kʊnst und kʊlˈtuːɐ̯

Architektur, Malerei, Graphik, Design ...
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Jörn Budesheim
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So 20. Dez 2020, 20:25

Vielleicht noch ein Punkt: es gibt eine ziemlich bekannte Bilderserie von Rene Magritte mit dem Titel "conditio humana".




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Stefanie
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So 20. Dez 2020, 20:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 20. Dez 2020, 19:50
Diese Form der Offenheit, die sogar soweit führen kann, dass einem "noch nicht mal klar ist, was ich sehe", ist doch für viele Kunstwerke kennzeichnend und ein ganz wichtiger Aspekt der Kunst überhaupt.
Das reicht mir aber oft nicht. Ich bin neugierig, und es ist daher oft unbefriedigend, wenn man in Fragen stecken bleibt. Es muss nicht unbedingt zu einem vollständigen Verstehen führen, dessen Eintritt ich bei mir auch bezweifel : ). Nur, es macht keinen Spass, mangels Wissen am ausgestreckten Arm quasi neugiermässig zu verhungern.



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Jörn Budesheim
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So 20. Dez 2020, 20:51

Welches Wissen sollte dir mangeln, du bist schließlich selbst ein Mensch. Wenn man von der kleinen kunsthistorischen Anspielung an Margritte absieht, die nicht von größeren Belang ist, gibt es hier nicht so etwas wie ein Hintergrundwissen, dass man erst heranziehen müsste. Ich glaube auch nicht, dass es hier um Wissen geht (je nachdem, wie man den Begriff fassen möchte natürlich) hier ist eher die poetische Einbildungskraft am Werke :)




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Jörn Budesheim
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Fr 25. Dez 2020, 07:16

Kunstforum: Vom Sinn der Kunst - I. Kulturtheoretische Essays, 2018
von Marion Strunk · S. 58 - 69

III Wirken ohne Absicht

Der Kunstbereich kann für sich nicht in Anspruch nehmen, etwas vom gesellschaftlichen Ganzen Abgehobenes zu repräsentieren. Aber in der Kunst ist die Intention angelegt, auf eine spezifische Weise wirken zu wollen. Der ihr zugeschriebene Eigensinn zeigt sich in den Fähigkeiten von Innehalten und Entschleunigung und darin, nicht den Forderungen der Zeit zu folgen. Kunst wäre dann als „eine Gegenarbeit“ zu den Verhältnissen zu beschreiben, die nicht im Sinne eines bloßen Dagegen-seins agiert oder dem Bild einer Gegenkultur entspricht. Gegenarbeit bezeichnet vielmehr eine Phase der Unterbrechung, um die ästhetische Differenz zu den Zuständen des Gewohnten und Bekannten auszuloten. Wie eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens.

Die ästhetische Form lässt sich dabei in ihrer Gegenstrebigkeit nicht gezielt produzieren oder stringent zum Inhalt eines Vorhabens machen. Das wäre mit Didaktik, Propaganda oder Agitation gleich zu setzen, würde an Botschaften, Programmen oder Direktiven erinnern. Der ästhetischen Form ist, im Gegenteil, die Geste der Poesie immanent, eine Kraft, die sich in ihrem Wirken von ihrer Ursache löst. Wirkung lässt sich jedoch nicht konstruierend erzeugen – sie geschieht. Dabei ereignet sie sich umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen, sondern ihr die Chance beigegeben ist, sich in einem Verlauf eines Prozesses zu entwickeln. Und das mittels zweckfreiem Sehen und Erkennen, unbestimmt und unvorhersehbar, einem Ereignis vergleichbar.

Der Verzicht, die Gegenarbeit für eine spezielle Absicht zu instrumentalisieren, macht eine Deutungspflicht überflüssig. Thema ist nicht das Licht der Moderne, das Licht, das ins Dunkle fällt, wie von der Aufklärung oder den verschiedenen Avantgarden intendiert. Es ist die „große Vernunft der Sinne“, die erkennt, dass Licht und Dunkel einander bedingen und sich ständig im gegenseitigen Wechsel begegnen.

Die Befragung der Einzelnen, der Kultur und der Gesellschaft als Kunst zu vollziehen, erwirkt sinnliches Erkennen im Unterschied zu rationaler Erkenntnis. In dieser Sinnfreiheit geht es nicht darum, eine Wahrheit zu erfassen, sondern vielmehr um ein Für-wahr-nehmen einer Gegebenheit. Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was sie ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen.
Ich zitiere diesen Text, nicht weil ich mit jeder Zeile einverstanden bin, sondern weil mir der Aspekt der Absichtslosigkeit wichtig erscheint. Vielleicht ist der Verweis darauf nicht gerade originell, aber wichtig!

"Wirkung lässt sich jedoch nicht konstruierend erzeugen – sie geschieht. Dabei ereignet sie sich umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen, sondern ihr die Chance beigegeben ist, sich in einem Verlauf eines Prozesses zu entwickeln. Und das mittels zweckfreiem Sehen und Erkennen, unbestimmt und unvorhersehbar, einem Ereignis vergleichbar."




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Sa 26. Dez 2020, 16:22

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Stefanie
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Mo 28. Dez 2020, 21:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 25. Dez 2020, 07:16
Kunstforum: Vom Sinn der Kunst - I. Kulturtheoretische Essays, 2018
von Marion Strunk · S. 58 - 69

III Wirken ohne Absicht

Der Kunstbereich kann für sich nicht in Anspruch nehmen, etwas vom gesellschaftlichen Ganzen Abgehobenes zu repräsentieren. Aber in der Kunst ist die Intention angelegt, auf eine spezifische Weise wirken zu wollen. Der ihr zugeschriebene Eigensinn zeigt sich in den Fähigkeiten von Innehalten und Entschleunigung und darin, nicht den Forderungen der Zeit zu folgen. Nr. 1 Kunst wäre dann als „eine Gegenarbeit“ zu den Verhältnissen zu beschreiben, die nicht im Sinne eines bloßen Dagegen-seins agiert oder dem Bild einer Gegenkultur entspricht. Gegenarbeit bezeichnet vielmehr eine Phase der Unterbrechung, um die ästhetische Differenz zu den Zuständen des Gewohnten und Bekannten auszuloten. Wie eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens.

Die ästhetische Form lässt sich dabei in ihrer Gegenstrebigkeit nicht gezielt produzieren oder stringent zum Inhalt eines Vorhabens machen. Das wäre mit Didaktik, Propaganda oder Agitation gleich zu setzen, würde an Botschaften, Programmen oder Direktiven erinnern. Der ästhetischen Form ist, im Gegenteil, die Geste der Poesie immanent, eine Kraft, die sich in ihrem Wirken von ihrer Ursache löst. Wirkung lässt sich jedoch nicht konstruierend erzeugen – sie geschieht. Dabei ereignet sie sich umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen, sondern ihr die Chance beigegeben ist, sich in einem Verlauf eines Prozesses zu entwickeln. Und das mittels zweckfreiem Sehen und Erkennen, unbestimmt und unvorhersehbar, einem Ereignis vergleichbar.

Der Verzicht, die Gegenarbeit für eine spezielle Absicht zu instrumentalisieren, macht eine Deutungspflicht überflüssig. Thema ist nicht das Licht der Moderne, das Licht, das ins Dunkle fällt, wie von der Aufklärung oder den verschiedenen Avantgarden intendiert. Es ist die „große Vernunft der Sinne“, die erkennt, dass Licht und Dunkel einander bedingen und sich ständig im gegenseitigen Wechsel begegnen.

Die Befragung der Einzelnen, der Kultur und der Gesellschaft als Kunst zu vollziehen, erwirkt sinnliches Erkennen im Unterschied zu rationaler Erkenntnis. In dieser Sinnfreiheit geht es nicht darum, eine Wahrheit zu erfassen, sondern vielmehr um ein Für-wahr-nehmen einer Gegebenheit. Nr. 2 Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was sie ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen.
Tja...gut, es steht oben kulturtheoretisch Essay, aber muss es so kompliziert geschrieben sein? Das toppt jeden juristischen Text. Ich war so frei und habe es etwas markiert..
Nr. 1. Was genau ist jetzt die Gegenarbeit? Das taucht unten noch mal auf, "Der Verzicht, die Gegenarbeit für eine spezielle Absicht zu instrumentalisieren, macht eine Deutungspflicht überflüssig."
Ich kapituliere.

Der Absatz mit der Absichtslosigkeit wird eingeleitet mit der ästhetischen Form. Unter Form verstehe ich das Wie etwas prasentiert wird, also Gemälde oder Skulptur, Prosa oder Lyrik, bunt oder farbig usw. Materialienwahl usw. Ist die Form das Entscheidende? Oder der Text, der in Prosa oder mittels Lyrik geschrieben werden kann? Wie weit bestimmt die Form alles weitere?

Ein Beispiel aus meiner Welt. Eine neue zeiterfassungssoftware wird eingeführt. Der Arbeitgeber trifft für bestimmte Fälle eine Entscheidung, wie es zu werten ist. Antwort der Software Admins, das kann die Software nicht. Ich, wir lassen uns doch von einer Software nicht vorschreiben, wie wir etwas handhaben, zumal es zulässig ist. Die Software muss sich anpassen.
Die Software ist die Form.

Zu Nr. 2 Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was sie ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen.
Echt jetzt?
Nach dem lediglich sinnliches Erkennen erfolgte? Wenn ich es rational verstehe, bin ich dann raus?
.



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Stefanie
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Mo 28. Dez 2020, 21:11

Zu dem Bild mit dem Mond.

Mittlerweile habe ich es jetzt etliche Male gesehen, aber den Text "Mondbohrung" lese ich nie, entweder Mondbedrohung oder Monderoberung und wundere mich dann immer wieder, wieso steht da Mondbohrung. Jedesmal.



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Stefanie
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Di 29. Dez 2020, 23:10

poetische Einbildungskraft

Hmm, ich befürchte, die habe ich nur begrenzt und zwar dann, wenn mir etwas wie Rätsel vorkommt, und noch nicht mal ansatzweise eine Antwort angeboten wird.
In der Schule war ich in Interpretationen ziemlich gut, und bei so Spielchen oder Workshops, wo man rumspinnen (also erstmal nicht nach der Machbarkeit fragen) soll, falle ich grundsätzlich aus dem Rahmen, weil ich dass dann auch mache, nämlich rumspinnen.
Aber poetische Einbildungskraft...Ich denke, nicht immer meine Kernkompetenz.

Im Sommer war ich in dieser Ausstellung,

https://www.stateofthearts.de/de/

2 Sachen fand ich interessant, ansonsten muss ich zugeben, fand ich es langweilig, und teilweise war ich etwas gereizt und zwar dann, wenn der Eindruck bei mir entstand, da hat jemand was hingestellt, mit der Aufforderung, na jetzt mach mal was damit, ich Künstler bin mir nicht sicher, was dass sein soll und was dabei rauskommt oder passiert. Ich bin doch kein Versuchskanninchen.



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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Mo 28. Dez 2020, 21:06
aber muss es so kompliziert geschrieben sein?
Ja, das ist schade, das finde ich auch.




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Jörn Budesheim
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Do 31. Dez 2020, 10:14

Ich habe mal versucht, den Text einfacher zu formulieren. Ich hoffe, dass ich dabei nicht zu viel verändert habe, sondern dass ich dicht am Original geblieben bin:

Die Kunst ist ein Teil der Gesellschaft, sie steht nicht neben oder über der Gesellschaft. Dennoch ist sie eine Form der Gegenarbeit. Gegenarbeit bedeutet nicht einfach "dagegen sein" oder eine Gegenkultur zu etablieren. Es geht vielmehr um Unterbrechung, Innehalten und Entschleunigung. In der ästhetischen Erfahrung schert man aus dem Gewohnten und Bekannten aus - eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens.

Die Kunst lässt sich nicht beherrschen; die ästhetische Form kann nicht gezielt produziert werden: Das liefe auf Didaktik, Propaganda oder Agitation hinaus. Statt um Botschaften, Programme oder Direktiven geht es um Poesie. Die poetische Kraft löst sich in ihrem Wirken von ihren Ursachen, sie geschieht einfach. Sie lässt sich nicht nach Regeln oder einem Kriterienkatalog erzeugen. Dabei entfaltet sich diese Kraft umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen ist. Sie ereignet sich im Spiel, im zweckfreiem Sehen und Erkennen: unbestimmt, unkontrollierbar und unvorhersehbar. Wenn die Kunst als Gegenarbeit nicht im Dienste spezieller Absichten steht, gibt es auch keine Pflicht zur (Ein-)Deutung.

Die Kunst ist nicht das Licht der Moderne, das Licht, das ins Dunkle fällt, wie von der Aufklärung oder den verschiedenen Avantgarden beabsichtigt. Sie ist die „große Vernunft der Sinne“. Sie zeigt, dass Licht und Dunkel einander bedingen und sich ständig im gegenseitigen Wechsel begegnen.

Die poetische Gegenarbeit eröffnet die Möglichkeit zur sinnlichen Erkenntnis im Unterschied zur rationalen Erkenntnis - für den Einzelnen, die Kultur und die Gesellschaft. In dieser Sinn - und Zweckfreiheit geht es nicht darum, eine wahre Botschaft zu erfassen, sondern um das Für-wahr-nehmen des Kunstwerks. Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was es ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen.




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Sa 2. Jan 2021, 20:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 31. Dez 2020, 10:14
Ich habe mal versucht, den Text einfacher zu formulieren. Ich hoffe, dass ich dabei nicht zu viel verändert habe, sondern dass ich dicht am Original geblieben bin:

Die Kunst ist ein Teil der Gesellschaft, sie steht nicht neben oder über der Gesellschaft. Dennoch ist sie eine Form der Gegenarbeit. Gegenarbeit bedeutet nicht einfach "dagegen sein" oder eine Gegenkultur zu etablieren. Es geht vielmehr um Unterbrechung, Innehalten und Entschleunigung. In der ästhetischen Erfahrung schert man aus dem Gewohnten und Bekannten aus - eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens. Aha, das habe ich jetzt verstanden.

Die Kunst lässt sich nicht beherrschen; die ästhetische Form kann nicht gezielt produziert werden: Das liefe auf Didaktik, Propaganda oder Agitation hinaus. Statt um Botschaften, Programme oder Direktiven geht es um Poesie. Die poetische Kraft löst sich in ihrem Wirken von ihren Ursachen, sie geschieht einfach. Sie lässt sich nicht nach Regeln oder einem Kriterienkatalog erzeugen. Dabei entfaltet sich diese Kraft umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen ist. Sie ereignet sich im Spiel, im zweckfreiem Sehen und Erkennen: unbestimmt, unkontrollierbar und unvorhersehbar. Wenn die Kunst als Gegenarbeit nicht im Dienste spezieller Absichten steht, gibt es auch keine Pflicht zur (Ein-)Deutung. mal davon abgesehen dass mir nicht ganz klar ist, was genau mit Form gemeint ist, stolper ich erneut über zweckfreies Sehen und Erkennen. Gibt es das überhaupt, zweckfreies Erkennen? Mit Absichten ist gemeint, eine bestimmte Wirkung zu erzielen, oder. Aber doch nicht, aus Trocknerstaub irgendetwas zu machen, oder?

Die Kunst ist nicht das Licht der Moderne, das Licht, das ins Dunkle fällt, wie von der Aufklärung oder den verschiedenen Avantgarden beabsichtigt. Sie ist die „große Vernunft der Sinne“. Sie zeigt, dass Licht und Dunkel einander bedingen und sich ständig im gegenseitigen Wechsel begegnen.

Die poetische Gegenarbeit eröffnet die Möglichkeit zur sinnlichen Erkenntnis im Unterschied zur rationalen Erkenntnis - für den Einzelnen, die Kultur und die Gesellschaft. In dieser Sinn - und Zweckfreiheit geht es nicht darum, eine wahre Botschaft zu erfassen, sondern um das Für-wahr-nehmen des Kunstwerks. Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was es ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen. über Unterschiede zwischen sinnliche Erkenntnis und rationale Erkenntnis kann man sich wahrscheinlich streiten.
Danke für die Arbeit. Ich habe was reingeschrieben.



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So 3. Jan 2021, 07:06

Stefanie hat geschrieben :
Sa 2. Jan 2021, 20:31
was genau
Dieser Anspruch dürfte bereits ein gewisses Problem darstellen. Ein Beispiel: Ich kann dir sagen, was genau das Ergebnis der Addition 7 + 5 ist, aber ich kann dir nicht sagen, was genau die Grenze von orange und rot ist :)

Ich will aber dennoch versuchen, im Laufe des Tages etwas dazu zu schreiben.




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Jörn Budesheim
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So 3. Jan 2021, 07:29

Wie klein doch die Welt ist. Gerade habe ich angefangen, ein Interview mit Rudi Fuchs zu lesen, da finde ich folgendes, was natürlich perfekt hierher passt. Also poste ich die entsprechende Sequenz hier. Rudi Fuchs hat 1982 die documenta geleitet. Hier schreibt er über den Unterschied zwischen Form (wie) und Inhalt (was).
Rudi Fuchs hat geschrieben : ... Bei ihm [Streinberg] geht es darum, was gemalt wird, während große Künstler, denen das Was egal ist, nach dem Wie fragen. Obgleich Picasso wie schon die Künstler des 17. Jahrhunderts traditionelle Themen wie Akt in der Landschaft, Stilleben, Porträt, Frau mit Mandoline beackerte, steht er für eine ganz neue Malerei. Und das gewiss deshalb, weil ihm das Wie wichtiger war als das Was. Selbst sein Gemälde Guernica, – im Grunde, wie ich finde, nicht sein bestes -, ist ein ganz normales Schlachtenbild, das auf die Alexanderschlacht mit zu Boden stürzenden Pferden zurückgeht. Vorwiegend durch die Art, wie Picasso sein Bild anlegte, ist es ein ganz besonderes und anders als andere Schlachtenbilder geworden. Auch Beuys hat als Zeichner thematisch ganz und gar nichts erfunden. Er zeichnete Hirsch, Frau und Kind, also nichts Neues oder Ungewöhnliches. Aber wenn ich sah, wie er das tat, stockte mir der Atem. So ungeheuerlich war das. Dabei wusste er selbst nicht, wie das ging, was er wollte. Er fing einfach damit an, eine Frau zu zeichnen.
Das heißt natürlich jetzt nicht, dass Form und Inhalt grundsätzlich streng getrennte Entitäten sind. Die Art und Weise wie Joseph Beuys gezeichnet hat - sein sensibler, teilweise zögerlicher, meist offener Strich - hat natürlich immer auch eine inhaltliche Dimension. Der oft virtuose, entschlossene und meist wohlgesetzte Strich Picassos könnte fast ein Gegenstück dazu sein. Alles was man in der Kunst "sagt", muss man natürlich irgendwie "sagen". Und wie man es "sagt", das ändert in der Regel auch das, was zum Ausdruck kommt.

Wenn wir hingegen im Alltag miteinander reden, dann kann es passieren, dass das Wie relativ stark in den Hintergrund tritt, weil unser Hauptinteresse dem Was gilt. (Was ist der kürzeste Weg zum Kino? Was brauche ich, um eine Bouillabaisse zu kochen.) In der Lyrik drehen sich diese Verhältnisse manchmal um. Die Form steht dann im Vordergrund und was gesagt ist, bleibt gelegentlich/oft sogar unklar. Diese Verfremdung macht gelegentlich/oft das, was wir sonst alltäglich tun, plötzlich "unselbstverständlich". Wir stocken, begreifen nicht gleich, worum es geht, halten inne, sind irritiert, müssen noch mal genauer hinschauen: Es geht dabei - wie ich oben (die Autoren paraphrasierend) schrieb - manchmal um: Unterbrechung, Innehalten und Entschleunigung. In der ästhetischen Erfahrung schert man aus dem Gewohnten und Bekannten aus - eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens.

Ich schreibe ganz bewusst oben: "Manchmal, oft, gelegentlich..." es kann immer natürlich immer auch anders sein, es gibt schließlich keine Naturgesetze der Kunst. Es geht hier - nach meiner Einschätzung - erstmal darum, ein Gefühl dafür zu bekommen, was die Autorin "ungefähr" meint, und nicht "was genau" sie sagt. Das Vage ist hier vielleicht sogar präziser als das Präzise, weil es dem Gegenstand mehr entspricht :)

Wichtig: man kommt hier auch nicht herein, wenn man nicht einfach durch die Tür geht! Das Erleben eines Gedichts lässt sich durch keinen vorbereitenden Diskurs ersetzen. Und wenn man das Falsche erwartet, zum Beispiel irgendein Verstehen nach Kriterien, irgendeinen Kunstalgorithmus, dann bleibt man meistens draußen. Von Hannah Arendt stammt der Ausdruck "Denken ohne Geländer". Ich kenne dieses Zitat nicht aus dem Zusammenhang und weiß daher auch nicht, was sie selbst damit meint. Ziemlich sicher ist aber, dass es für die Kunst fast immer gilt. Es gibt hier meist nichts, woran man sich festhalten kann und was die Richtung vorgibt. Doch diese Unsicherheit ist oft Teil dessen, worum es geht!




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So 3. Jan 2021, 08:09

Wenn man sich in der eigenen Wohnung mal ein wenig umgeschaut, was es da zu sehen gibt, dann dürfte vieles einen ziemlich klar definierten Zweck haben und auch gemäß diesem Zweck produziert worden sein (von anonymen Kräften): ein Tisch, ein Stuhl, ein Sofa, Schuhe, ein Kissen, ein Rucksack, eine Lampe, ein Bügelbrett, ein Regal, ein Thermostat, eine Vase, eine Kerze ... all diese Dinge wurden mit einer bestimmten Absicht zu einem bestimmten Zweck produziert. Man kann sie zwar zweckentfremden, aber das ändert nichts daran, dass sie aus diesem Zweck und mit dieser Absicht (ein x zu sein) produziert wurden.




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Kersten Knipp bei Facebook hat geschrieben : Schönheit

Zerknittert am Morgen. Gerade vier Stunden hat es für den Schlaf gereicht diese Nacht, mehr haben die Nerven nicht zugelassen. Zu groß die Erregung, die literarische Erfahrung. Seit Wochen treibt mich, nach Jahren und Jahrzehnten beim Sachbuch, der Gedanke, es mal wieder mit dem Roman zu versuchen, und zwar auf der Suche nach Schönheit. Schönheit allerdings jenseits dessen, was Marcel-Reich Ranicki "Inhaltismus" nannte, Schönheit jenseits von Handlung also. Ich möchte nicht wissen, was eine Figur in einem Roman tut, wohin sie geht, in wen sie sich etwa verliebt und was sie dann tut.

Keine Psychologie, keine Soziologie, bitte. Stattdessen: Sprache als Sprache als Sprache. Sprache, die sich selbst ausstellt, die auf sich selbst lenkt, ihre Syntax, ihre Worte, vor allem die Bilder, die sie malt. Kleine Szenen, Evokationen jenseits der Handlung. Sprache, die wie Musik sich selbst genügt, Motive entwickelt und umspielt, sie dann in Varianten aufgreift und exploriert, erkundet und auf bislang Ungesagtes abklopft.

Klar, ohne Handlung geht das nichts, nichts geht bei Sprache ohne Inhalt, aber immerhin er lässt sich in den Hintergrund stellen. Dergleichen, kleine Szenen, habe ich zuletzt im "Englischen Patienten" von Ondaatje gelesen, und nun habe ich die freie Zeit zwischen den Jahren genutzt, die englischsprachige Literatur auf Vergleichbares zu durchforsten. Gestoßen bin ich dann aber auf einen Roman aus dem deutschen Sprachraum.

Nämlich Robert Seethaler, "Der letzte Satz". Über Gustav Maler zu schreiben, hat einen Vorteil: Man kennt ihn. Der Autor braucht ihn nicht vorzustellen, nichts zu erfinden, als wäre er eine fiktive Person. Dazu die freie Form, immerhin ist es ein Roman. So kann Seethaler spielen, in den Zeiten springen, die Vergangenheit in hartem Schnitt an die Gegenwart anschließen, zwischen New York, Paris und Paris umherreisen, kleine Szenen aufgreifen, die in kein äußeres Handlungsgefüge einzurasten sind. Stattdessen kleine Erkundungen kleiner Momente, impressionistisch grundierte Entfaltungen von Emotion, die Evokation der kleinen Dinge, all dies jenseits des plots.

Das ist so bestechend, so schön, und so anregend, dass es mir den Schlaf geraubt hat. Wenn Kunst, die in den Körper geht, so intensiv ist wie Kaffee: Dann, behaupte ich, lässt sich sagen, sie sei schön.




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Stefanie hat geschrieben :
Sa 2. Jan 2021, 20:31
über Unterschiede zwischen sinnliche Erkenntnis und rationale Erkenntnis kann man sich wahrscheinlich streiten.
Sicher, darüber kann man und soll man streiten. Ich bin selbst kein Freund, diese beiden Erkenntnisformen gegeneinander zu setzen oder gar auszuspielen.

Zwei/drei Dinge (die nicht gerade originell sind) fallen mir auf die Schnelle ein, um diesen Unterschied dennoch etwas abzugewinnen: die sinnliche Erkenntnis ist dichter am Besonderen/Konkreten und weiter entfernt vom Abstrakten/Allgemeinen. Die sinnliche Erkenntnis ist vielleicht weniger analytisch und mehr synthetisch/"ganzheitlich". Sie ist auf diese Weise vielleicht dichter am leiblichen/körperlichen (und damit etwas weniger distanziert). Zudem ist die sinnliche Erkenntnis in der Regel feinkörniger. Diese Punkte hängen natürlich irgendwie alle zusammen vermute ich.




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Stefanie hat geschrieben :
Di 29. Dez 2020, 23:10
Ich bin doch kein Versuchskanninchen.
Kunstwerke sind allerdings ziemlich oft genau das: offene Versuchsanordnungen. Der Künstler kann dabei sein eigenes und natürlich damit auch das erste Versuchskaninchen sein.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 3. Jan 2021, 09:20
feinkörniger
Was meinst du damit genau? „Feinkörnig“ hört sich für mich so an, wie wenn das sinnlich Erfahrene gegenüber dem rational Erdachten eine höhere Auflösung hätte, eine grössere Informationsdichte. Dazu passt vielleicht auch der Gedanke, dass die sinnliche Erfahrung ‚synthetischer‘ ist. Von synthetischen Urteilen wissen wir ja, dass sie den Begriffen Informationen hinzulegen, also ein Mehr an Informationen schöpfen, als da in den Begriffen von den Dingen drin steckt.
Aber inwiefern gilt das für die sinnliche Erfahrung, dass sie „feinkörnigere“ Erkenntnis möglich machen soll als vielleicht analytische Verfahren?



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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Ein Beispiel für "feinkörniger":
SRF.ch hat geschrieben : Wie viele Farben kann der Mensch tatsächlich wahrnehmen? Etwa 200 Töne, heisst auf der Webseite, Link öffnet in einem neuen Fenster der Universität Mannheim – und von diesen 200 jeweils 500 unterscheidbare Helligkeitsstufen. Rechne man noch die möglichen Aufhellungen durch den Weissanteil im Farbton ein, komme man auf die Summe von ungefähr 20 Millionen Farben. Doch ein experimenteller Nachweis einer solchen Zahl dürfte schwer fallen, allein schon wegen des Aufwandes.
Ich habe jetzt auf die Schnelle keine Quelle gefunden, wie viele Farbwörter Menschen haben, das dürfte auch über die Zeiten und Kulturen hinweg ziemlich variieren. Aber wie viel es auch immer sein mögen: sicherlich deutlich weniger als die Farben, die man sinnlich unterscheiden kann.




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Fr 12. Mär 2021, 17:12

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