in der Augsburger Allgemeinen, so als Anfang:

Der Kontrast zwischen rechts und woke und den jeweiligen Reaktionen darauf zeigt zudem: Klassisch war die sogenannte Identitätspolitik das Anliegen, für strukturell benachteiligte Gruppen, wesentlich auch Minderheiten, die Gleichberechtigung in der Gesellschaft zu erwirken; bei den Rechten wurde Identitätspolitik zu einem nationalistischen Anliegen im Namen einer vermeintlichen Mehrheit, die fürchtet unter die Räder zu kommen; bei den Woken nun ist die klassische Identitätspolitik zurück, allerdings in neuer Rigorosität: Denn statt der Gleichstellung mit den strukturell Bevorzugten (Einheimischen, Männern, Weißen …) geht es hier eigentlich um die Abschaffung des Maßstabs. Ganz anders steht also so etwas wie Mehrheit damit in Zweifel. Weil die Wokeness im viel Grundsätzlicheren infrage stellt: Was ist Normalität?



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Lucian Wing
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Di 23. Aug 2022, 21:15

Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 20:13
Ich möchte das Thema wokness nicht nur am Beispiel Karl May festmachen, trotzdem hier noch ein Artikel dazu.
https://www.rnd.de/kultur/winnetou-im-k ... urce=upday
Ich selber kenne fast alle Winnetou Filme. Als Kinder hatten meine Schwester und ich Schallplatten, eine absolute Lieblingsplatte war der "Schatz im Silbersee"", mit den Stimmen aus dem Film. An Karl May als Buch hatte ich mich auch versucht ... himmel war das langweilig.
Ich will von meiner Seite die Diskussion gar nicht groß vertiefen, sondern nur noch zwei abschließende Bemerkungen dazu machen.

1. Der im Artikel genannte Tyron White hatte heute auch einen Auftritt in der Tagesschau. Er würde diskriminiert, nicht anerkannt, weil er nicht aussehe wie Pierre Brice.

2. Dieser Absatz hat's mir angetan:
Doch was, wenn die ganze Erzählung von rassistischen Stereotypen geprägt ist, wie im Falle von Karl May? So manch ein Anbieter hat sich für kommentierte Versionen entschieden. So erschien unter großer medialen Beachtung eine kommentierte Ausgabe von Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“, das Passagen einordnet und Rassismen, Hass und Antisemitismus benennt.
Karl May und Adolf Hitler. Klasse.

Hermann Hesse hat mal in einem Brief oder Essay, ich müsste nachschauen, darüber sinniert, wie das wohl gewesen wäre, wenn der fast pazifistisch gestimmte Karl May bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch gelebt hätte. Heute, so scheint es, sortiert man ihn also bei Adolf Hitler ein. Ich frage mich, was solche Artikelschreiber von Literatur verstehen und in Geschichte gelernt haben.

Was das Thema der Wokeness angeht, so wird man von mir altem weißen Mann keine Sympathien erwarten dürfen. Denn unterm identitätspolitischen Vorzeichen besteht ja zwischen mir und einem der in den historischen Aufnahmen gestern zu bewundernden Klatscher seinerzeit in Rostock-Lichtenhagen heute kein Unterschied mehr. Daher halte ich es bei der Wokeness mit einer meiner absoluten literarischen Lieblingsfiguren: I would prefer not to. Und Bartleby war ja Systemverweigerer.



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Stefanie
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Di 23. Aug 2022, 22:05

Mir geht es um dieses Wokeness, und wie damit umgehen.

Meine Erfahrungen als mittelalte, weiße Frau dürften etwas anders ausfallen als Deine.

Nehmen wir mal das Forum. Das Verhältnis hier im Forum von schreibenden Männern und schreibenden Frauen ist sehr einseitig, klarer Männerüberschuss. Das war im alten Forum auch so. Warum?


.



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Di 23. Aug 2022, 22:19

Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 22:05
Nehmen wir mal das Forum. Das Verhältnis hier im Forum von schreibenden Männern und schreibenden Frauen ist sehr einseitig, klarer Männerüberschuss. Das war im alten Forum auch so. Warum?
Na, weil wir weißen, alten Männer sie hier nicht haben wollen. Ist doch klar.
:roll:
(woher soll ich wissen warum sich so wenig Frauen in Philosophieforen runtreiben? Wahrscheinlich haben sie einfach Wichtigeres zu tun.)



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Lucian Wing
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Di 23. Aug 2022, 22:32

Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 22:05
Mir geht es um dieses Wokeness, und wie damit umgehen.

Meine Erfahrungen als mittelalte, weiße Frau dürften etwas anders ausfallen als Deine.

Nehmen wir mal das Forum. Das Verhältnis hier im Forum von schreibenden Männern und schreibenden Frauen ist sehr einseitig, klarer Männerüberschuss. Das war im alten Forum auch so. Warum?
Wenn meine Theorie stimmt, dass Schreiben in Internetforen nur solchen Menschen gegeben ist, also Spaß macht, die ein gewisses narzisstisches Übergepäck haben, dann beantwortet das die Frage zu großen Teilen. Denn der Anteil unter Männern ist da auf jeden Fall höher. Ohne dieses Übergepäck hat man keine Chance, unabhängig vom Geschlecht.

(Noch ein Nachtrag zu Karl May: Ich wäre nie Winnetou oder Old Shatterhand gewesen beim Spielen, obwohl ich die erste Wahl hatte. Mich hat das christlich-missionarische Gelaber abgestoßen, und dass Winnetou sich hat bekehren lassen, hat ihn mir total verhasst gemacht. Das war Verrat an seiner Kultur.)

Wie gesagt, bei Wokeness fallen mir keine guten politischen Vokabeln ein. Ich würde freiheits- und individualitätstheoretisch Wokenesstümelei und Nationaltümelei über einen Kamm scheren. Eben jenes: I would prefer not to. Wer frei sein möchte, sollte seinen Hintern bewegen oder aber die materiellen Verhältnisse aufs Korn nehmen. Wokenessforderungen halte ich für eine Art Aneignungsversuch fremder Identitäten zur Stützung seines eigenen Egos. Bei den Tanten und Großtanten und -onkeln nannte man das seinerzeit Bigotterie. Ein moderner Begriff fehlt noch.

Ich bin da unmusikalisch wie im Religiösen.



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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 20:13
Ich möchte das Thema wokness nicht nur am Beispiel Karl May festmachen, trotzdem hier noch ein Artikel dazu.
https://www.rnd.de/kultur/winnetou-im-k ... urce=upday
Den Artikel finde ich gut. " ... in den USA verfolgte man bis in die 1960er-Jahre eine Ethnozid-Politik – die kulturellen Eigenschaften aller indigenen Ethnien sollten ausgelöscht werden. Bis 1968 waren ihre religiösen Zeremonien verboten, Kinder wurden ihren Familien entrissen und auf westliche Internate geschickt ..." Während ich mit den Kindern im Viertel "Cowboy und Indianer" gespielt habe, sah die Wirklichkeit ganz anders aus.

Gut finde ich, wie die Verlage und Fernsehanstalten dem Text gemäß zum Teil vorgehen: sie entscheiden von Fall zu Fall und haben verschiedene Werkzeuge dafür. Das finde ich gut.




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Lucian Wing
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 24. Aug 2022, 08:32
Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 20:13
Ich möchte das Thema wokness nicht nur am Beispiel Karl May festmachen, trotzdem hier noch ein Artikel dazu.
https://www.rnd.de/kultur/winnetou-im-k ... urce=upday
Den Artikel finde ich gut. " ... in den USA verfolgte man bis in die 1960er-Jahre eine Ethnozid-Politik – die kulturellen Eigenschaften aller indigenen Ethnien sollten ausgelöscht werden. Bis 1968 waren ihre religiösen Zeremonien verboten, Kinder wurden ihren Familien entrissen und auf westliche Internate geschickt ..." Während ich mit den Kindern im Viertel "Cowboy und Indianer" gespielt habe, sah die Wirklichkeit ganz anders aus.

Gut finde ich, wie die Verlage und Fernsehanstalten dem Text gemäß zum Teil vorgehen: sie entscheiden von Fall zu Fall und haben verschiedene Werkzeuge dafür. Das finde ich gut.
Das vermischt zwei Dinge, nämlich die materielle Wirklichkeit der Indigenen in den USA und den institutionellen Kulturvernichtungsfeldzug gegen sie einerseits und unsere sprachlichen Maßnahmen zur Bedienung des eigenen Gefühls, die nichts ander Wirklichkeit der Indigenen in den USA ändern, andererseits. Die Verlagspolitik von Ravensburger bedient lediglich die Interessen einer aggressiven Lobby. Sie ändert nichts an der Lebenssituation dejenigen, die zu verbessern man sich einbildet. Es dient nur lediglich der Bestätigung der eigenen guten Moral. Man könnte es auch Instrumentalisierung von Minderheiten nennen.



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Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 24. Aug 2022, 08:54
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 24. Aug 2022, 08:32
Stefanie hat geschrieben :
Di 23. Aug 2022, 20:13
Ich möchte das Thema wokness nicht nur am Beispiel Karl May festmachen, trotzdem hier noch ein Artikel dazu.
https://www.rnd.de/kultur/winnetou-im-k ... urce=upday
Den Artikel finde ich gut. " ... in den USA verfolgte man bis in die 1960er-Jahre eine Ethnozid-Politik – die kulturellen Eigenschaften aller indigenen Ethnien sollten ausgelöscht werden. Bis 1968 waren ihre religiösen Zeremonien verboten, Kinder wurden ihren Familien entrissen und auf westliche Internate geschickt ..." Während ich mit den Kindern im Viertel "Cowboy und Indianer" gespielt habe, sah die Wirklichkeit ganz anders aus.

Gut finde ich, wie die Verlage und Fernsehanstalten dem Text gemäß zum Teil vorgehen: sie entscheiden von Fall zu Fall und haben verschiedene Werkzeuge dafür. Das finde ich gut.
Das vermischt zwei Dinge, nämlich die materielle Wirklichkeit der Indigenen in den USA und den institutionellen Kulturvernichtungsfeldzug gegen sie einerseits und unsere sprachlichen Maßnahmen zur Bedienung des eigenen Gefühls, die nichts ander Wirklichkeit der Indigenen in den USA ändern, andererseits. Die Verlagspolitik von Ravensburger bedient lediglich die Interessen einer aggressiven Lobby. Sie ändert nichts an der Lebenssituation dejenigen, die zu verbessern man sich einbildet. Es dient nur lediglich der Bestätigung der eigenen guten Moral. Man könnte es auch Instrumentalisierung von Minderheiten nennen.
Dem widerspricht ein bisschen die Tatsache, dass es ja gerade die Betroffenen sind die sich diese Änderungen wünschen.
Persönlich glaube ich aber, dass wenn es diesen Menschen besser ginge, dann wären auch Weiße die sich als Indianer verkleiden kein Problem mehr.
Der geschichtliche und soziale Hintergrund aus dem heraus diese Dinge als "kulturelle Aneignung" (oder schlicht als Verhöhnung) begriffen werden ist das Entscheidende.
An der Geschichte können wir nichts ändern, die ist so wie sie ist. Aber wir können dafür sorgen, dass sie eine bessere Gegenwart und Zukunft haben.
Kinderbücher umzuschreiben halte ich dabei nicht für zielführend. Das löst sich von ganz allein, wenn wir die eigentlichen Probleme beseitigen.



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