documenta 14, Kunstwerke und Inszenierungen

Architektur, Malerei, Graphik, Design ...
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Jörn Budesheim
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Fr 21. Jul 2017, 08:02

Die documenta ist eine der weltweit bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Ihre vierzehnte Auflage findet vom 8. April bis zum 17. September 2017 statt - in Athen 8. April bis zum 16. Juli 2017, in Kassel vom 10. Juni bis zum 17. September 2017.

In diesem Thread sollen einzelne Arbeiten, Ideen, Inszenierungen und anderes mehr vorgestellt und besprochen werden.




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Jörn Budesheim
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Fr 21. Jul 2017, 08:07

"Ignoranz ist eine Tugend.“ An vielen verschiedenen Orten Kassels hört man zurzeit eine Stimme, die diese Worte flüstert. Stationen der „Whispering Campaign“ des US-Künstlers Pope L. findet man zum Beispiel vor dem Fridericianum, bei der Garderobe der neuen Galerie, in einem abgestellten Wagen am Holländischen Platz und vermutlich an vielen anderen Orten Kassels.

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"Die Idee war, eine Wolke aus Klang zu erschaffen, eine Atmosphäre, die aus Sprache besteht." erläutert der Künstler.

Irgendwann zu Beginn der documenta stehe ich für eine längere Zeit bei dem schwarzen Servierwagen vor dem Fridericianum, lausche dem Flüstern und versuche mir einen Reim darauf zu machen ... Plötzlich stellt sich ein kleiner Junge neben mich, schaut mich mit seinen schönen, großen und schwarzen Augen an und fragt, was bedeutet das denn? "Leider" musste ich ihm sagen, dass ich es nicht weiß. Immerhin brachte das seine Familie und alle Umstehenden zum Lachen. Kurz vorher war bereits eine Frau mit einem Schulterzucken von dannen gezogen, nicht ohne mir zu bedeuten, dass Ignoranz doch eigentlich eine Untugend ist. Dem musste ich natürlich zustimmen.

Lange "verfolgten" mich diese Worte ... später kam mir folgendes in den Sinn: An einer berühmten Stelle des Romans "1984" von Georges Orwell findet sich etwas, was dazu passt. Dort heißt es: "Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke." Vielleicht sollten wir ergänzen: Ignoranz ist eine Tugend.

Noch direkter ist folgender Bezug, der sich auf erschütternde Weise in die Orwell-Zitate fügt: Der frühere US-Präsident Obama warnte in einer Rede Anfang 2016 Studenten - in Anspielung auf den damaligen Präsidentschafts-Kandidaten Trump: "Es ist nicht cool, nicht zu wissen, wovon man spricht", denn Ignoranz, Intoleranz und Isolation seien keine Tugenden.

(Fotos: Jörn Budesheim, Gert Hausmann)




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Jörn Budesheim
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Fr 21. Jul 2017, 08:11

Die Zeit rechnet die Arbeit zu den Highlights der documenta: "Piotr Uklański empfängt die Besucher mit einer Wand aus Porträts von 'Real Nazis'". Welche Provokation die Arbeit vor dem Beuys-Raum in der alten Neuen Galerie darstellt, wird in dem Artikel aber mit keinem Wort erwähnt. In ihrer Rubrik "Lieblingskunstwerke der documenta 14" wird die HNA schon deutlicher: "... inmitten dieser wandfüllend komponierten Schwerverbrecher tauchen Flakhelferinnen, unbekannte Soldaten und auch der junge Joseph Beuys auf: Mit Funkerkappe und verschlossenem Blick. Hier wird er dem Beuys von 1969 im Kabinett nebenan, der berühmten, auch während der documenta unantastbaren Installation „The pack (das Rudel)“ als sein junges Ich entgegengesetzt."

Joseph Beuys war sechs mal auf der documenta vertreten. Seine 7000 Eichen haben Kassel verwandelt. Und jetzt findet man ihn auf der documenta wieder in einer Reihe mit Göbbels und Mengele?

Wie konnte es dazu kommen? Vor wenigen Jahren erschien von Hans Peter Riegel eine Beuys-Biografie. Nach den Worten der "Welt" "ein Denkmalsturz: Leben und Werk des Künstlers Joseph Beuys müssen neu bewertet werden." Dort liest man: "Beuys war ohne „Skrupel“ in der HJ, das bekannte er selbst. Dass er sich nicht nur freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, sondern sich gleich für zwölf Jahre verpflichtet hat und damit Berufssoldat wurde, war nicht bekannt."

Aber war Beuys ein Nazi? Auf diese Frage der "Welt" antwortet Riegel: "Es hat Autoren gegeben, die versucht haben, Beuys zu einem Nationalsozialisten zu machen. Die nationalsozialistische Ideologie war durch Rassenhass geprägt, das kann man Beuys nicht nachsagen. Er war kein Antisemit. ..."

Die Biografie von Riegel ist mehr als umstritten, enthält aber auch etliche erstaunliche Tatsachen über Beuys. Viele Kommentare geißeln die Biografie jedoch als einseitig und überzeichnet.

Klaus Staeck, der 18 Jahre intensiv mit Joseph Beuys zusammengearbeitet hat, erläutert in einem Interview des "Deutschlandfunk": " ... ich habe nie gemerkt, dass der Beuys in irgendeiner Form jetzt, sagen wir mal, reaktionäres Alt-Nazitum in irgendeiner Form gepflegt hätte, um es ein bisschen gespreizt auszudrücken. Nein, sondern das war jemand, der die Erwartung hatte, alle Menschen sind irgendwie noch zu retten. Deshalb hat er ja auch mal auf der documenta, weiß ich, mit Hunderten von Leuten gesprochen, wenn nicht Tausenden, in der Erwartung immer, der kommt auch noch irgendwie. Er hatte eine Vorstellung von einer anderen Welt, einer ökologischen, das war aber keine rechte."

Zwei Links zum Einstieg in das Thema, um sich ein eigenes Bild von dem Bild zu machen:

Hier geht es zu einem Interview mit dem Autor der Biografie Hans Peter Riegel:
https://www.welt.de/kultur/literarische ... ultur.html

Hier findet ihr ein Interview mit Klaus Staeck zu der Frage, ob Beuys ein Nazi war:
http://www.deutschlandfunk.de/staeck-jo ... _id=246707




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Jul 2017, 09:37

Ich finde die Themen-Hängung bei der documenta 14 manchmal etwas penetrant. Am augenscheinlichsten ist das im Museum für Sepulkralkultur. Tritt mal einmal ein, sieht man nach ein oder zwei Räumen, dass hier das Thema Körper (im weitesten Sinne) behandelt wird und es scheint, dass dieses Thema geradezu gnadenlos durchdekliniert wird.

Auch durch die documenta Halle, die selbst so etwas wie ein langgezogener Körper ist, zieht sich ein roter Faden, teilweise im wortwörtlichen Sinne. Hier geschieht das allerdings viel subtiler und geistreicher als an anderen Orten, wenn man von der fürchterlichen Beschriftung der Masken von Beau Dick absieht. Lässt man sich ein wenig auf die Inszenierung ein, dann entdeckt man plötzlich überall Linien, Saiten, Schnüre, Fäden, deren Schwingungen und dergleichen mehr. (Zudem, wie das notiert und codiert, choreografiert ist und welches Eigenleben diese Notations-Systeme entfalten) Zudem wird nicht einseitig auf dieses Thema bestanden, es gibt auch vieles anderes, wenn man so will Seitenstränge…

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Dass man die Installation aus Klebeband, Wänden und Schreibtischplatten von Marie Cool Fabio Balducci (so möchte ich auch mal heißen) unter einem ähnlichen Gesichtspunkt betrachten kann wie die Musik von Ali Farka, das ist durchaus eine Überraschung. Die Masken von beau dick fügen sich meines Erachtens auch in dieses Ensemble, aber der Text dazu ist wieder in der typischen d14 Manier und viel zu didaktisch … man fühlt sich hier bei der Hand und nicht ernst genommen. Der gelungene Gesamteindruck dieser geistreichen Konstellation wird dadurch zum Glück nicht gefährdet.

Hier gibt es eine Bilderstrecke durch die documenta-Halle: http://u-in-u.com/de/documenta/2017/doc ... /entrance/

Mich hat das ganze gestern sehr beschwingt




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Jul 2017, 09:39

Ich habe diesen Besuch in der documenta Halle in dem Raum von Ali Farka begonnen >> http://u-in-u.com/de/documenta/2017/doc ... la-medina/

Ich habe mir sehr lange die Musik angehört, dabei bleibt es nicht aus, dass man irgendwann anfängt, nicht nur die Musik zu hören und die Installation zu betrachten, sondern auch die Besucher des Raumes. Nicht alle, aber sehr viele kommen herein, sind offensichtlich auf der Suche nach der documenta, finden sie hier nicht und verlassen den Raum eilenden Schrittes... Ziemlich ähnlich ging es mir beim ersten Versuch. Das führte zu dem interessanten Moment, dass ich mich selbst in den anderen sehen konnte...

Das Kunstforum schreibt, das es nicht ganz nachvollziehbar ist, warum diese memorabilia in der documenta gezeigt werden. Ehrlich gesagt, ging es mir die gesamte Zeit fast genauso. (Obwohl ich die Musik zunehmend genossen habe.) Erst nachdem ich den Raum verlassen habe und mir einige andere Arbeiten angeschaut habe, hat sich gleichsam im Rückblick gezeigt, warum dieser Raum zu sehen ist. Wenn man so will, ist es die musikalische ouvertüre. Auch wenn das sicherlich nicht der einzige Aspekt ist.




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Stefanie
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Sa 22. Jul 2017, 22:23

Die Vorstellungen und Berichte machen mich sehr neugierig, bzw. noch mehr neugieriger.

Die documenta hielt ich bis jetzt für etwas elitär, was mich abschreckte. Warum ich das jetzt etwas anders sehe, weiß ich nicht so genau. Ich gebe ja nicht auf, mein Verhältnis zu Ausstellungen/Museen zu verbessern ;- )

Ein Konzept, wo man über Kunst quasi "stolpert" wie im Beitrag Nr. 1, gefällt mir gut. Man stoppt, und je nach dem was es ist, geht es einem wie in dem Beitrag geschrieben oder der Groschen fällt sofort. Bei mir ploppen wahrscheinlich die Fragezeichen auf. Aber vor allem hält man inne und nimmt sich Zeit.
Die Diskussion über Beuys ist an mir vorbeigegangen, muss ich mich mal einlesen.

Ich hatte ernsthaft vor, in meinem weiteren noch ausstehenden Urlaub, mir das mal in echt alles anzuschauen. Nach dem Motto, egal dieses Jahr hattest Du schon zu viele ungeplante Ausgaben, da geht Kassel auch noch.... bis ich beim Recherchieren der Bahnverbindungen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde.



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Jörn Budesheim
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So 23. Jul 2017, 06:26

Elitär? Vielleicht ja, vielleicht nein... Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass die documenta dieses Mal besonders elitär ist, in dem Sinne, dass man sehr viel kunsthistorisches oder allgemeines KunstWissen mitbringen muss, um etwas von der Ausstellung zu haben. (Es gibt natürlich Ausnahmen. In manchen Bereichen reflektiert die Dokumente ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Entstehungsbedingungen. Da kann es dann natürlich nicht schaden, wenn man weiß unter welchen Umständen die documenta zum ersten Mal gezeigt wurde und man einen Begriff von Kalten Krieg und Marshallplan et cetera hat und insbesondere wenn man die Person Arnold Bode kennt.)

Vielleicht hilft das folgende kleine Erlebnis weiter. Neulich stand ich bei einem Kunstwerk, dass mir selbst sehr gut gefiel und ein wenige Meter entfernt standen drei Damen, die sich fragten, ob sie hier wohl verarscht werden sollten... Dazu ist mir ein bekannter Witz eingefallen. Jemand blättert in einem Telefonbuch. Nach ein paar Seiten denkt er bei sich, die Besetzung ist sehr gut, aber die Story ist total mau. Wenn man an ein Telefonbuch in der Erwartung herangeht, einen Roman zu lesen, wird man sicher enttäuscht sein. Aber das liegt natürlich nicht am Telefonbuch - das ist vollkommen okay für den Zweck, den es wirklich hat.

So ähnlich war es wohl bei den drei Damen. Sie haben anscheinend nicht das gefunden, was sie sich erwartet haben, aber das ist bei der documenta und bei der Kunst generell, wenn vielleicht nicht der Normalfall, so doch sicherlich nicht völlig ungewöhnlich. Es ist natürlich eine totale Plattitüde, aber in vielen Fällen ist es tatsächlich so, dass man versuchen muss, die Dinge eben dieses Mal mit anderen Augen zu sehen ... Welcher Blick derjenige ist, der einem zumindestens Aspekte der Arbeit eröffnet, ist in manchen Fällen nicht wirklich leicht herauszubekommen... Aber wenn man, egal was man vor sich hat, darauf fixiert ist, alles so zu lesen, als sei es ein Roman (und noch mal das Beispiel des Witzes aufzunehmen), dann wird man natürlich fast grundsätzlich enttäuscht :)

Das heißt aber nicht, dass man auf der documenta nur Dinge findet, die die Erwartungen enttäuschen. Es gibt auch Arbeiten, die einen gleich einnehmen, die man einfach genießen kann.

Viele der gezeigten Arbeiten haben auch kulturelle oder sonstige Hintergründe, die man ohne weiteres gar nicht kennen kann. Ich denke, wenn man nicht so viel Zeit mitbringt, ist es eine gute Empfehlung sich zunächst ein wenig auf der documenta aufzuhalten, sich selbst einen Überblick zu verschaffen die eine oder die andere Erkundung zu machen und sich dann einer Führung anzuvertrauen.




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Jörn Budesheim
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So 23. Jul 2017, 14:00

Bei Facebook habe ich auf die Beschreibung der Inszenierung in der documenta-halle folgende Antwort bekommen. (Ich poste das hier, damit man nicht den Eindruck bekommt, die documenta sei unumstritten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie ist sehr umstritten und die Mehrheit der Kritiken ist schlecht, wenn meine Einschätzung stimmt.)
Hallo Jörn Peter ich muss hier doch mal meine Gedanken zur Inszenierung der d14 loswerden, da Du die documenta Halle ansprichst. Auch hier hat sich mir der rote Faden von dem Du sprichst erschlossen. Ich muss aber leider den vielen Stimmen rechtgeben, die ich letzte Woche gehört habe und die sagten, das ist die schlechteste documenta in 40/45 Jahren. In der grossen Halle in der documenta halle ist tatsächlich mal die Inszenierung geglückt - was sonst selten passiert - aber ansonsten in den übrigen Räumen nicht. Auch wenn die schiefe Ebene in der grossen Halle etwas schräg ist und nicht nachvollziehbar, Du hast ja die Erfahrung schon in den Räumen von Ali Farka gemacht, wozu dann noch eine schiefe Ebene. Wie überall ist die Beschriftung und die Vermittlung eine Katasthrophe. Die Beschriftungen sind für die Besucher und die ausgestellten Künstler eine echte Zumutung. Nicht nur die gramatikalischen Fehler sondern die gesamte umgehensweise. Die Belüftung war vorige Woche an beiden Tagen an denen ich dort war abgeschlatet, die Türen geschlossen, das Klima war nicht nur für die Kunstwerke eine Zumutung sondern besonders für die Besucher. Geht es hier darum ein afrikanisches Klima zu simulieren? Wie überall auch in der documenta halle werden die Besucher gezwungen ihre Erfahrungen und ihr Wissen draussen zu lassen. Rücksäcke - die symbolisch für das mitgeführte Wissen stehen - müssen 20 Meter entfernt in Containern gesammelt werden. Eine echte Bevormundung. Im Fridericianum muss man soger 150 Meter latschen um sein Wissen zurück zu lassen. Das ist in allen documenta Orten Pflicht. Die documenta Mitarbeiter wurden aus den für sie vorgesehenen Räumen ebenfalls in Container ausserhalb der Austellung verbannt. Das erinnert an die Unterbringung von Flüchtlingen! Dementsprechend genervt und unfreundlich sind diese dann auch zu den Besuchern. Hier nicht rein... dort nicht raus... sind die anweisungen der documenta Mitarbeiter... nicht anlehnen.... Sitzgelegenheiten gibt es eh nicht usw. Wenn das das Konzept der documenta ist, fordere ich alle documenta Mitarbeiter auf, das Parlament der Körper wörtlich zu nehmen und die für sie vorgesehenen Räume zurück zu erobern (z.b. Ali Farka in der documenta halle), die Kunst von dort in die Container zu verbannen und an den Adressaten zurückzuschicken, die Türen zu öffnen und für eine vernünftige Belüftung zu sorgen und die documenta Besucher willkommen zu heissen: Das Parlament der Körper! Wenn das passiert, bekommt Adam das Bundesverdienstkreuz persönlich überreicht von Steinmeier, dann werden wir dafür sorgen, dass er nicht wieder so einen schlecht sitzenden Anzug trägt wie bei seinem letzten Treffen mit Steinmeier.




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Jörn Budesheim
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So 23. Jul 2017, 18:37

Dieser Kommentar der TAZ gefällt mir sehr gut - und er passt auch in die derzeitige Landschaft, man kann Religion und ihre Ausdrucksformen, wenn man so will "das Fremde" eben doch "verstehen, ohne einverstanden zu sein".

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"Hier darf man verstehen, ohne einverstanden zu sein

[Romuald Karmakar stellt im Westpavillon] seinen dreiteiligen Videoscreen vor die Fenster, die er zum Park hin weit öffnet, ins Gegenlicht. Die offene, idyllische Situation steigert den Sog von „Byzantion“ (2017), einem Film, in dem er Mönche in Athen und im russischen Kloster Walaam dabei beobachtet, wie sie den Marien-Hymnus Agni Parthene in seiner griechischen beziehungsweise kirchenslawischen Version intonieren.

Die Wiederholung des Hymnus in Agni Parthene distanziert [...] während die unbeirrt auf die Mönche konzentrierte Kamera das Publikum deren Gesangskunst und religiöses Pathos direkt erfahren lässt. Ohne die eigene Reserve gegenüber dem religiösen Haleluja verleugnen zu müssen, ist einem respektvolles Zuhören möglich, ein Zugehen auf das Fremde, nicht Genehme, das am Ende ein Zugang zu ihm ist. Verständig, nicht einverstanden. Karmakar ist eben ein Meister politischer Kunst."
Foto: documenta 14, pressefotos




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Stefanie
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So 23. Jul 2017, 19:22

Aus dem von Dir zitierten Beitrag:
Das erinnert an die Unterbringung von Flüchtlingen!
zusammen mit der schön formulierten Beschreibung, dass man bei dem Zurücklassen der Rucksäcke sein Wissen mit zurücklässt...kommt mir folgender Gedanke:

Vielleicht soll es gerade so sein?
Flüchtlinge, die in ein anderes Land kommen, geht es doch ähnlich. Sie müssen viel zurücklassen, und ihr Wissen und ihre Erfahrungen zählen auf einmal nichts mehr. Flüchtlinge müssen, bevor sie registriert sind, erst einmal alles abgeben, was sie mit dabei haben, erst später erhalten sie ihre Sachen zurück. Das Klima in den Unterkünften ist wahrscheinlich schlecht, die Behandlung schroff bis ablehnend.

Nur so ein Gedanke.



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So 23. Jul 2017, 19:43

Ja, diese Spekulation ist einigermaßen weit verbreitet. (Manchmal mehr, manchmal weniger ernsthaft.)




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Di 25. Jul 2017, 06:05



Marta Minujíns "Parthenon der Bücher" ist sicher das größte Kunstwerk auf der documenta. Zehntausende Bücher, die irgendwo auf der Welt verboten waren oder sind, sind an den Säulen angebracht. Die Liste der verbotenen Bücher, die man auf der Internetseite der documenta einsehen kann, bietet einige Überraschungen, wer hätte z.b. gedacht, dass Harry Potter irgendwo verboten ist.

Jedes einzelne Buch wurde gespendet von Institutionen und privaten Lesern. Auch ich habe ein kleines Buch gespendet, eine Geschichte der Philosophie eines heute unbekannten Autoren, dass ich beim ZVAB für wenige Euro extra für diesen Zweck gekauft habe. Das maßstabsgetreue Vorbild des Kunstwerkes ist die "Wiege der Demokratie", der Parthenon der Akropolis in Athen. Das Kunstwerk steht übrigens genau da, wo in Kassel seinerzeit die Bücher verbrannt wurden.

Das Kunstwerk, dass ich sehr schnell zum Publikumsliebling gemausert hat, gehört sicher auch zu den meist fotografierten Arbeiten der gesamten Ausstellung. In meiner Facebook Timeline finde ich nahezu jeden Tag mehrere Fotos davon.




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Do 27. Jul 2017, 09:14



Das ist zwar nicht das Video von Romuald Karmakar von dem ich zwei drei Beiträge weiter oben geschrieben habe. Es ist diesem aber sehr ähnlich, man sieht fast die selben Protagonisten, die den selben Gesang intonieren :-)




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Stefanie
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So 30. Jul 2017, 20:06

Eine praktische Frage:
Wie viele Tage braucht es, um sich das anzusehen, was Du hier vorgestellt hast, und lohnt es sich, oder lohnt es sich nicht die documenta zu erlaufen?



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Jörn Budesheim
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Mo 31. Jul 2017, 09:30

Zwei schwere Fragen!

Die Kritiker des Feuilletons sind sich bisher weitgehend einig, dass die d14 eher schlecht als recht ist. Man darf gespannt sein, wie man sie in 10 Jahren bewertet. Das Publikum sieht die Dinge - so weit ich das überschauen kann - eher anders und mag die Ausstellung. Dass sich jetzt schon ein Besucherrekord abzeichnet, könnte diese Einschätzung unterstützen. Eine Umfrage kommt zu einem ähnlichen Befund!

Meine Einschätzung: Der Besuch lohnt in jedem Fall.

Wie lange braucht man? Naja, je länger, desto besser natürlich :-) Ich denke aber zwei oder drei Tage sind schon sehr gut. Dann würde ich aber empfehlen bei ein oder zwei Führungen mitzumachen!




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iselilja
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Mo 31. Jul 2017, 11:13

Ich muss gestehen, ich bin kein sonderlicher Kunstliebhaber im klassischen Sinne. Die wenigen Vernissagen, die ich bisher besucht habe, hinterließen bei mir eher den Geschmack von kaltem Kaffee. Dort wird etwas vorgestellt, von dem man bereits im Vorfeld weiß "Es soll sich dabei um Kunst handeln". Ich war also eigentlich mehr darauf konzentriert, das kunstvoll Schöne zu entdecken, das ja dort irgendwo sein muss - den Angaben zufolge. Doch die bewußte Suche ist es (glaube ich jedenfalls), die das Auge des Betrachters trübt, es fokussiert und keinen Platz lässt, sich einzulassen auf das Unbekannte, das Faszinierende, das Schöne.

Meine Frage an die, die die documenta schonmal besucht haben: Wie fühlte es sich an, wenn ihr gegangen seid? War es schön oder lehrreich? :-)

lg




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Jörn Budesheim
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Mo 31. Jul 2017, 11:20

Ich kenne die documenta seit 40 Jahren. Sie gehört zum Aufregendsten, was die Kunst zu bieten hat. Was es da zu sehen gibt, ist manchmal atemberaubend schön, kontrovers, unverständlich, geistreich, nachdenklichmachend, humorvoll, rührend, rätselhaft, nervenaufreibend, anstrengend, anregend, ...




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iselilja
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Mo 31. Jul 2017, 13:51

Jörn Budesheim hat geschrieben : Ich kenne die documenta seit 40 Jahren. Sie gehört zum Aufregendsten, was die Kunst zu bieten hat. Was es da zu sehen gibt, ist manchmal atemberaubend schön, kontrovers, unverständlich, geistreich, nachdenklichmachend, humorvoll, rührend, rätselhaft, nervenaufreibend, anstrengend, anregend, ...
Das klingt spannend. Und wo ich jetzt gerade lese, was Stefanie weiter oben über das Stolpern schrieb.. vielleicht gehöre ich auch zu den Kandidaten, die in eine documenta hineinstolpern müssen - sozusagen erwartungs- oder besser noch ahnungslos.




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Stefanie
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Mo 31. Jul 2017, 19:17

Etwas off tpic:
Der Bücher Pantheon sieht in dem Video so ähm ... schön aus. Als ich das erste Mal darüber las und Bilder davon sah, sagte ich mir: Das will ich sehen!
Jetzt wird mir noch mehr präsentiert... macht alles neugierig, ...und was mache ich, fahr nach Amsterdam. War schön, bis auf Rembrandt in 5. Reihe gucken, van Gogh Kommerz und Anne-Frank-Haus gar nicht (da wollte ich unbedingt hin).
Amsterdam hatte wegen der super Bahnverbindung und den schöneren Hotels gewonnen.



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Stefanie
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Do 3. Aug 2017, 19:43

... und noch eine Stellungnahme zur documenta 14:

http://www.ksta.de/kultur/documenta-in- ... s-28108428

Die Documenta ist wieder zu Hause angekommen. Am Mittwoch schwebte Rebecca Belmores aus Athen angeliefertes Marmorzelt an einem Kran über den Weinbergterrassen in Kassel ein – das Gastspiel der Documenta in der griechischen Hauptstadt ist damit auch symbolisch beendet. Über Sinn und Unsinn des Athener Vorspiels gehen die Meinungen weiterhin auseinander, was mehr ist, als man über den Kasseler Teil der Documenta sagen kann. Selten wurde das weltweit bedeutendste Kunstfestival von der deutschen Kritik so einhellig geschmäht: als Ausverkauf der Kunst an die politische Korrektheit, als kuratorische Meinungsdiktatur oder sogar als Skandal an Steuerverschwendung. Allerdings zeigte sich das Publikum davon völlig unbeeindruckt: Zur Halbzeit sagt die Geschäftsführung der Documenta einen neuen Besucherrekord voraus.
Marmorzelt

Muss man sich also um die geistige Gesundheit der Documenta-Reisenden Sorgen machen? Oder eher um die der deutschen Kunstkritik? Andererseits gilt es auch das Phänomen des Katastrophentourismus zu bedenken: Vielleicht wollen die Menschen einfach mit eigenen Augen sehen, wie schlecht die Documenta ist.
Die Antwort liegt wohl eher in der ureigenen Natur des 1955 gegründeten Kunstfestes. Da es nur alle fünf Jahre stattfindet, scheint die Documenta über dem atemlosen Wechsel der Messen und Ausstellungen zu stehen und aus erhöhter Sicht einen Überblick auf die aktuelle Strömungen der Kunst zu geben. Sie verspricht dem Publikum also nichts weniger als Zeitgenossenschaft – auch wenn sich der Charakter dieser Zeit erst rückblickend enthüllt. Es gehört zum Mythos der Documenta, dass jede ihrer Ausgaben erst mit gebührendem zeitlichem Abstand verstanden werden kann. Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Im Hier und Jetzt ist man immer blind für die historischen Zusammenhänge des eigenen Erlebens. Aber man will wenigstens dabei gewesen sein.

Möglicherweise lernt die deutsche Kunstkritik gerade, was die Filmkritik schon lange weiß: Man kann vielleicht ein kleines Ereignis „groß“ schreiben, aber niemals ein Großereignis klein. Die Documenta scheint längst über jede Kritik erhaben, so wie „Star Wars“ im Kino oder die Fußball-Weltmeisterschaft im Fernsehen. Und tatsächlich ist sie für die zeitgenössische Kunstwelt so etwas wie ein überlebenswichtiger Blockbuster: Allein in Kassel (und vielleicht noch in Venedig) kann die Gegenwart mit der klassisch gewordenen Vergangenheit in Besucherzahlen konkurrieren. Unter dem Markendach der Documenta ähnelt selbst die abseitigste Installation einem impressionistischen Gemälde.
Aber bedeutet diese wundersame Verwandlung auch, dass auf der Documenta die wahre Kunst zu sehen ist – etwa im Gegensatz zur vielbeschworenen Kunstmarktkunst? Adam Szymczyk, Leiter der Documenta, scheint diesem Gedanken anzuhängen; er legte großen Wert darauf, dass die in Kassel gezeigte Kunst nicht leicht verkäuflich sei. Allerdings ist dies nicht zwangsläufig eine Frage der ästhetischen Originalität oder politischen Aufmüpfigkeit, sondern oft genug eine des Formats: Gemälde lassen sich eben leichter in private Wohnräume integrieren als Performances, Flüchtlingsprojekte oder in den Himmel wachsende Skulpturen.
Infos
Zur Halbzeit kamen laut Angaben der Documenta 445.000 Besucher zur Kasseler Kunstschau und damit 17 Prozent mehr als bei Halbzeit der letzten Ausgabe im Jahr 2012. Die Documenta zeigt Werke von 160 Künstlern und ist noch bis zum 17. September geöffnet. Am zweiten Standort Athen ist die Documenta bereits beendet.

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich hat in diesem Zusammenhang eine alte These wieder aufgewärmt und unterscheidet zwei Sorten Kunst: die eine wird für Festivals und Kuratoren produziert und die andere für den Markt. Die Documenta wäre demnach für die großen Trends und die Haute Couture zuständig und Messen wie die Art Cologne für das Mitnahme-Segment. Diese Sichtweise hat immerhin den Vorteil, dass sie die Documenta weder künstlich zum Gegenpol des Kunstmarkts erhebt noch zum reinen Zulieferbetrieb der Messen degradiert.
Dem Publikum, das sich keine Kunst, aber eine Eintrittskarte leisten kann, mögen derlei Gedankenspiele freilich egal sein. Es nimmt die Documenta als den Gemischtwarenladen, der er stets war, und findet so garantiert viel Interessantes. Schon immer war es weiser, den Blick aufs Detail zu richten statt das Ganze zu verdammen.
– Quelle: http://www.ksta.de/28108428 ©2017



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