Nauplios hat geschrieben : ↑ So 29. Aug 2021, 19:52
Alethos hat geschrieben : ↑ Sa 28. Aug 2021, 11:38
Das ist das widerwärtige Versagen des Westens: Dass es keine Werte hat, die es für wertvoll genug erachten würde, politischen Willen bis zur letzten Konsequenz zu entwickeln.
"Bis zur letzten Konsequenz" - leichtes Unbehagen stellt sich bei mir ein. Es klingt kompromisslos. Innenpolitisch liest man, der Kompromiss gehöre wesentlich zum politischen Prozess. Sind Werte leitend, dann steht man meines Erachtens früher oder später in einer Situation, in der Werte gegeneinander abgewogen werden müssen. Bei Staatsbesuchen in China oder wie jüngst in Moskau spricht die Kanzlerin die Situation von Menschenrechtsaktivisten an und im Schlepptau der Kanzlerin sind Konzernchefs, die anschließend Geschäfte mit den Chinesen in Milliardenhöhe einfädeln, was in Deutschland Arbeitsplätze sichert oder neue generiert. Sanktionen gegen Moskau einerseits - Nord stream 2 andererseits.
Werte können Maßstab der Politik sein. Sie können aber auch miteinander konkurrieren.
Den Unterschied zwischen Interessen und Verpflichtungen sollten wir nicht verwischen: Es mag ein berechtigtes Interesse an gedeihlichen Wirtschaftsbeziehungen mit China geben, aber wir sind zugleich angehalten, diese Interessen nicht um jeden Preis zu verfolgen. Es reicht nicht, so will ich sagen, Menschenrechtsverletzungen in China en passant anzuprangern, um anschliessend zur Tagesordnung des angeblich wichtigeren Traktandums der Wirtschaftsbeziehungen überzugehen. Denn obwohl wir mit guten Wirtschaftsbeziehungen auch einer Verpflichtung nachkommen, nämlich jener, Existenzen im eigenen Land zu sichern, so verraten wir eben diese Existenzen im
Umkehrschluss, wenn wir die Menschenrechtslage nicht als wichtigsteres Anliegen ansehen.
Keine Wirtschaftskraft der Welt
kann uns helfen, Wohlstand zu erzeugen, wenn wir nicht die Menschenwürde in den Mittelpunkt rücken, denn es gibt zwar ein Recht auf Wohlstand, ich glaube daran, aber es gibt keinen Wohlstand ohne Recht, der diesen Namen verdiente. Wohlstand ist, so gesehen, kein rein ökonomisches Ziel, sondern dürfte mindestens ebenso das Wohlergehen von Menschen an und für sich beschreiben. Ein Wohlergehen, das ohne Zweifel gefährdet ist - hier wie drüben - wenn nicht die Achtung von Recht und Würde über alle Interessen steht.
Solange sich diese Ansicht im Westen nicht verfestigt, sind wir keine Wertegemeinschaft, sondern ein Interessensbund. Dann dürfen wir vielleicht mit allen Mächten dieser Welt Geschäfte treiben, aus immer berechtigtem
Interesse, aber wir werden dabei nicht nur Gefahr laufen, die Ideale von Gleichheit, Freiheit und Mitmenschlichkeit zu verraten, sondern uns gebärden als Komplizen von Unrechtsstaaten.
Nicht wir sind im Westen die Guten und sie (wer auch immer) die Bösen, aber wir können nicht die Guten sein, die bei anderen (z.B. in Afghanistan) Gutes bewirken wollen, wenn wir uns nicjt einmal darüber einig sein wollen, dass etwas gut sein muss an sich, damit wir es auch tun könnten. Ohne diesen Glauben an das Gute sui generis, was uns anleitet über alle Interessen hinweg, sind wir nichts als Marionetten der Interessenpolitik, gleichgültig der globalen oder der innenpolitischen. In der Konsequenz fliehen wir mit dem Schwanz zwischen den Beinen eingeklemmt aus einem Land, in dem wir nichts zu suchen hatten erstens, weil man uns nicht rief, und zweitens, weil wir den verlorenen Glauben an das Gute nicht dort, sondern in uns finden müssen, bevor wir es verkünden oder schenken können.
Wir hatten Afghanistan nichts anzubieten, auch keinen Dialog darüber, was gut sein könnte für sie. In ihrem Land. Mit ihren Bedürfnissen. Aber wie wollen wir ihnen in Afghanistan, China oder sonst wo Hoffnung geben, dass es sichere Werte gibt, wenn wir selbst nicht wissen wollen, dass es sie gibt?