Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Markus Gabriel (* 6. April 1980 in Remagen) ist ein deutscher Philosoph. Er lehrt seit 2009 als Professor an der Universität Bonn.
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iselilja
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So 13. Aug 2017, 00:01

Segler hat geschrieben :
Sa 12. Aug 2017, 23:11
[...]
Den Begriff "Sinn" definiert er ca. Min 42. Dabei verwendet er als Definiens den Begriff "Erwartungsperspektive", den er aber nicht erklärt. Was ist Erwartung und was ist Perspektive?
[...]
Über seine ausgesprochen eigenwillige Definition von "Metaphysik" (ca. Min 11) sage ich lieber nichts. Wenn ich mir die Grundlagen passend hinbiege, wird er Rest schon. Meiner Ansicht nach, ist die Ontologie eine Teildisziplin der Metaphysik, während Gabriel beide als etwas grundsätzlich unterschiedliches definiert.
[...]
Beim zweiten Kritikpunkt stimme ich dir sowieso zu. Ich habe beim Vortrag nahezu durchgängig das Gefühl, dass er zielführend bei der Ausgangsbasis Bedeutungsanpassungen vornimmt, wobei vereinzelte Aussagen dennoch schlüssig und auch richtig erscheinen.

Beim ersten sehe ich das eigentlich nicht so problematisch. Erwartungshaltung (MG malt Quadrate und fragt dann, also erwartet man wohl, dass er sich auf Quadrate bezieht) wäre evtl. auch ein passender Ausdruck. Aber bei nur knapp 2 Stunden muss man ihm auch ein wenig Kürze in den Ausführungen zugestehen denke ich.
Zuletzt geändert von iselilja am So 13. Aug 2017, 00:05, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Tosa Inu hat geschrieben :
Fr 11. Aug 2017, 12:27
Hier stimme ich Gabriel zu. Für mich ist Wahrheit nicht „ein Berg“ (manche meinen das aber), sondern nur einer behauptenden Aussagen kann ein Wahrheitsgehalt ab- oder zugesprochen werden. Kurz: Aussagen können wahr sein, Dinge nicht.
Wenn ich mich recht entsinne, thematisiert Gabriel das in diesem Vortrag nicht. Aber er ist durchaus der Auffassung, dass Wahrheit etwas "da draußen" ist. Seine Erläuterung des Begriffs Tatsache könnte ein Indiz dafür sein. Eine Tatsache ist nach Gabriel "etwas, das über etwas wahr ist." Es war über Markus Gabriel wahr, dass er zur Zeit des Vortrages in Bonn, Köln oder sonst wo war ... (Ich glaube, das war sein Beispiel.)




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Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 9. Aug 2017, 10:52
Wenn ich es richtig erinnere möchte Gabriel Begriffe wie Kausalität (Ursächlichkeit) aber umgehen, es wird sich zeigen lassen müssen, ob ihm dies gelingt.
Hast du einen Tipp, wo du das heraus gehört hast?

Ich glaube nicht, dass Gabriel diese Ansicht vertritt, kann mich aber natürlich täuschen. Ich würde schätzen, dass Gabriel den Begriff für den Bereich der Physik z.b. unproblematisch findet, während er im Bereich der Zahlen, der Logik oder der Kunst unangebracht ist.




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Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 12. Aug 2017, 11:38
"Die Art, wie Felder Gegenstände zur Erscheinung bringen (die Regeln, die festlegen, um welches Sinnfeld es sich handelt) bezeichne ich als „Sinn“." (Gabriel)

Den Satz verstehe ich ehrlich gesagt nicht. Welche Regeln legen denn fest, dass Erdbeeren erscheinen? Und welche, dass es sich um Primzahlen handelt? Wo genau geht das über den Konstruktivismus hinaus, der simpel gesagt behauptet, dass in meiner Welt erscheint, was eben neuronal vermittelt, erscheint? Aber Sinnfelder sollen ja nicht einfach nur Lesart oder Perspektive und Konstruktibismus sein (wohlgemerkt, dass Sinnfeld der Erdbeere, nicht die Erdbeere), deshalb: Was ist die objektive Gestalt oder Herleitung des Sinnfeldes Erdbeere, Primzahl oder Hotzenplotz, das über die Perspektive von "Ich betrachte dies, aus dem und dem Grund, als x" hinaus geht? Sind die Sinnfelder physischer Dinge selbst physisch? Wenn nicht, was genau macht sie objektiv?
"Welche Regeln legen denn fest, dass Erdbeeren erscheinen?" Die Felder in denen Erdbeeren erscheinen/vorkommen/existieren können, haben eine bestimmte Struktur, sind in einer bestimmten Art und Weise geartet, weisen eine bestimmte Regelmäßigkeit oder Ordnung auf. So verstehe ich das. Den Begriff "Regel" muss man hier, so glaube ich, sehr weit fassen. Er muss die Gesetze der Physik ebenso umfassen können, wie die Regeln in einem Spiel oder die Regeln für die Wahl eines Bundestagsabgeordneten. Die Bereiche und die Dinge, die in ihnen vorkommen, gehören immer zusammen, sie bestimmen sich gewissermaßen gegenseitig. Bereich und Gegenstand sind relationale Begriffe.

Erscheinung ist natürlich auch auch ein Begriff, der sehr schnell auf die falsche Spur führt. Erscheinung soll laut Gabriel ja keine phänomenologischen Erinnerungen wachrufen. Erscheinen heißt soviel wie vorkommen. Erdbeeren kommen nun tatsächlich gelegentlich auf Feldern vor :-) werden sie gepflückt, dann können sie in vielen anderen Feldern auftreten. Unsere Erdbeere könnte problemlos auch ein Teil eines Kunstwerkes z.b. werden. (In dem Buch Sinn und Existenz führt Gabriel das am Beispiel einer Hand aus auf Seite 186.)

Ich selbst kann mir beliebig viele reale Bereiche vorstellen, in denen die Erdbeere ihr Sein fristet, ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wie eine Erdbeere ins Nichts gestellt sein sollte - eine Erdbeere ohne Bereich, indem sie vorkommt.




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So 13. Aug 2017, 08:29

"Wo genau geht das über den Konstruktivismus hinaus?" (Tosa Inu)

Die Versuchsanordnung mit den Quadraten, der Kreide, den Atomen etc ist übrigens nicht neu. Vergleichbares haben wir vor Jahren bereits im Philosophieraum diskutiert. (Ich weiß nicht ob sich jemand hier daran erinnern kann.) Wenn mich nicht alles täuscht, dann kenne ich diesen Gedankengang ursprünglich von Putnam, aber auch Goodman nutzt ähnliches, meine ich, um sein World-Making plausibel zu machen. Allerdings kommt Goodman zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Auf die Frage, was man dort an der Tafel eigentlich vor sich hat, lautet bei den Anti Realisten die Antwort Pi x Daumen: das ist stets relativ auf dem begrifflichen Rahmen, den man anlegt. Entscheidend ist immer, welches Sprachspiel gerade gespielt wird. Wenn mich nicht alles täuscht, lehnt Gabriel diesen Begriffs-Relativismus ab und versucht ihn durch einen ontologischen Relativismus zu ersetzen. Nicht die Vielfalt unserer Sprachspiele macht die Vielfalt der Welten, wie bei Goodman. Sondern die Welt selbst ist bereits vielfach strukturiert.

Paul Boghossian hat in diesem Zusammenhang die polemische Metapher von Förmchen-Konstruktivismus ins Spiel gebracht. In diesem Bild gibt es auf der einen Seite den großen Welt-Teig und auf der anderen Seite die diversen Förmchen, die wir in diesen Welt Teig einprägen. Die Frage, was gibt es dort, ist dann so lange nicht in entschieden, bis wir unser Förmchen aus unserem Begriffs-Köfferchen holen, und es in den Welttag einprägen. Ansonsten ist da das große X, ein unbestimmtes Potenzial oder dergleichen mehr... Gabriel macht das in dem Vortrag mit der Plattenspieler Metapher deutlich.

Gabriels Lösung ist eine andere. Nicht wir machen die Vielfalt der Welten, wie Goodman es vorschlägt. Sondern die Vielfalt der Welten liegt bereits vor. Und in dem wir unsere Registratur auf einer bestimmten Weise justieren, können wir manche von diesen Feldern in den Blick nehmen. Und für den Fall, dass eine wahre Erkenntnis vorliegt, nehmen wir die Bereiche so in den Blick, wie sie unabhängig von der Justierung der Registratur bereits an sich vorliegt.




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So 13. Aug 2017, 10:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:25
Wenn ich mich recht entsinne, thematisiert Gabriel das in diesem Vortrag nicht. Aber er ist durchaus der Auffassung, dass Wahrheit etwas "da draußen" ist. Seine Erläuterung des Begriffs Tatsache könnte ein Indiz dafür sein. Eine Tatsache ist nach Gabriel "etwas, das über etwas wahr ist." Es war über Markus Gabriel wahr, dass er zur Zeit des Vortrages in Bonn, Köln oder sonst wo war ... (Ich glaube, das war sein Beispiel.)
Ja, dass er da an der Tafel steht, oder so.
Aber auch das muss erst behaputet werden.
Ist aber an der Stelle für uns glaube ich unwichtig, oder?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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So 13. Aug 2017, 11:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:31
Hast du einen Tipp, wo du das heraus gehört hast?

Ich glaube nicht, dass Gabriel diese Ansicht vertritt, kann mich aber natürlich täuschen. Ich würde schätzen, dass Gabriel den Begriff für den Bereich der Physik z.b. unproblematisch findet, während er im Bereich der Zahlen, der Logik oder der Kunst unangebracht ist.
Alles, was ich schreibe, bezieht sich entweder auf das Video, mehrheitlich aber auf das Buch Sinn und Existenz (SuE), das sozusagen die Erweiterung von Warum es die Welt nicht gibt ist, da Gabriel hier bereits aus Einwände eingeht.

Warum es die Welt nicht gibt habe ich nicht gelesen, aber schon etliche Interviews und Darstellungen von Gabriel gehört (auch wenn das schon etwas her ist). Die Bermerkungen zur Kausalität sind sicher aus SuE, ich habe sie gerade nicht parat, weil ich sie nicht angestrichen habe, sie werden mir aber bestimmt noch mal über den Weg laufen, dann reiche ich die nach.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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So 13. Aug 2017, 11:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:59
Den Begriff "Regel" muss man hier, so glaube ich, sehr weit fassen. Er muss die Gesetze der Physik ebenso umfassen können, wie die Regeln in einem Spiel oder die Regeln für die Wahl eines Bundestagsabgeordneten.
Aber diese vereinheitlichende Regel der sozialen und physischen Spiele ist ja gerade das was gesucht wird und bislang nicht gefunden wurde. Man kann sie daher schlechte voraussetzen.
Was „wirkt“, wenn man einen Vertrag unterschreibt, ist nicht die Tinte, sondern die damit signalisierte Bereitschaft sich an bestimmte Konventionen verbindlich zu halten und ggf. im Falle des Bruchs, Sanktionen in kauf zu nehmen (um dies ich als Unterschreibender weiß). Ein hochkomplexes soziales Geschehen, was nicht auf die Perspektive zu reduzieren ist, das sich da im Hirn der Beteiligten etwas tut (auch wenn das sicher der Fall ist), denn man weiß nicht was. Noch hoffnungsloser wird es, wenn man auch die Ebene des Physikalismus switcht.
Insofern, ist die Intention klar (und vielleicht auch richtig), aber was den allumfassenden Charakter – aber wäre das dann nicht schon wieder gegen den Sinn von Gabriel antimetaphysischer Einstellung? - dieser Regel ausmacht, bleibt dunkel.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:59
Ich selbst kann mir beliebig viele reale Bereiche vorstellen, in denen die Erdbeere ihr Sein fristet, ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wie eine Erdbeere ins Nichts gestellt sein sollte - eine Erdbeere ohne Bereich, indem sie vorkommt.
Klar, ich kann mir auch diverse Erdbeerkontexte vorstellen, wir sind ja hier alle nicht gegen die Wand gelaufen. Aber die ins Nichts gestellte Erdbeere ist doch eher insofern problematisch, indem sie erneut darauf rekurriert, dass ein Beobachter, die Erdbeere, so oder so, als dies oder das betrachtet.

Eine vollkommen unbeachtete Erdbeere, die einfach irgendwo wäschst und vergammelt wäre denkbar. Sie wäre dann immer noch ein botanisches Etwas, Nahrung für Käfer oder Schimmelpilze und auch die hätte je ihre Perspektive dabei und ohne Zweifel gibt es Erdbeere und darüber hinaus ganz einfach „Dinge“ die nie jemand beachtet, weil sie außerhalb jedes wahrnehmbaren Kontextes existieren, aber über die kann man folgerichtig auch nicht reden.

Und der Konstruktivist würde sagen, dies sei einfach ein Vordergrund-Hintergrund-Phänomen. Es ist die Frage, ob und inwiefern tote physikalische Dinge, füreinander Welt darstellen, wenn die aufeinander einwirken. Das Drama um ein schwarzes Loch und Sterne in dessen Umfeld ist vielleicht nur für den interessierten Beobachter ein Drama. Und haben Felsbrocken und Primzahl überhaupt irgendein Verhältnis?

Interessant wird es vielleicht, wenn irgendwelche Kristalle oder Gewächse Zahlenverhältnisse ausdrücken. Dass dies eine günstige Raumanordnung ist, um viel oder wenig Oberfläche zu haben, ist ja dennoch keine Erklärung, die alles erschöpft. Wie gesagt, es könnte ja um Regeln gehen, die tote Dinge mit Gesetzen für den Bundestag verbindet.
Das könnte erweitert werden zu der Frage ob es tatsächlich Regel (mit jeder Menge Sinn) sind, oder Regularitäten (die zufälligen Charakter haben).



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So 13. Aug 2017, 12:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:59
Auf die Frage, was man dort an der Tafel eigentlich vor sich hat, lautet bei den Anti Realisten die Antwort Pi x Daumen: das ist stets relativ auf dem begrifflichen Rahmen, den man anlegt. Entscheidend ist immer, welches Sprachspiel gerade gespielt wird.
Was Gabriel allerdings auch sagt, er möchte dabei nur kein Antirealist sein.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:59
Wenn mich nicht alles täuscht, lehnt Gabriel diesen Begriffs-Relativismus ab und versucht ihn durch einen ontologischen Relativismus zu ersetzen. Nicht die Vielfalt unserer Sprachspiele macht die Vielfalt der Welten, wie bei Goodman. Sondern die Welt selbst ist bereits vielfach strukturiert.
Das ist ja eine spannende Frage, inwieweit es z.B. Primzahlen wirklich gibt und wirklich soll hier heißen unabhängig von Sprachspielen. Innerhalb von Reihen natürlicher Zahlen ergeben sich organisch bestimmte Regeln, aber entstehen Reihen von natürlichen Zahlen in der Weise „von selbst“, wie Kohlenstoff oder Helium?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:59
Gabriels Lösung ist eine andere. Nicht wir machen die Vielfalt der Welten, wie Goodman es vorschlägt. Sondern die Vielfalt der Welten liegt bereits vor.
Ich glaube das letztlich auch, nur müssen wir den Weg finden, vernünftig über Welten zu sprechen, die nicht erfolgreich auf die Regeln der Physik zurückgeführt werden können und dann versuchen das ontologisch auseinander zu pflücken. Das ist die große Herausforderung.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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So 13. Aug 2017, 12:43

Tosa Inu hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 11:56
Insofern, ist die Intention klar (und vielleicht auch richtig), aber was den allumfassenden Charakter – aber wäre das dann nicht schon wieder gegen den Sinn von Gabriel antimetaphysischer Einstellung? - dieser Regel ausmacht, bleibt dunkel.
Es gibt nach seiner Ansicht eben gerade keinen allumfassenden Charakter. Das ist ja der Hauptpunkt, den Gabriel machen will. Dass Bereiche und die Dinge, die in vorkommen in irgendeiner Art und Weise strukturiert, geordnet, geregelt etc sind (wie strikt oder vage auch immer) bedeutet jedoch nicht, dass sie alle in derselben Weise strukturiert, geordnet oder geregelt sind.

Übrigens... dass man Ordnungen manchmal nicht zur Gänze durchschauen kann und dass diese Ordnung sich auch in Veränderung befinden, heißt nicht, dass es sie nicht gibt.




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Herr K.
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So 13. Aug 2017, 22:23

Hi, ich bin nun auch hier, hallo allerseits!

Immer noch ein interessantes Thema für mich, denn so richtig ist mir Gabriels Gedankengebäude noch nicht klar geworden. Erst mal finde ich seine Begriffe "Sinnfeld" und "erscheinen" etwas unglücklich gewählt, für mich übersetze ich das lieber in "Gegenstandsbereich" und "vorkommen", aber das nur nebenbei.

Nach meinem Sprachgebrauch ist es nun - zumindest genau/wortwörtlich genommen - falsch, z.B. zu sagen, dass im Film "Das letzte Einhorn" Einhörner vorkämen. Es mögen zwar in diesem Film Bewegtbilder, d.h. Abbildungen von Einhörner vorkommen, aber eine Abbildung eines Einhornes ist kein Einhorn.

Nun ist es vermutlich wenig strittig, dass die Einhörner in diesem Film fiktiv sind. Oder? Falls so, dann könnte man nun zwar - anders als ich - der Ansicht sein, dass fiktive Objekte existierten, vielleicht mit dem Argument, dass nichts abgebildet und/oder beschrieben werden könne, was nicht existiere oder auch mit anderen Argumenten, das ist hier nicht so wichtig. Aber falls so, dann bringe ich das nicht mit folgendem Zitat von Gabriel zusammen, das Tosa Inu weiter vorne brachte:

"Es ist auch nicht so, dass fiktive Entitäten auf eine andere Weise als meine Kaffeetasse existieren oder dass Institutionen oder sonstige soziale Entitäten eine andere Form von Existenz darstellen als Moleküle. Es gibt keine Existenz- oder Seinsweisen, sondern vielmehr verschiedene Sinnfelder und Gegenstände, die in ihnen erscheinen.“
(M. Gabriel, ebd. S. 201)

Falls man der Ansicht ist, dass es fiktive Objekte wie z.B. Einhörner gäbe, dann müsste man doch auch der Ansicht sein, dass diese auf andere Art existierten als Einhörner aus Fleisch und Blut, oder etwa nicht? Fiktive Einhörner - so es diese denn gäbe, zusätzlich zu den Beschreibungen und Abbildungen von Einhörnern, die es unbestritten gibt - unterschieden sich doch von Einhörnern aus Fleisch und Blut in einigen nicht ganz unwesentlichen Punkten, nicht? Und falls so, hätten wir es dann nicht mit einem Homonym zu tun, d.h. einem Wort - hier "Einhorn" - das für zwei grundsätzlich unterschiedliche Begriffe stünde? Und wäre es dann nicht ziemlich hilfreich für ein weiteres Verständnis, wenn man da möglichst sauber unterscheiden würde?

Zum Beispiel könnte man nun - genau genommen - derartiges sagen: "im Film 'Das letzte Einhorn' kommen Bewegtabbildungen von fiktiven Einhörnern vor". Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Ob es fiktive Einhörner gibt oder nicht, wäre eine weitere Frage, aber in diesem Zusammenhang vielleicht nicht so wichtig.




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iselilja
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So 13. Aug 2017, 22:52

Mal eine ganz andere Überlegung zu den Sinnfeldern jenseits ontologischer und erkenntnistheoretischer Fragwürdigkeiten. Inwiefern ließe sich Gabriels Ansatz in einen ernsthaften gesellschaftlichen Diskurs überführen? Welche Wirkung hätte dies auf andere Disziplinen und könnte man dort etwas damit anfangen? Ich denke bspw. an die Juristik oder die Medizin. Könnte ein Richter mit dem Begriff Sinnfeld noch arbeiten?

Nehmen wir mal an, ein Verteidiger sagt vor Gericht "Es gibt (existiert) keinen Beweis für die Schuld meines Mandanten." Inwiefern wäre es sinnvoll hier nun als Kläger zu offerieren, dass dies eine Frage des Sinnfeldes ist, ob es den gibt oder nicht? :-)

Hilfreich könnte hier vielleicht sein, wenn jemand weiß, wie Gabriel das Problem Tibbles und Tibs zu lösen gedenkt.


Das Problem, welches ich nämlich in Gabriels Ansatz nun immer deutlicher erkenne, ist folgendes.. (ich hatte dieses Beispiel auch schon in einem anderen Zusammenhang anderen Ortes geschrieben) Nehmen wir an, wir haben zwei Kugeln a und b, die äußerlich nicht zu unterscheiden sind, also in allen prüfbaren Eigenschaften gleich sind. Nun machen wir von jeder Kugel ein Foto (ebenfalls a und b), werfen Kugeln und Fotos zusammen in eine Kiste, schütteln sie kräftig durch und nehmen wieder alles heraus. Ohne Gabriels Ansatz wäre hier nun klar, dass die Fotos nicht mehr zweifelsfrei der jeweils zugehörigen Kugel zugeordnet werden können (also im Zweifel für den Angeklagten). Mit Gabriels Ansatz wird das nun aber anders und auch ziemlich merkwürdig. Denn es existiert (erscheint also in einem Sinnfeld) ja eine konkrete Verbindung zwischen Kugel a und Foto b, weil sie aus einer Erwartungsperspektive (bspw. der des Klägers) erkannt wird. Man erwartet (verdächtigt) also, dass dieses eine Foto zu jener konkreten Kugel gehört, was ja auch völlig logisch ist, denn Kugel a und Foto b zeigen keinerlei Unterschiede. Also existiert hier eine konkrete Verbindung, denn sie tritt ja auch tatsächlich in Erscheinung (nämlich als Abbild einer Kugel auf dem Foto). Nur dass diese Verbindung mit Gabriel nicht mehr das bedeutet, was sie eigentlich bedeuten müsste, nämlich eine nicht überprüfbare Verbindung. Welches Argument könnte hier nun entkräften, dass Kugel a und Foto b zusammengehören?

Das ganze nochmal in Kurzform: wenn vor Gabriels Tafel Kläger und Angeklagter sitzen und sie gefragt werden was dort an der Tafel ist, dann haben immer Kläger und Angeklagter zugleich recht, denn es existiert ja, was sie behaupten, weil es im jeweiligen Sinn eben so erscheint.

Soweit mein Blick über den Rand philosophischer Bücher. :-)




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Mo 14. Aug 2017, 05:40

Hallo Herr K, schön, dass du zu uns gefunden hast :) zunächst erstmal kopiere ich einen größeren Zusammenhang für das Zitat aus dem Buch Sinn und Existenz und zwar kommentarlos :) außerdem füge ich - mehr oder weniger wahllos - ein paar Absätze hinzu, damit die Schose leichter zu lesen ist:

"Es ist freilich nicht der Fall, dass es überhaupt keinen Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit bzw. Sein und Schein gibt. Der springende Punkt ist, dass sich dieser funktionale Unterschied ebenso gut auf eingebette Funktionen oder den Inhalt von Illusionen und Halluzinationen anweden lässt. [Das heißt, in dem Film das letzte Einhorn könnte es eine Halluzination des letzten Einhorns geben, mit einem weiteren Einhorn konfrontiert sein. JB]

Das aber heißt, dass Sein und Schein nicht zwei Welten oder zwei klar getrennte Bereiche bilden. Es handelt sich um funktionale Begriffe, die im Rahmen durchaus sehr unterschiedlicher Sinnfelder zur Anwendung kommen. Die Frage, ob etwas wirklich existiert, ist in manchen Zusammenhängen sinnvoll, aber es gibt keine sinnvolle allgemeine Frage, wie es um den Status der Wirklichkeit im Unterschied zum Schein bestellt ist – am allerwenigsten in der Form der Frage, wie sich eine tiefschürfende physische Wirklichkeit zu den bloß oberflächlichen sinnlichen Erscheinungen oder mentalen Bildern verhält. Daraus, dass vieles wirklich existiert, folgt nicht, dass genau eine Wirklichkeit existiert, die das Sinnfeld wäre, in dem alles Wirkliche erscheint. Das Wirkliche bildet keine metaphysische Wirklichkeit.

Es ist auch nicht so, dass fiktive Entitäten auf eine andere Weise ​als meine Kaffetasse existieren oder dass Institutionen und sonstige soziale Entitäten eine andere Form von Existenz darstellen als Moleküle. Es gibt keine Existenz- oder Seinsweisen, sondern vielmehr verschiedene Sinnfelder und Gegenstände, die in ihnen erscheinen. Dies schließt ein, dass es verschiedene Erscheinungsformen in dem Sinne gibt, dass ein Krug anders auf meinem Tisch erscheint als in Kleists Der zerbrochne Krug. Der Krug, den ich aus der Küche holen möchte, existiert zunächst in meinem Plan, ihn aus der Küche zu holen. Erfreulicherweise existiert er auch in meiner Küche, sodass die beiden Sinnfelder im Ereignis meines erfolgreichen Plans verschmelzen, den Krug aus der Küche zu holen. Die überlieferte Rede von Seinsweisen (modi essendi oder moderner »Existenzweisen«) klärt diese Rede in der Regel nicht weiter auf.

Gegenwärtig vertreten insbesondere Bruno Latour und John Searle eine Ontologie der Existenzweisen, wobei beide daran interessiert sind, die Annahme zu begründen, dass Tatsachen und Gegenstände auf verschiedene Weise generiert werden können.[22] Berge und Institutionen unterscheiden sich demnach nicht nur durch ihre Eigenschaften, sondern auch durch ihre Existenzweisen. Zwar gehen Latour und Searle im Einzelnen ganz andere Wege, allerdings definieren beide den Begriff der »Existenzweise« nicht näher. Dieser ist auch problematischer, als es auf den ersten Blick erscheint, da ein Modus traditionell eine adverbiale Qualifikation ist, sodass wir wieder in eine Adverbialontologie zurückzufallen drohen.

Gleichwohl kann man das Phänomen der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit auch in der Sprache einer Bereichsontologie erläutern, was Latour vorzuschweben scheint. Erinnern wir uns zunächst daran, dass Existenz keine Tätigkeit ist. Um noch einmal Austin über »sein« zu zitieren: »Das Wort ist ein Verbum, aber es beschreibt nicht etwas, was Dinge immerzu tun, wie atmen (nur leiser), wie das Ticken einer Uhr, aber auf metaphysische Art.«[23] Gegenstände existieren nicht in verschiedenen Formen, wenn dies heißen soll: auf verschiedene Weisen. Mein Tisch existiert nicht auf eine materielle Weise, während etwa das ​Restaurant in meiner Wochenendplanung in dieser Hinsicht auf eine imaginäre Weise existiert und Institutionen irgendwie ohnehin auf eine imaginäre Weise existieren. Adverbialontologien sind einfach zu unbestimmt und problematisch, um uns die soziale Wirklichkeit verständlich zu machen.

Folglich sollten wir bei einer Bereichsontologie bleiben. Doch dann handelt es sich bei den modi essendi wiederum entweder um Mengen, Gegenstandsbereiche oder Sinnfelder bzw. um was auch immer kompatibel mit der Tatsache ist, dass Existenz eine Bereichseigenschaft ist." (Markus Gabriel, Sinn und Existenz Seite 200ff)




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Mo 14. Aug 2017, 05:57

Herr K. hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 22:23
Fiktive Einhörner - so es diese denn gäbe, zusätzlich zu den Beschreibungen und Abbildungen von Einhörnern, die es unbestritten gibt - unterschieden sich doch von Einhörnern aus Fleisch und Blut in einigen nicht ganz unwesentlichen Punkten, nicht? Und falls so, hätten wir es dann nicht mit einem Homonym zu tun, d.h. einem Wort - hier "Einhorn" - das für zwei grundsätzlich unterschiedliche Begriffe stünde? Und wäre es dann nicht ziemlich hilfreich für ein weiteres Verständnis, wenn man da möglichst sauber unterscheiden würde?
Gabriel vertritt, wie allseits bekannt, eine pluralistische Ontologie. Das heißt, den Punkt der Verschiedenheit macht er gerade stark, er würde ihn niemals einziehen. Falls es im Bereich der Biologie Einhörner gäbe, dann würde Gabriel sicherlich stark machen, dass sie sich sehr von Einhörnern in der Literatur unterscheiden. Oder: Micky Mäuse, Computermäuse und Feldmäuse können verschiedener kaum sein :) dass verschiedene Dinge in verschiedenen Bereichen verschiedene EigenschaftsPakete haben, bedeutet jedoch nicht zugleich und automatisch, dass es verschiedene Seinsmodi gibt. Das ist nicht synonym.

Noch mal, Gabriel leugnet nicht, dass Zahlen anders sind als Steine, er leugnet auch nicht, dass Vulkane etwas ganz anderes sind als Fantasien und er leugnet ebensowenig, dass Opern etwas anderes sind als Comics. Die Unterschiede sind im wichtig, deshalb heißt auch eines seiner letzten Bücher "Ich ist nicht Gehirn". :) Aber das ist natürlich ein anderes Thema ;)




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Mo 14. Aug 2017, 06:13

iselilja hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 22:52
Nehmen wir mal an, ein Verteidiger sagt vor Gericht "Es gibt (existiert) keinen Beweis für die Schuld meines Mandanten." Inwiefern wäre es sinnvoll hier nun als Kläger zu offerieren, dass dies eine Frage des Sinnfeldes ist, ob es den gibt oder nicht? :-)
Eine Ansicht ist nach Gabriel dann wahr, wenn sie den Tatsachen entspricht, Gabriel ist keineswegs der Ansicht, dass wahr ist, was immer jemand glaubt :) du interpretierst Gabriel als Relativist, aber das ist er nicht.

Gabriel ist z.b. der Ansicht, dass es Sinnfelder, in denen man berechtigterweise von Schuld und Sühne sprechen kann, tatsächlich gibt. Das ist für Richter äußerst praktisch, denn sie müssen nicht annehmen, dass sie in Wahrheit biologische Maschinen vor sich haben, bei denen die Rede von Schuld überhaupt keinen Sinn ergibt. Mit anderen Worten, Gabriels Ontologie liefert eine Begründung dafür, warum im Gerichtssälen Tatsachen verhandelt werden.




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Mo 14. Aug 2017, 12:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 14. Aug 2017, 06:13
iselilja hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 22:52
Nehmen wir mal an, ein Verteidiger sagt vor Gericht "Es gibt (existiert) keinen Beweis für die Schuld meines Mandanten." Inwiefern wäre es sinnvoll hier nun als Kläger zu offerieren, dass dies eine Frage des Sinnfeldes ist, ob es den gibt oder nicht? :-)
Eine Ansicht ist nach Gabriel dann wahr, wenn sie den Tatsachen entspricht, Gabriel ist keineswegs der Ansicht, dass wahr ist, was immer jemand glaubt :) du interpretierst Gabriel als Relativist, aber das ist er nicht.

Gabriel ist z.b. der Ansicht, dass es Sinnfelder, in denen man berechtigterweise von Schuld und Sühne sprechen kann, tatsächlich gibt. Das ist für Richter äußerst praktisch, denn sie müssen nicht annehmen, dass sie in Wahrheit biologische Maschinen vor sich haben, bei denen die Rede von Schuld überhaupt keinen Sinn ergibt. Mit anderen Worten, Gabriels Ontologie liefert eine Begründung dafür, warum im Gerichtssälen Tatsachen verhandelt werden.
Ich glaube, an dieser Stelle hast Du mich falsch verstanden oder ich habe mich ungeschickt ausgedrückt.

1.) Die Behauptungen, die ich exemplarisch vorgestellt habe, sind ja nicht rein fiktiv oder halluziniert, sie sind logisch nachvollziehbar und können auch von anderen Personen anerkannt werden. Nämlich genau dann, wenn sie dieselbe Erwartungsperspektive haben. Wenn Person X sich auf die Seitenkanten der Quadrate bezieht und Person Y sich auf die Quadrate bezieht, halluziniert weder X noch Y. Das meint Gabriel genau so und es ist auch richtig - nur das sich dadurch eben Komplikationen im Weiteren ergeben, die unter einer rein ontologischen Betrachtungsweise noch nicht zu Tage treten. Bspw. die Frage, was nun eigentlich die Ursache dafür ist, dass dort Quadrate/Seitenkanten/etc. sind.

2.) Das ergibt sich jetzt praktisch aus 1.) Gabriel würde sagen, Geglaubtes existiert nicht, da es ja auchnicht in Erscheinung tritt. Und darin würde ich ihm auch zustimmen. Das reicht aber nicht. Weil nämlich zwei Aussagen, die im Sinne Gabriels sich auf etwas Existierendes beziehen verschieden sein können, ohne dass Gabriel hierbei die Notwendigkeit erkennt, dass diese Verschiedenheiten sich in einer wesensbestimmenden Weise irgendwo treffen müssen. Es muss sozusagen eine Grundlage geben, warum a) beide Aussagen richtig sind, aber b) nur eine davon relevant für die Betrachtung ist. Die Juristik könnte m.E. mit Gabriels Ausführungen nichts anfangen, weil nämlich Beweistück a) die Unschuld beweist und Beweisstück b) die Schuld des Angeklagten. Beide Beweise existieren lt. Gabriel.

ps: Ganz einfaches Beispiel: Person P wird angeklagt. Verteidiger von P gibt an, dass nicht P die Tat begangen hat, sondern die Moleküle von P's Hand. Sie müsse also betraft werden, nicht P, da nur jene Moleküle im Sinnfeld Tathergang anwesend waren. Im Sinne Gabriels existiert hier nun also ein Tathergang mit P und ein Tathergang mit P's Hand.

Genau hier entsteht m.E. das Problem. Es gibt nämlich dann nach Gabriel immer eine unbestimmte Menge an Wahrheiten, die zudem auch noch konträr sein können. (A und nicht A) wäre nach Gabriel kein logischer Widerspruch mehr.
Zuletzt geändert von iselilja am Mo 14. Aug 2017, 13:26, insgesamt 1-mal geändert.




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iselilja
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Mo 14. Aug 2017, 13:18

In Grunde läuft die sog. Sinnfeldontologie auf die simple und ohnehin längst anerkannte Aussage hinaus: "Eine Sache kann so aber auch so verstanden werden." Gabriels Versuch, darin nun den Existenzbegriff zu fixieren (praktisch aus dem "kann" ein allgemeingültiges "ist so" zu machen), erscheint mir höchst problematisch.




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Herr K.
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Mo 14. Aug 2017, 14:52

Um meinen Einwand nochmal mit anderen Worten zu wiederholen: meiner Ansicht nach ist es genau genommen falsch, zu sagen, im Film "Das letzte Einhorn" kämen Einhörner vor, in Kleists "Der zerbrochene Krug" ein Krug oder in Shakespeares Macbeth 3 Hexen. Und zwar unabhängig davon falsch ob man denn meinte, dass fiktive Entitäten existierten oder dies nicht meinte. Was es im Film "Das letzte Einhorn" gibt, sind Beschreibungen von Einhörnern, in "Der zerbrochene Krug" gibt es Beschreibungen eines Kruges, in Macbeth gibt es Beschreibungen von Hexen. Jedoch Beschreibungen von Einhörnern, Krügen und Hexen sind nicht Einhörner, Krüge bzw. Hexen, so wie auch die Abbildung einer Pfeife keine Pfeife ist.

Anders ausgedrückt: es gibt zwar in den obigen Beispielen Referenzen auf Einhörner, einen Krug und auf 3 Hexen, aber daraus folgt nicht, dass das, worauf referenziert wird, auch existiert. Jedoch wenn es existierte, bzw. man meinte, dass fiktive Entitäten existierten, dann käme man mE nicht umhin, diesen eine andere Existenzweise zuzuordnen als wirklichen Einhörnern, Krügen und Hexen. Denn fiktive Entitäten wären nicht konkret, sondern abstrakt, d.h. sie wären nicht in Raum und Zeit verortbar. Und abstrakte Entitäten können kein Fell haben, kein Horn auf der Stirn, keine 4 Beine, sie können nicht leben und sterben, sie können keine Flüssigkeit enthalten, sie können nicht zaubern etc.

Ich selber meine nun nicht, dass fiktive Entitäten existieren, im Gegenteil wäre die Feststellung "x ist fiktiv" oder "x ist nur ausgedacht" für mich eine Bestätigung der Nicht-Existenz von x, d.h. ich habe kein Problem mit Referenzen, die ins Nichts zeigen.

Aber wenn man denn meinte, dass fiktive Entitäten existierten, dann wäre es ziemlich fahrlässig, weil höchstgradig missverständlich, zu behaupten, dass z.B. Einhörner existierten. Denn in dem Falle würden lediglich fiktive Einhörner existieren. Und den zumindest in vielen Fällen gravierenden Unterschied zwischen lediglichen Behauptungen und tatsächlichem Geschehen verwischen zu wollen finde ich nicht nur faktisch falsch, sondern auch ziemlich gefährlich. Ob z.B. jemand tatsächlich ein Terrorist ist oder ob lediglich behauptet wird, dass er Terrorist sei, er also nur ein fiktiver Terrorist wäre, macht mE einen durchaus wesentlichen Unterschied.




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iselilja
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Mo 14. Aug 2017, 17:33

Her K. hat geschrieben : Ich selber meine nun nicht, dass fiktive Entitäten existieren, im Gegenteil wäre die Feststellung "x ist fiktiv" oder "x ist nur ausgedacht" für mich eine Bestätigung der Nicht-Existenz von x, d.h. ich habe kein Problem mit Referenzen, die ins Nichts zeigen.
So in etwa würde ich es auch verstehen. Man könnte wohlwollend noch ergänzen, dass Einhörner eben als Fiktion (die Fiktion existiert ja im Grunde als Gedanke/Vorstellung) existieren, weil sie ja ihrem Wesen nach Fiktionen sind.

Wie Gabriel das genau einordnen würde, geht aus dem Video nicht so wirklich umfassend hervor.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:59
Es gibt nach seiner Ansicht eben gerade keinen allumfassenden Charakter. Das ist ja der Hauptpunkt, den Gabriel machen will.
Meine Bemerkung galt Deiner Aussage, man müsse den Begriff der Regel bei Gabriel sehr breit fassen (von der Physik bis zum Bundestag). Da stößt man sich dann irgendwann, an Gabriels eigenen antimetaphysischen Prämissen.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 06:59
Übrigens... dass man Ordnungen manchmal nicht zur Gänze durchschauen kann und dass diese Ordnung sich auch in Veränderung befinden, heißt nicht, dass es sie nicht gibt.
Ist soweit klar.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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