Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Markus Gabriel (* 6. April 1980 in Remagen) ist ein deutscher Philosoph. Er lehrt seit 2009 als Professor an der Universität Bonn.
Tosa Inu
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So 6. Aug 2017, 14:18

iselilja hat geschrieben : Es kann nämlich genauso wenig unendlich viele Begriffe geben, die wir zum Objekt erfragen können, wie es Perspektiven geben kann. An einem Punkt, den wir als Mensch recht schnell erreichen hört es bereits auf mit der Anzahl möglicher Sinnfelder.
Das versucht Gabriel dadurch zu entkräften, dass er sagt, dass auch das eine Sinnfeld, was den Hintergrund zu einem existierenden Ding darstellt, bereits weitere, indefinit viele, Sinnfelder, quasi als Hintergrund zu dem einen, ergeben würde.
Das wohl als Analogie zur Menge der Mengen (und der Tatsache der Tatsachen), die sich selbst enthält und die es daher nicht als abgeschlossene Zahl von Mengen, sondern nur als infiniten Regress gibt.
Es gibt daher auch die Menge aller Sinnfelder nicht, da jedes weitere, formallogisch erzeugt. Das überzeugt mich nicht so recht.
Alldieweil Gabriel selbst in "Sinn und Existenz" die Position der reinen Logik, als dem Nonplusultra der Philosophie, kritisiert.

Interessant und richtig finde ich jedoch, nach Wegen zu suchen, die weder einem harten Physikalismus noch einem harten Konstruktivismus in die Karten spielen.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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So 6. Aug 2017, 14:29

Ich kann das nicht so richtig nachvollziehen. Kannst du vielleicht einen Zeitpunkt in dem Vortrag angeben, auf den du dich beziehst?




Tosa Inu
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So 6. Aug 2017, 14:42

Jörn Budesheim hat geschrieben : Gustav von Aschenbach ist sowohl eine Figur von Thomas Mann als auch ein Pädophiler, aber er ist kein Atomgewirr, weil es im Universum niemals ein Atomgewirr gab, das identisch mit der von Mann erfundenen Person namens »Gustav von Aschenbach« war. Gustav von Aschenbach ist je nach Sinnfeld in Venedig gewesen – oder auch nicht. Es kommt darauf an, ob man über den Roman oder die Stadtgeschichte spricht." (MG)

Was heißt jetzt jedoch Erscheinung? Um zu verhindern dass dabei phänomenologische Assoziationen auftauchen, füge ich ein paar weitere Zeilen aus dem fraglichen Buch ein.
Die Stelle an der Gabriel Existenz, Schein und Sein bespricht, wiederholt er in „Sinn und Existenz“, ich habe sie heue morgen gelesen.

Finde ich an sich stark und richtig – schon, weil ich auch öfter argumentiere, dass man mit einem bloßen existieren = physikalisch in der Welt sein, Pegasus exisitiert dann ganz einfach nicht, nicht weit kommt, gerade wenn es um Wahrheit geht. Wenn man nämlich über nichtexistierende (physikalisch in der Welt seiende) Dinge nichts Falsches sagen kann, weil sie ja angeblich alle nicht exisiteren und es daher kein richtig/falsch gibt, kann man auch folgenlos sagen Pegasus sei ein schielender Hamster oder was auch immer, aber das ist eben falsch – und Gabriel führt dies weiter aus, wenn er sagt, dass es innerhalb fiktionaler Texte Passagen geben kann, in denen der Protagonist träumt oder halluziniert, während er in anderen klar und realistisch ist.

Die angeblich felsenfeste Differenz zwischen Schein und Sein, die kommt auch mir spanisch vor. Ich bin nur noch nicht ganz sicher, ob die Sinnfelder das sind, was alles erklärt.
Jörn Budesheim hat geschrieben : "Existenz = Erscheinung in einem Sinnfeld

Diese Gleichung ist der Grundsatz der Sinnfeldontologie. Die Sinnfeldontologie behauptet, dass es nur dann etwas und nicht nichts gibt, wenn es ein Sinnfeld gibt, in dem es erscheint.

Erscheinung ist ein allgemeiner Name für »Vorkommen« oder »Vorkommnis«. Der Erscheinungsbegriff ist aber neutraler. Auch Falsches erscheint, während es etwa gegen den Sprachgebrauch geht zu sagen, Falsches komme in der Welt vor. »Vorkommnisse« sind zudem greifbarer als »Erscheinungen«, weshalb ich den flexibleren Begriff der »Erscheinung« vorziehe." (MG)
Manche veruschen den Wahrheitsbegriff (der auch problematisch ist, jedenfalls in meiner Welt) so festzuzurren, dass er teilweise mit der Existenz konform geht. Ich halte das für problematisch, weil, wie Du sagst, eben auch Lügen exisitieren, als Tatsachen (in) der Welt vorkommen.



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Tosa Inu
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So 6. Aug 2017, 14:43

Jörn Budesheim hat geschrieben : Ich kann das nicht so richtig nachvollziehen. Kannst du vielleicht einen Zeitpunkt in dem Vortrag angeben, auf den du dich beziehst?
Das bezieht sich auf sein Buch. Ich werde es zitieren.

"Wenn es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts gibt, gibt es auch schon eine Pluralität von Sinnfeldern. Selbst wenn es nur einen einzigen Gegenstand gäbe, müsste dieser, um übrhaupt zu existieren, vor einem Hintergrund hervortreten, was voraussetzt, dass es einen Hintergrund gibt, für den es wiederum einen Hintergrund gibt, vor dem Gegenstand und Hintergrund hervortreten." (M.Gabriel, "Sinn und Existenz", Suhrkamp TB 2016, S. 193)

Den Hintergrund hat Gabriel allerdings per def eingeführt, insofern wird das Argument hier etwas zirkulär.



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So 6. Aug 2017, 15:38

„Es ist auch nicht so, dass fiktive Entitäten auf eine andere Wesie als meine Kaffeetasse existieren oder dass Institutionen oder sonstige soziale Entitäten eine andere Form von Existenz darstellen als Moleküle. Es gibt keine Existenz- oder Seinsweisen, sondern vielmehr verschiedene Sinnfelder und Gegenstände, die in ihnen erscheinen.“
(M. Gabriel, ebd. S. 201)

Für diese Formulierung könnte ich ihn ja küssen, allein der Beweis ist das, was mir fehlt.
Intuitiv stimme ich dem sofort zu, habe da de facto bereits abgenickt und versuche es in die/eine Praxis zu überführen. Umso mehr interessiert mich eine fundierte Begründung dessen, was ich intuitiv für wahr halte.
Zuletzt geändert von Tosa Inu am Mo 7. Aug 2017, 08:51, insgesamt 1-mal geändert.



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Jörn Budesheim
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So 6. Aug 2017, 15:58

Ich sitze hier im Park und lese die fragliche Stelle bzw starte den fraglichen Paragraphen. Daher nur kurz. Zu Beginn des Paragraphen 5 schreibt er: "der Begriff des Sinnfelds dient dazu, den Bereichs-Begriff zu ersetzen bzw zu präzisieren." Meines Erachtens macht Gabriel, das was möglich ist und das was üblich ist. Er setzt bei bestehenden Diskussionen ein, macht Einwände, macht Vorschläge, versucht das, was er vorschlägt, plausibel zu machen, Probleme zu diskutieren und so weiter. Er versteht sich an als Teil einer umfassenden Diskussion zu der Problemlage, an der er sich mit guten Argumenten beteiligt. Wer letztgültige Beweise verlangt, der verlangt wahrscheinlich zu viel :)

Ich finde auch nicht, dass er den Begriff des Sinnfelds einfach definiert oder setzt und unbegründet vorbringt. Ich finde, dass er durchaus Beispiele bringt und in der Lage ist seine Vorschlag plausibel und gut nachvollziehbar zu machen.




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iselilja
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So 6. Aug 2017, 17:42

Jörn Budesheim hat geschrieben : Hallo iselilja,

Ich muss zugeben, dass es mir sehr schwer fällt, aus deinem Beitrag klug zu werden. Deswegen pick ich mir jetzt einzelne Sätze heraus und versuche nach bestem Wissen und Gewissen darauf zu antworten :-) ich hoffe die Auswahl der Sätze ergibt kein verzerrtes Bild, ansonsten bitte ich Dich, es zu korrigieren.
iselilja hat geschrieben : die Position des Betrachters entscheidet [darüber], was man sieht und damit was dort eigentlich existiert
Ca. bei Minute 46 erklärt Gabriel seine Position anhand der SchallplattenMetapher. Die antirealistische Position, die Gabriel nicht vertritt, macht geltend dass der Lesekopf erst dazu führt, dass die Schallplatte ein bestimmtes Lied abspielt. Gabriel hingegen vertritt die Ansicht, dass die “Position” des Betrachters zwar entscheidet was er sieht, aber nicht was dort eigentlich existiert. Unter Position sollte man hier allerdings nicht wortwörtlich eine raumzeitliche Stelle verstehen. Ich möchte dass er so verstehen, dass man die eigene Registratur in einer bestimmten Art und Weise kalibrieren muss, um zu erkennen was ohnehin vorhanden ist. Nicht die Dinge und Tatsachen selbst sind registraturabhängig - das wäre der alte Antirealismus - sondern ob man das, was tatsächlich vorhanden ist, richtig in den Blick bekommt, ist abhängig von der eingesetzten Registratur und ihrer Kalibrierung. In dem Vortrag sagt Gabriel, der Sinn, der macht, dass bestimmte Sätze wahr sind, ist schon in der Wirklichkeit.
iselilja hat geschrieben : Er malt ja 3 Quadrate an die Tafel und fragt dann wieviele Gegenstände/Objekte dort zu sehen sind. Und hier wird natürlich sofort klar, dass der Begriff Gegenstand eine andere Bedeutung / einen anderen Sinn hat als Quadrat.
Zuvor hat Gabriel erläutert, wie er den Begriff Gegenstand verstehen möchte. Ein Gegenstand in diesem Zusammenhang ist alles, worüber man wahrheitsfähige Aussagen machen kann, also auch Quadrate.
iselilja hat geschrieben : Er sagt 1.) der Sinn der Sache liegt tatsächlich in der Realität, denn es sind 3 Quadrate an der Tafel und nicht etwa 5. Er sagt 2.) es gibt indefinit viele Sinnfelder zu dem was an der Tafel alles ist - wovon er jetzt aber nur 3 explizit anspricht: Quadrate, Seitenkanten oder Elementarteilchen.

Falsch daran ist nun 2. Es kann nämlich genauso wenig unendlich viele Begriffe geben, die wir zum Objekt erfragen können, wie es Perspektiven geben kann. An einem Punkt, den wir als Mensch recht schnell erreichen hört es bereits auf mit der Anzahl möglicher Sinnfelder.
Ich würde an dieser Stelle indefinit nicht mit unendlich, sondern mit unbestimmt übersetzen. Die Zahl der Sinnfelder ist unbestimmt und sicherlich deutlich größer als die möglichen Perspektiven, die wir einnehmen können. Punkt 2) ist also nach meiner Einschätzung aus zwei Gründen nicht falsch. Erstens weil indefinit nicht unendlich bedeutet und zweitens, weil an dieser Stelle nicht die Perspektiven, die wir einnehmen können, gemeint sind, sondern die SinnFelder selbst. Gabriel macht in dem Vortrag geltend, dass die Wirklichkeit lesbar ist, allerdings nicht auf eine einzige Art und Weise, sondern auf indefinit viele Art und Weisen. Wir als endliche Wesen werden vielleicht nie alle diese an sich vorhandenen Möglichkeiten tatsächlich lesen können.
Hallo Jörn, vermutlich wird es jetzt noch komplizierter wenn ich versuche, es besser zu umschreiben. Aber ich stelle auch gerade fest, dass ich mich tatsächlich an manchen Stellen etwas unverständlich ausgedrückt habe. Egal, ich versuch es einfach.

Meine Gemeinsamkeit mit Gabriels Ansicht ist, dass man verschiedene Auffassungen haben kann, was das (betrachtete) Objekt betrifft. Daher hatte ich das Beispiel mit der Skulptur und den Perspektiven gebracht. Nicht weil es eine bessere Erklärung wäre, sondern einfach, um den Umstand der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung hervorzukehren.

Gabriel nun geht einen anderen Weg - er bezieht sich auf den Begriff und setzt ihn noch vor die Wahrnehmung. Der Sinn der Fragestellung "Was ist dort zu sehen?" beansprucht also bereits ein "etwas, das dort existieren soll". Auch das ist soweit ok, kann man machen. Gabriel zeigt nun, dass ein einzelnes Objekt unter dem Aspekt verschiedener Begrifflichkeiten betrachtet werden kann.


Nun wird es spannend :-)
iselilja hat geschrieben : die Position des Betrachters entscheidet [darüber], was man sieht und damit was dort eigentlich existiert
Gabriel muss diesem Satz zustimmen, denn er sagt ja gewissermaßen, dass das was der Begriff zulässt auch tatsächlich existiert. Sieht man also aus einer Perspektive ein Quadrat und aus der anderen Perspektive einen Halbkreis, dann sind dort auch "tatsächlich (MG)" ein Quadrat und ein Halbkreis. Folglich ist die Kernaussage Gabriels identisch mit der Kernaussage der Perspektivenvertreter - obwohl es nicht das selbe ist.
Jörn Budesheim hat geschrieben : Gabriel hingegen vertritt die Ansicht, dass die “Position” des Betrachters zwar entscheidet was er sieht, aber nicht was dort eigentlich existiert.
Dann existieren auch nicht die 3 Quadrate an der Tafel, die Gabriel anmalte. Er sagt aber explizit "Doch! Die sind tatsächlich da. Wenn Sie 5 zählen irren sie sich."

Heißt, wenn der Betrachter der Skulptur einen Kreis sieht, wo eigentlich ein Quadrat in seinem Blickfeld sein sollte, dann irrt er sich ebenfalls, weil da ist ja in diesem Moment auch tatsächlich ein Viereck. Nämlich eine Seite der Skulptur. Genauso wie Gabriels Seiten am Quadrat.


Ist das soweit einigermaßen verständlich? Es ist auch schwer zu beschreiben, vor allem, wenn man Ungereimtheiten auflösen will.


Mit der Übersetzung von indefinit hast Du wohl recht. Das muss ich nochmal überdenken.




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iselilja hat geschrieben : Gabriel nun geht einen anderen Weg - er bezieht sich auf den Begriff und setzt ihn noch vor die Wahrnehmung. Der Sinn der Fragestellung "Was ist dort zu sehen?" beansprucht also bereits ein "etwas, das dort existieren soll". Auch das ist soweit ok, kann man machen. Gabriel zeigt nun, dass ein einzelnes Objekt unter dem Aspekt verschiedener Begrifflichkeiten betrachtet werden kann.
Kann man nicht nur machen, muss man sogar. Sonst könnte man es ja nicht bezeugen.
iselilja hat geschrieben : Gabriel muss diesem Satz zustimmen, denn er sagt ja gewissermaßen, dass das was der Begriff zulässt auch tatsächlich existiert. Sieht man also aus einer Perspektive ein Quadrat und aus der anderen Perspektive einen Halbkreis, dann sind dort auch "tatsächlich (MG)" ein Quadrat und ein Halbkreis. Folglich ist die Kernaussage Gabriels identisch mit der Kernaussage der Perspektivenvertreter - obwohl es nicht das selbe ist.
Noch spannender wird es glaube ich, wenn man sich klar macht, dass Perspektive nicht nur räumlich zu verstehen ist, also als Frontal- oder Seitenansicht auf ein Objekt und auch nicht nur von der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung abhängt, also ob man in der Lage ist zu hören, sondern vermutlich noch eine Art Fähigkeit zum inneren Erfassen vorhanden sein muss. Hier stellt sich dann die Frage, ob und inwiefern etwas existiert noch mal in verschärfter Weise.

Inwieweit findet sich in einem Musikstück Klarheit, in einem Gedicht Sehnsucht, auf welche Weise existiert das was mich heute Nacht im Traum geängstigt hat „wirklich“ und als wie „wahr“ darf ich etwas bezeichnen, was nur ich bezeugen kann? Wie objektiv (= auch für andere erkennbar) muss etwas sein, um ihm zuschreiben zu können, dass es existiert? Zweifelsfrei existiert nämlich auch eine paranoide Wahnvorstellung, aber wir trauen uns das „paranoide Wahnvorstellung“ zu nennen, genau weil sich diese Sicht nicht teilen lässt. Existiert das nun, was der eine mit der Wahnvorstellung sieht? Und in gleichberechtigte Weise, wie das Urteil des Psychiaters, der mit seiner Diagnose sagt, die Verschwörung gegen ihn „existiere“ (als mögliche Innenansicht) nur für diesen Menschen?

Wenn wir das aber durchwinken, was ist dann mit einsamen Genieleistungen, die sich auch dadurch auszeichnen, dass zunächst(?) nur der eine Forscher, Künstler oder Meditierende etwas erlebt, was für andere so nicht zu erfahren ist?



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iselilja
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Mo 7. Aug 2017, 11:43

Tosa Inu hat geschrieben : Kann man nicht nur machen, muss man sogar. Sonst könnte man es ja nicht bezeugen.
Das war auch ein Fingerzeig auf die Reihenfolge, nicht nur darauf, dass der Begriff für die Bezeugung letztendlich notwendig ist.

Im Grunde (ich weiß nicht ob euch das ebenso bereits bewußt geworden ist) greift Gabriel einen sehr alten Disput mit neuen Herleitungen auf. Wenn nämlich der Sinn des Begriffes vor der Wahrnehmung gegeben ist (was ja mit dem Sinnfeld aller Sinnfelder offenbar sich ergibt) befinden wir uns im schönsten Idealismus - nicht etwa wie behauptet "neuem Realismus".

Was übrigens auch erklärt, warum es die Welt nicht gibt, wohl aber den Sinn. :-) Gabriel ist mir zu .. ich weiß garnicht, wie ich das nennen soll.. wie nennt man das, wenn jemand die Welt nur aus Büchern kennt und daher glaubt (ja glauben muss), dass es sie eigentlich nicht gibt?




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iselilja
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Mo 7. Aug 2017, 11:55

Tosa Inu hat geschrieben : Noch spannender wird es glaube ich, wenn man sich klar macht, dass Perspektive nicht nur räumlich zu verstehen ist, also als Frontal- oder Seitenansicht auf ein Objekt und auch nicht nur von der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung abhängt, also ob man in der Lage ist zu hören, sondern vermutlich noch eine Art Fähigkeit zum inneren Erfassen vorhanden sein muss. Hier stellt sich dann die Frage, ob und inwiefern etwas existiert noch mal in verschärfter Weise.
Da bin ich ganz bei Dir. Die Perspektiven von Autor und Rezipient bspw. .. oder von Dozent und Zuhörer. :-) Jenachdem was man von wo aus betrachtet, da zählen m.E. auch Abstrakta zu.




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Jörn Budesheim
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Ich kann nicht sicher sagen, ob ich in den nächsten Tagen dazu komme, das Bild etwas geradezurücken :-) ich will es aber versuchen!




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Di 8. Aug 2017, 10:13

iselilja hat geschrieben : Im Grunde (ich weiß nicht ob euch das ebenso bereits bewußt geworden ist) greift Gabriel einen sehr alten Disput mit neuen Herleitungen auf. Wenn nämlich der Sinn des Begriffes vor der Wahrnehmung gegeben ist (was ja mit dem Sinnfeld aller Sinnfelder offenbar sich ergibt) befinden wir uns im schönsten Idealismus - nicht etwa wie behauptet "neuem Realismus".
Aber das sagt er ja nicht. Der Sinn wird schon zugeschrieben und die Zuschreibung gebührt dem, was da ist. Also erst Existenz (Erscheinen in einem Sinnfeld) dann ggf. sinnhafte Zuschreibung: Das ist eine Tasse.
iselilja hat geschrieben : Was übrigens auch erklärt, warum es die Welt nicht gibt, wohl aber den Sinn. :-) Gabriel ist mir zu .. ich weiß garnicht, wie ich das nennen soll.. wie nennt man das, wenn jemand die Welt nur aus Büchern kennt und daher glaubt (ja glauben muss), dass es sie eigentlich nicht gibt?
Das würde man wohl weltfremd nennen, aber kann man ihm den Vorwurf wirklich machen?

Ist es nicht gerade spannend, dass man der Welt als Lehnsesselgelehrter (ich will nicht behaupten, dass Gabriel einer sei) nahe kommen kann?



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Di 8. Aug 2017, 10:19

iselilja hat geschrieben :
Tosa Inu hat geschrieben : Noch spannender wird es glaube ich, wenn man sich klar macht, dass Perspektive nicht nur räumlich zu verstehen ist, also als Frontal- oder Seitenansicht auf ein Objekt und auch nicht nur von der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung abhängt, also ob man in der Lage ist zu hören, sondern vermutlich noch eine Art Fähigkeit zum inneren Erfassen vorhanden sein muss. Hier stellt sich dann die Frage, ob und inwiefern etwas existiert noch mal in verschärfter Weise.
Da bin ich ganz bei Dir. Die Perspektiven von Autor und Rezipient bspw. .. oder von Dozent und Zuhörer. :-) Jenachdem was man von wo aus betrachtet, da zählen m.E. auch Abstrakta zu.
Da bin ich auch gespannt, wie es weiter geht. Ich betrachte Gabriels Ansatz zwar skeptisch, aber mit Wohlwollen, wie Du scheinbar auch.



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iselilja
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Di 8. Aug 2017, 10:44

Tosa Inu hat geschrieben : Da bin ich auch gespannt, wie es weiter geht. Ich betrachte Gabriels Ansatz zwar skeptisch, aber mit Wohlwollen, wie Du scheinbar auch.
Jepp. Meine Erfahrung ist es, dass aufsehenerregenden Neuigkeiten und spektakulären Entdeckungen mit einer gesunden Mischung aus Skepsis und Neugier zu begegnen, oftmals vor Torheiten bewahrt.

Ich würde ganz gerne als nächstes die drei großen "Weltthesen", die MG heranzieht, ein wenig diskutieren. Aber ich will auch erstmal abwarten, was Jörn noch schreiben wollte.




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Jörn Budesheim
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Di 8. Aug 2017, 12:11

iselilja hat geschrieben : Aber ich will auch erstmal abwarten, was Jörn noch schreiben wollte.
Ich komme wohl erst am Do wieder zum Schreiben :-( Macht einfach ohne mich weiter. Sorry.




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Di 8. Aug 2017, 12:55

iselilja hat geschrieben : Ich würde ganz gerne als nächstes die drei großen "Weltthesen", die MG heranzieht, ein wenig diskutieren.

Was genau meinst Du denn damit? Meinst Du Dinge, Tatsachen, Sinnfelder?



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Mi 9. Aug 2017, 10:52

Das größte Problem wird wohl, dass Gabriel den Physikalismus überwinden will und zwar den ontologischen Physikalismus, der in Gabriels Sprache ein metaphysischer Physikalismus wäre.
Das ist die altbekannte Lücke zwischen Epistemologie und Ontologie. Zwischen: Die Physik kann nicht alles erklären und: Alles ist (erstlich und letztlich) Physik.
Dass die Physik alles erklären kann (oder können wird), behaupten nur Erzphysikalisten, dagegen steht der Laplacesche Dämon. Dass es aber Strukturen gibt, die von der Physik völlig unabhängig sind, müsste gezeigt werden. Was m.E. irgendwo dazwischen liegt ist ein bottom up Monismus, der glaube ich zunächst ins Trudeln gerät. Die Idee, dass eine bestimmte physikalische Anordnung es ursächlich bewirkt, dass z.B. Geist „erscheint“. Ich weiß nicht, inwieweit die reine bottom up Idee überhaupt noch vertreten wird, aber es scheint sehr viel dafür zu sprechen, dass übergeordnete (hierarchisch komplexere) Strukturen es irgendwie schaffen, dass sich niedrige Strukturen gemäß ihrer präformierenden Struktur ausbilden oder ausrichten. Das erinnert schon an Felder, die Frage ist,
Wenn ich es richtig erinnere möchte Gabriel Begriffe wie Kausalität (Ursächlichkeit) aber umgehen, es wird sich zeigen lassen müssen, ob ihm dies gelingt.

Der andere Komplex ist, dass Gabriel sagt, dass Sinnfelder insofern objektiv seien, dass es auch dann war ist, dass es im Film „Das letzte Einhorn“ Einhörner gab, wenn es niemanden mehr gibt, der dies bezeugt. Das ist ein analoges Argument zu dem, dass der Satz des Pythagoras auch dann schon richtig war, als es auf der Erde (oder im Universum) noch kein Wesen gab, dass ihn hätte formulieren können. Letztlich wieder die Frage, wieweit logische, ästhetische oder spirituelle Strukturen vom Erlebenden unabhängig existieren. Gabriels Gebrauch des Begriffs „Existenz“ ist hier ungewöhnlich, aber er muss nicht falsch sein.



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iselilja
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Do 10. Aug 2017, 21:31

Tosa Inu hat geschrieben :
Di 8. Aug 2017, 12:55
Meinst Du Dinge, Tatsachen, Sinnfelder?
Ja genau.

Also wenn ich Gabriel an der Stelle richtig verstanden habe, sagt er ja "Das Sinnfeld aller Sinnfelder wäre das, wie er es nennen würde.. und das kann es nicht geben".

Zum Weltbild, dass die Welt die Gesamtheit aller Dinge sei, erklärte er ja, dass darin dann [u.a.] keine Wahrheiten vorkämen. Kann man sicherlich kritisieren. Zum Weltbild, dass die Welt die Gesamtheit aller Tatsachen sei, sagt er aber soweit ich das sehe nichts kritisches, oder hat das jemand anders verstanden? Und kurz darauf sagt er, dass es seine eigene Erklärung unter der Verwendung des Begriffes Sinnfeld nicht geben kann. Wäre es also nicht einfach konsequent zu sagen: Die Welt ist die Gesamtheit aller Tatsachen? :-)




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Do 10. Aug 2017, 22:18

iselilja hat geschrieben :
Do 10. Aug 2017, 21:31
Wäre es also nicht einfach konsequent zu sagen: Die Welt ist die Gesamtheit aller Tatsachen? :-)
Das ist eine tragfähige Position.

"Die Welt ist alles, was der Fall ist." (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus, § 1).




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iselilja
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Do 10. Aug 2017, 22:32

iselilja hat geschrieben :
Do 10. Aug 2017, 21:31
Und kurz darauf sagt er, dass es seine eigene Erklärung unter der Verwendung des Begriffes Sinnfeld nicht geben kann.
Bin ich der einzige, der Ironie darin sieht? Also ich finde das schon irgendwie witzig.




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