"Fiktionen"

Markus Gabriel (* 6. April 1980 in Remagen) ist ein deutscher Philosoph. Er lehrt seit 2009 als Professor an der Universität Bonn.
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Zu existieren heißt, in einem Sinnfeld zu erscheinen. An die Sinnfeldontologie, die Markus Gabriel in Sinn und Existenz als eine realistische Ontologie entwickelt hat, schließt sich in den Fiktionen nun eine Fortsetzung an mit dem Ziel einer "realistischen Theorie der Fiktionalität". Zu dieser Theorie in einem implikativen Verhältnis steht Gabriels Vorhaben einer Fundamentierung der "Objektivität der Geisteswissenschaften". Ging es in Sinn und Existenz um die Rehabilitierung der Wirklichkeit als tatsächliche Gegebenheit gegenüber einer Konstruktion von Wirklichkeit, etwa als eine solche des Bewußtseins, rückt Gabriel in Fiktionen u.a. die Einbildungskraft des Menschen in den Fokus seiner Überlegungen zur humanen "Selbstbildfähigkeit". Für die Selbstbestimmung des Menschen bedeutsam ist die "anthropologische Zentralstellung der Einbildungskraft"; sie vor naturalistischen Zugriffen zu bewahren ist eines der Anliegen Gabriels in den Fiktionen. -

Gegen die tradierte Metaphysik mit ihrer Unterscheidung von Sein und Schein erhebt Gabriel den Vorwurf, sie habe damit gleichsam eine Zwei-Klassen-Gesellschaft etabliert: während sie dem Sein Existenz attestiert, wird der Schein in die Klasse des Nicht-Existierenden verschoben. Auf dieser "verdrehten Differenz von Sein und Schein" beruht das, was Gabriel "Zeitgeist" nennt. Dabei ist nicht an ein flüchtiges Oberflächenphänomen zu denken, sondern an ein sedimentiertes Ensemble von Haltungen, die sich als "die jeweils geltende Konstellation eines Scheins, der gewisse Fehlschlüsse und Ungereimtheiten legitimiert, die sich bei genauerem philosophischen Hinsehen auflösen", erweisen. Die Aufgabe der Philosophie sieht Gabriel dann darin, "den Zeitgeist zu erfassen, um ihn zu kritisieren". (Fiktionen; S. 17)

Der Schein wird aber zu Unrecht in die niedere Klasse der Nicht-Existenz verlagert, denn er wird damit "in seiner eigentümlichen Wirksamkeit" invisibilisiert. "Der Schein ist Sein", d.h. die in der Metaphysik gefürchtete Täuschung macht es allererst möglich, Wahrheit zu erfassen. "Wir entrinnen der Wirklichkeit nicht dadurch, dass wir uns täuschen oder getäuscht werden. Denn das Wirkliche ist dasjenige, zu dem wir nicht erfolgreich auf Abstand gehen können. Jeder Fluchtversuch scheitert hier daran, dass wir uns mitnehmen, dass also dasjenige, dem wir zu entkommen suchen - die Wirklichkeit - durch unsere Einbildung allenfalls verändert wird. Kein Gedanke und keine Tätigkeit bringen sie zum Verschwinden." (17)




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Der vorherrschende Naturalismus, der den Menschen als freies, geistiges Wesen in Frage stellt, macht sich noch eines weiteren Reduktionismus schuldig. Wenn alles Natur ist, geraten schließlich auch das Bewußtsein, der Geist, die Subjektivität in den Verdacht, lediglich neuronal verursachte Illusionen zu sein. "An deren Stelle soll [dem Naturalismus zufolge] die Einsicht treten, dass nur dasjenige wirklich existiert, was eindeutig Gegenstand einer kausalen, experimentellen Intervention ist. Dass sich etwas naturwissenschaftlich messen läßt, wird zum metaphysischen Kriterium seiner Wirklichkeit." (Fiktionen; S. 18) -

Unter dem Einfluß dieses naturalistisch geprägten Weltbildes, schlagen sich auch Vorrangigkeiten bei der Förderung im akademischen Betrieb nieder, die in der Philosophie eine für ökonomische Erfolge - etwa im Zuge der Digitalisierung der Lebenswelt - belanglose Veranstaltung sehen. Die Krise des philosophischen Wissens lastet Gabriel jedoch nicht allein den wissenschaftspolitischen Entscheidungsträgern an:

"Vielmehr trägt die überzogene - im kurzen historischen Zeitfenster derˋPostmoderne´ praktizierte - Selbstanwendung der Ideologiekritik auf die in ihr geübten Disziplinen eine nicht unerhebliche Verantwortung dafür, daß das geistes- und sozialwissenschaftliche Wissen unter zunächst fachintern epistemologischen und dann öffentlichkeitswirksamen sozioökonomischen Druck gerät." (S. 19) -

Damit werden indirekt die Naturwissenschaften in ein günstiges Licht gerückt, weil sie sich mit dem "Respektstitel der Objektivität" schmücken können, derweil den Geistes- und Sozialwissenschaften der Verdacht des Relativen, Beliebigen, Subjektiven ... anhaftet. - "Aus diesem Grund ist es dringend geboten, an die diskursive Formation anzuknüpfen, welche die Philosophie mit den Geistes- und Sozialwissenschaften bis vor kurzem einte und dazu aufforderte, die Fehlerquellen des Zeitgeistes aufzuspüren, sie mit den dazu zur Verfügung stehenden Methoden zu beschreiben und zu erklären. Denn der entfesselte natur- und technowissenschaftliche Fortschritt führt ohne diese Form der Reflexion nicht zu irgendeiner automatisch sich einstellenden, angemessenen Haltung im Umgang mit den innovativen sozio-ökonomischen Mitteln." (20)

Gabriel gibt an dieser Stelle einen Hinweis auf den "Zusammenhang von Physik und Atombombe" und vor dem Hintergrund der "digitalen Revolution" hält er eine durch die Philosophie angeleitete und begleitete, öffentliche Debatte über die vom Zeitgeist als unvermeidlich inszenierte Digitalisierung für notwendig. Sein Fazit: "Die sowohl naturalistische als auch postmoderne Selbstbeschädigung der modernen Subjektivität muß überwunden werden." (S. 21) -




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Fr 10. Jul 2020, 13:38

Im Netz gibt es eine Leseprobe der Fiktionen, die allerdings gerade mal 28 Seiten umfaßt:

https://books.google.de/books?id=tJW2Dw ... &q&f=false




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Markus Gabriel fühlt sich in Fiktionen einer humanistischen Leitversion des Menschen verpflichtet. "An die Stelle einer Unterteilung einer vermeintlichen Gesamtwirklichkeit in Geist und Welt, Repräsentation und Verursachung, Sein und Sollen, Kultur und Natur, System und Umwelt usw. tritt in diesem Buch eine humanistische Unhintergehbarkeitsthese. Dieser zufolge ist der Mensch als geistiges Lebewesen die unhintergehbare Ausgangslage jeder ontologischen Untersuchung." (S. 22) -

Gabriel benennt auch den Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften: "Was sie erforschen, ist der hier vorgeschlagenen Bestimmung zufolge die Art und Weise, wie Menschen ihr eigener Standpunkt erscheint. Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften ist der Mensch in seiner historisch variablen, synchron und diachron ungeheuer ausdifferenzierten Selbstbildfindung." (S. 22) -

Nicht nur die naturalistische und postmoderne Selbstbeschädigung der modernen Subjektivität muß überwunden werden, sondern auch der "handelsübliche Naturalismus". Seine systematische Überwindung ist "eine wesentliche Aufgabe der modernen Philosophie". (S. 22) -

Gabriel möchte der "Verfransung der wissenschaftlichen Tätigkeit" entgegenwirken und setzt dabei auf das Moment des interdisziplinären Zusammenwirkens der Wissenschaften. Der gemeinsame Gegenstand dabei ist der Standpunkt des Menschen. - Grundlage aller wissenschaftlichen, methodisch geleiteten Wahrheitsansprüche soll eine "kohärente Ontologie und Erkenntnistheorie" sein, "die einer entsprechenden Anthropologie und Philosophie des Geistes zugrunde liegt." (S. 23) - "Nur auf einer solchen Grundlage läßt sich ein transdisziplinäres Format legitimieren, dem es nicht nur um den Transfer der Grundlagenforschung in die Wirtschaft geht, sondern dessen Ziel Selbsterkenntnis und damit der potenzielle moralische Fortschritt der Menschheit ist, dem aller naturwissenschaftlich-technische Fortschritt untergeordnet werden muß, wenn er nicht auf kurz oder lang zur vollständigen Selbstvernichtung unserer Lebensform führen soll." (S. 23f) -




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Fr 10. Jul 2020, 18:42

Die Ontologie versteht Gabriel als eine philosophische Untersuchung, die sich mit Fragen der Existenz beschäftigt in der Hinsicht ob etwas existiert und worin diese Existenz besteht. Dieser Frage nach der Existenz kontrastiert Gabriel die Frage nach dem, was nicht existiert als ein "Prüfstein" der Ontologie und nennt ihr Kontrastmittel "Meontologie" (me = altgr. Präfix der Verneinung). "Erst wenn ein begrifflicher Rahmen feststeht, der erlaubt, ein nachvollziehbares Modell zur Entscheidung von Existenzfragen vorzulegen, kann der ontologische Status des Scheins in seiner Beziehung zur Nicht-Existenz bestimmt werden. Dafür wird im Folgenden der Begriff der Fiktionen mobilisiert. Wir bedürfen einer ontologisch verbesserten Fiktionalitätstheorie, um dem Umstand Rechnung zu tragen, daß sich das geistige Leben des Menschen in Dimensionen vollzieht, die weit über unsere Anwesenheit in sensorischen Reizszenen hinausreichen. Fiktionen sind Vollzüge im Raum dieser Transzendenz." (24)

"Genauer sind Fiktionen mentale Ereignisse in den Zwischenräumen unserer Bezugnahme auf Gegenstände in Szenen unseres Lebens. Wir setzen uns in jedem Augenblick unseres bewußten Lebens in Szene. [...] Die von uns wahrgenommene Wirklichkeit trägt in dieser Hinsicht jeweils unsere Signatur." (S. 24f.) -




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Fr 10. Jul 2020, 19:09

Fiktionale Gegenstände sind von fiktiven Gegenständen zu unterscheiden.

"Fiktionale Gegenständesind im Allgemeinen Gegenstände, auf die wir uns im Modus ihrer Abwesenheit beziehen. Sie sind gegenwärtig präsent, weil wir unsere Wahrnehmungsepisoden nicht nur als mentalen Fluß, sondern als mehr oder weniger stabil eingerichtet erleben, was bedeutet, daß wir über dasjenige hinausgehen, was uns jeweils direkt im Modus der Anschauung als Wirkliches zugänglich ist. Nicht alle fiktionalen Gegenstände sind auch fiktiv, d.h. Gegenstände ästhetischer Erfahrung, die wesentlich im Modus der Interpretation existieren." (S. 25f) -

"Fiktive Gegenstände sind aufführungsabhängig: Wie sie sind, hängt wesentlich davon ab, wie wir sie uns vorstellen, was allerdings, wie wir noch sehen werden, nicht bedeutet, daß es keine objektiven Kriterien dafür gibt, wie wir sie uns vorstellen sollen. Der relevante Kontrast von Fiktion und Wirklichkeit besteht darin, daß fiktive Gegenstände im Unterschied zu den nicht-fiktiven fiktionalen Gegenständen die Lücken unserer Wahrnehmung sozusagen nicht von selbst ausfüllen. Was beispielsweise zwischen zwei Szenen eines Films, in denen uns Handlungen einer Filmfigur gezeigt werden, geschieht, wird durch die ästhetische Erfahrung ausgefüllt, d.h. durch Ausübungen unserer Einbildungskraft." (S. 26)

"Fiktive Gegenstände sind eine Unterart fiktionaler Gegenstände. Diese spalten sich in fiktive und imaginäre auf. Wohlgemerkt sind nicht alle intentionalen Gegenstände, d.h. nicht alle Gegenstände einer wahrheitsfähigen Bezugnahme, fiktional. Die Gegenstände der direkten Wahrnehmung sind zwar intentional (sie sind uns auf eine bestimmte Art und Weise sinnesspezifisch gegeben), aber nicht fiktional, wenn wir sie ohne fiktionale Anteile unseres mentalen Lebens auch nicht wahrnehmen könnten." (S. 26f.) -




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Fr 10. Jul 2020, 19:34

Vom "moralischen Fortschritt der Menschheit" war gerade schon die Rede. Gabriel konkretisiert diesen "moralischen Fortschritt" dann am Beispiel der "zunehmenden Herrschaft sozialer Medien über unser Selbstportrait" und knüpft an den frühen Jürgen Habermas an, der in seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit die in der Moderne möglichen Formate des öffentlichen Diskurses für eine an Emanzipation orientierte Sozialphilosophie ausgelotet hatte. Die Selbstobjektivation, die durch die heutigen sozialen Möglichkeiten an Fahrt gewonnen hat, untersucht Gabriel "in Gestalt der These von der Öffentlichkeit des Geistes, die erlaubt, die paradigmatisch von Jürgen Habermas diagnostizierte Dialektik der Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen, um so das emanzipatorische Potenzial einer Widerrede gegen die Digitalisierung unserer selbst freizulegen." (28) -

Das "eleatische Rätsel der Nicht-Existenz" ist nach Gabriel der Auslöser der Unterscheidung von Sein und Schein. Vermutlich handelt es sich bei diesem Rätsel um eine Bezugnahme auf den Sophistes von Platon, in dem es bekanntlich um die Unterscheidung von Sein und Nichtsein geht. "Dieses Rätsel ergibt sich daraus, daß wir imstande sind, wahrheitsfähige (also wahre oder falsche) Aussagen über Gegenstände zu treffen, von denen wir gleichzeitig glauben, daß sie nicht existieren. Wir können demnach Wahres über solches konstatieren, was nicht existiert." (S. 28)




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Fr 10. Jul 2020, 20:03

Siebte Duineser Elegie: "Hiersein ist herrlich". -




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Fr 10. Jul 2020, 20:08

Auf diese Duineser Elegie bezieht sich Gabriel vermutlich, wenn er das Hiersein als Bezeichnung wählt für "das in Ausübungen der Einbildungskraft gründende Gefüge der Subjektivität und Intersubjektivität". (32) -




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Jörn Budesheim
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Di 14. Jul 2020, 11:51

kultur-port.de hat geschrieben : In einer auffallend schönen Ausgabe ist im Suhrkamp-Verlag das neue und sehr umfangreiche Buch von Markus Gabriel erschienen, dem produktiven Jungstar der deutschen Philosophie.

Wie viele Wissenschaftler erhalten schon mit 29 Jahren einen Lehrstuhl? Dafür muss man außergewöhnlich begabt sein, viel Glück haben und sicherlich noch mehr arbeiten. Als Folge ist einem das Interesse der Öffentlichkeit gewiss, besonders dann, wenn man sich nicht zu schade ist, populär zu schreiben. Und was sollte auch falsch daran sein, Fernsehserien anzusprechen, gelegentlich ein wenig herumzuwitzeln und etwas onkelhaft dieses und jenes zu erklären? Schließlich verfügt Gabriel wirklich über die Fähigkeit, merkwürdiges Deutsch, etwa von Heidegger, in verständliche Sätze zu übertragen.

...

https://www.kultur-port.de/kolumne/buch ... ionen.html




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Di 14. Jul 2020, 19:57

Ich lese die Fiktionen von Markus Gabriel mit Gewinn. Und selbstverständlich gebührt dem Autor Anerkennung und Respekt. Und selbstverständlich ist die akademische Karriere, auf die er bereits jetzt zurückblicken kann, außergewöhnlich. Und selbstverständlich ist Stefan Diebitz, dem Rezensenten der Fiktionen für "Kultur-PORT" darin zuzustimmen, daß Markus Gabriel der "produktive Jungstar der deutschen Philosophie" ist.

Und selbstverständlich erwartet man nach so viel Selbstverständlichkeiten wohl ein "Aber".

Um dieses "Aber" nicht schuldig zu bleiben: Aber es tut nichts zur Sache, daß ich mein "Aber" noch zurückhalte. Aber vielleicht nicht auf Dauer. ;)




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Jörn Budesheim
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Di 14. Jul 2020, 20:07

Die Rezension ist etwas... wie soll man sagen?... seltsam.




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Di 14. Jul 2020, 20:46

Die im Philosophischen Jahrbuch geführten Kontroversen sind etwas weniger "seltsam". -




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Mi 15. Jul 2020, 17:03

Im ersten Teil der Fiktionen geht es Gabriel darum, einen "fiktionalen Realismus vorzulegen":

Gabriel will "dafür argumentieren, daß die Kategorie der sogenanntenˋfiktionalen Gegenstände´ nicht wohlgeformt ist." Denn es seien zwei Gegenstandstypen zu unterscheiden: der "hermeneutische Gegenstand" und der "metahermeneutische Gegenstand" (vgl. S. 58) -

Der hermeneutische Gegenstand "existiert im Medium der ästhetischen Erfahrung"; Gabriel schließt sich dabei an Rüdiger Bubners Verständnis der ästhetischen Erfahrung an. Bubner hatte in Ästhetische Erfahrung die Funktion der ästhetischen Erfahrung "vor dem Hintergrund komplexer Alltagsfunktionen in der Eröffnung des außergewöhnlichen und unerwarteten Bereichs völliger Funktionslosigkeit" gesehen (S. 151). Der hermeneutische Gegenstand "ist dasjenige, was wir uns anläßlich der Aufführung eines bestimmten, etwa literarischen Kunstwerks vorstellen." (S. 58) - Solche Vorstellungen hängen wiederum von uns als Interpreten ab.

"Der metahermeneutische Gegenstand unterscheidet sich vom hermeneutischen dadurch, daß wir seine Materialität in Betracht ziehen können, die als sinnliche Seite der Kunst bei geeigneten Rezipienten ästhetische Erfahrungen auslöst, die mitsamt der Materialität des Werks mit den Methoden der historischen Geisteswissenschaften, der Sozialwissenschaften, Linguistik, Psychologie usw. untersucht werden können." (S. 58f.) -

Die ästhetische Erfahrung ist an das Moment der "Vorführung" gebunden. "Was vorgeführt wird hängt wiederum von einer materialen Architektur ab, von der sinnlichen Seite des Werks, die ich als Partitur bezeichne." (S. 59) -

Die ästhetische Erfahrung ist "konstitutiv individuell", da jede Interpretation immer von einem Individuum vorgenommen wird mit eigener "psychosozialen Lage". Die Gegenstände der ästhetischen Erfahrung bezeichnet Gabriel als "fiktive Gegenstände". Ihre Interpretation ist jedoch nicht einer Beliebigkeit anheimgestellt, weil der metahermeneutische Gegenstand zwar einen "offenen Rahmen der Vorstellbarkeit" entwirft, diesen Rahmen aber dennoch begrenzt. - Diesen offenen und begrenzten Raum nennt Gabriel "Spielraum" (S. 61) -

An dieser Stelle verweist Gabriel wohlwollend auf "differenziertere [...] klassische Beiträge" - im Gegensatz zu "jüngeren Beiträgen in der Literaturwissenschaft" - in dem Sammelband Poetik und Hermeneutik X, "Funktionen des Fiktiven" hrsg. von Wolfgang Iser und Dieter Henrich hin. (S. 61, Fußnote 9) -




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Mi 15. Jul 2020, 17:56

Der "Spielraum" hat es schon angedeutet: Es folgt der erste von mehreren Rückgriffen Gabriels auf die Theorie der Unbegrifflichkeit von Blumenberg:

"Den Ursprung der Fiktionalität verorte ich im Folgenden in unserer fundamentalen Fähigkeit, das sensorisch unmittelbar Präsente zu überschreiten und als Teil von Kontexten wahrzunehmen, die wir begrifflich ansprechen können, ohne dabei ostentativ bzw. indexikalisch auf unsere unmittelbare Reizumgebung Bezug zu nehmen. Hierbei folge ich Blumenbergs Erinnerung daran, daß Begriffe aus Distanz entspringen und nicht so, wie man sich gerne den Taufakt der Benennung vorstellt, d.h. unter Hinweis auf etwas Augenscheinliches, das einer geteilten Reiz-Rekations-Szene angehört. Man bildet den Begriff des Löwen nicht, wenn dieser nah genug ist, um gefährlich zu sein, sondern unter den existentiell abgesicherten Bedingungen einer Besprechung in der Höhle. Der gemalte Löwe ist also eine paradigmatische Begriffsprägung, so daß wir unsere begrifflichen Fähigkeiten mit unserer Transzendenz über das sinnlich Unmittelbare in Verbindung bringen müssen, was offenläßt, ob dies - wie Hegel meint - unsere Animalität überschreitet oder - wie Blumenberg dagegenhält - ein Nachhall einer evolutionär bedingten, anthropologischen Urerfahrung ist. Mit Blumenberg ist jedenfalls festzuhalten, daß der Begriff es erlaubt,

ˋLücken im Erfahrungskontext festzustellen, wie er auf das Abwesende bezogen ist - aber nicht nur, um es anwesend zu machen, sondern auch, um es abwesend sein zu lassen. Immer wieder muß gesagt werden, daß über etwas zu sprechen, was nicht wahrgenommen wird und gegeben ist, die eigentliche geistige Leistung ausmacht.´ (Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 76)

[...]

Unsere begrifflichen Fähigkeiten entwickeln sich historisch im Raum dieses Abstands, der von uns seit mythologischen, unvordenklichen Zeiten mit als solchen nicht durchschauten fiktionalen Gegenständen bevölkert wird, die von Mythen bis zu den statistischen Fiktionen der heutigen sozio-ökonomischen Sphäre reichen ..." (S. 63f.)

Wie man sieht, erstreckt sich das Verhältnis der "Dienstbarkeit" der Metaphorologie - hier in der modifizierten Form der Theorie der Unbegrifflichkeit - nicht allein auf die begriffsgeschichtlichen Ambitionen Ritters, sondern tut auch dem fiktionalen Realismus Gabriels noch gute Dienste. -

Auch scheint der Raum, in dem sich die "begrifflichen Fähigkeiten" des Menschen als Wesen der actio per distans entwickeln, ein Raum der Arbeit am Mythos zu sein, denn er ist "bevölkert [mit] als solchen nicht durchschauten fiktionalen Gegenständen", wozu Gabriel auch die "Mythen" rechnet. -




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Jörn Budesheim
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Burkart hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 23:14
Darf dein Computer noch "SInne", also Eingaben von der Welt haben wie durch eine Kamera u.ä.?
So stellt man sich ja als aufgeklärter und moderner Mensch die Wahrnehmung vor. Im Prinzip etwas "mechanisches", wie eben bei einer Kamera. Vorne kommt etwas Input rein, im Gehirn wird etwas verarbeitet 010101... und dann geht irgendwo innen das Licht an. Wäre es so, dann würde man wahrscheinlich noch viel schlimmer als diese Fußballroboter durchs Leben stolpern.

Aber so liegen die Dinge ja nicht. Wir haben schließlich keine (egal wie schnelle) Aneinanderreihung von Bildern und Tönen etc. vor uns, sondern Erlebnisse. Wir erleben unsere Umwelt nicht als ein Bilder- und Tonrattern, sondern in aller Regel als einem sinnhaften, verständlichen Zusammenhang. Um unseren wirkliches Erleben zu erklären, reicht der Input, den wir jeden Augenblick erleben, in der Regel überhaupt nicht hin. Ich schaue jetzt z.b. gerade aus dem Fenster und frage mich, wie ich einen der Gedanken des Buches am besten darstellen kann.

Dabei fällt mein Blick auf den Schreibtisch vor mir: Stapel von Brettern, Blöcken und Papier, verschiedene Flaschen, Schwämme, Stifte, Pinsel et cetera. Reicht dieser Input allein für das Erlebnis "ich bin zu Hause in meinem Atelier-Zimmer"? Ich schätze nicht. Dieses Zimmer macht schließlich vielmehr aus. Das Meiste davon liefert in diesen Moment gar keinen Input, z.b. weil es jenseits meines Blickfeldes ist, oder einfach schlichtweg, weil es gar nicht vorhanden ist. Das Zimmer besteht ja nicht nur aus dem Jetzt-Zustand. Dass irgendwo unsichtbar in diesem Stapel das Buch liegen muss, das ich schon seit Tagen suche, gehört auch dazu. Verglichen mit all dem, was man Atelier-Zimmer ausmacht, ist der Input, den ich gerade empfange, nachgerade spärlich. Und auch wenn ich nichts davon sehe, "spüre" ich, dass hinter mir nach wie vor ein Zimmer ist. Die Geräusche, die ich dabei höre, die aus der Küche kommen, helfen dabei natürlich. Nichtsdestotrotz reichen die "Eingaben der Welt" im Augenblick bei weitem nicht hin, um die Welthaftigkeit und Vertrautheit des "Zuhause" zu erklären.

Diese "Lücken", die wir ja nicht als "Lücken" erleben, werden auf verschiedenste Art und Weisen "gefüllt". In jeden Augenblick "investieren" wir, zumeist natürlich unbewusst, sehr viel "Fantasie" (oder wie immer wir es nennen wollen), damit er das welthafte Erlebnis ist, was er in der Regel ist.

Beim Betrachten mancher Zeichnungen können wir dieses Sehen sehen, wenn wir darauf achten. Mit wenigen Linien gelingt es dem Künstler, so stellen wir uns vor, eine Szenerie heraufzubeschwören. Aber der Künstler und die Zeichnung kommen nicht ohne uns zurecht, wir sind die Partner, die das Fehlende entweder automatisch oder auch deutend ergänzen.




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Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 20:46
Die im Philosophischen Jahrbuch geführten Kontroversen sind etwas weniger "seltsam". -
Auch dort gibt es das ein oder andere seltsame. Aber insgesamt ist das natürlich ein sehr interessantes Buch gewesen.




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Nauplios hat geschrieben :
Fr 10. Jul 2020, 20:08
Auf diese Duineser Elegie bezieht sich Gabriel vermutlich, wenn er das Hiersein als Bezeichnung wählt für "das in Ausübungen der Einbildungskraft gründende Gefüge der Subjektivität und Intersubjektivität". (32) -
Die Rilke-Zeile "Hiersein ist herrlich" taucht in den Reden und Texten von Gabriel regelmäßig auf, mal trägt er eine längere Sequenz vor, mal nur diese drei Worte und in diesem Buch sogar nur den Ausdruck "Hiersein". Das ist natürlich zugleich eine Abgrenzung gegen Martin Heidegger und dessen Dasein.

Die Wahl dieses Ausdrucks ist natürlich Programm. Er wendet sich (einfach gesagt) gegen das naturalistische Selbstmissverständnis, demgemäß wir uns eigentlich richtigerweise nur über die unendlichen Weiten des Weltalls als unbedeutend bestimmen können. (Schweine im Weltall!) Quine hat dafür den Ausdruck des "kosmischen Exils" erfunden, den Gabriel in diesem Zusammenhang gerne zitiert.




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Mi 15. Jul 2020, 21:11

Nauplios hat geschrieben :
Fr 10. Jul 2020, 18:42
Dieser Frage nach der Existenz kontrastiert Gabriel die Frage nach dem, was nicht existiert als ein "Prüfstein" der Ontologie und nennt ihr Kontrastmittel "Meontologie" (me = altgr. Präfix der Verneinung).
Eines der Hauptergebnisse der Sinnfeld-Ontologie, die Markus Gabriel in "Warum es die Welt nicht gibt" vorgestellt hat, war schließlich, dass es schlechterdings alles gibt, nur nicht die Welt, flappsig formuliert. Genau genommen fragt Gabriel also nicht, was (schlechthin) nicht existiert, weil das seinen eigenen Erkenntnissen zuwiderlaufen würde! Die Ontologie fragt auch nicht direkt, was existiert, sondern sie fragt, was es heißt zu existieren und die Meontologie fragt dementsprechend, was es heißt nicht zu existieren. Die beiden Fragen hängen natürlich aufs innigste zusammen, auch wenn man sie vielleicht als Kontrast verstehen möchte.




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Mi 15. Jul 2020, 21:26

Markus Gabriel mit Bezug auf Hans Blumenberg hat geschrieben : Der gemalte Löwe ist also eine paradigmatische Begriffsprägung
Alethos hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 21:33
Bilder und keine Begriffe




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