Re: kʊnst und kʊlˈtuːɐ̯
Verfasst: So 20. Dez 2020, 19:34
Einer meiner Lieblings-Ausstellungstitel lautet: "Dinge, die wir nicht verstehen" :)
Das reicht mir aber oft nicht. Ich bin neugierig, und es ist daher oft unbefriedigend, wenn man in Fragen stecken bleibt. Es muss nicht unbedingt zu einem vollständigen Verstehen führen, dessen Eintritt ich bei mir auch bezweifel : ). Nur, es macht keinen Spass, mangels Wissen am ausgestreckten Arm quasi neugiermässig zu verhungern.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 20. Dez 2020, 19:50Diese Form der Offenheit, die sogar soweit führen kann, dass einem "noch nicht mal klar ist, was ich sehe", ist doch für viele Kunstwerke kennzeichnend und ein ganz wichtiger Aspekt der Kunst überhaupt.
Ich zitiere diesen Text, nicht weil ich mit jeder Zeile einverstanden bin, sondern weil mir der Aspekt der Absichtslosigkeit wichtig erscheint. Vielleicht ist der Verweis darauf nicht gerade originell, aber wichtig!Kunstforum: Vom Sinn der Kunst - I. Kulturtheoretische Essays, 2018
von Marion Strunk · S. 58 - 69
III Wirken ohne Absicht
Der Kunstbereich kann für sich nicht in Anspruch nehmen, etwas vom gesellschaftlichen Ganzen Abgehobenes zu repräsentieren. Aber in der Kunst ist die Intention angelegt, auf eine spezifische Weise wirken zu wollen. Der ihr zugeschriebene Eigensinn zeigt sich in den Fähigkeiten von Innehalten und Entschleunigung und darin, nicht den Forderungen der Zeit zu folgen. Kunst wäre dann als „eine Gegenarbeit“ zu den Verhältnissen zu beschreiben, die nicht im Sinne eines bloßen Dagegen-seins agiert oder dem Bild einer Gegenkultur entspricht. Gegenarbeit bezeichnet vielmehr eine Phase der Unterbrechung, um die ästhetische Differenz zu den Zuständen des Gewohnten und Bekannten auszuloten. Wie eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens.
Die ästhetische Form lässt sich dabei in ihrer Gegenstrebigkeit nicht gezielt produzieren oder stringent zum Inhalt eines Vorhabens machen. Das wäre mit Didaktik, Propaganda oder Agitation gleich zu setzen, würde an Botschaften, Programmen oder Direktiven erinnern. Der ästhetischen Form ist, im Gegenteil, die Geste der Poesie immanent, eine Kraft, die sich in ihrem Wirken von ihrer Ursache löst. Wirkung lässt sich jedoch nicht konstruierend erzeugen – sie geschieht. Dabei ereignet sie sich umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen, sondern ihr die Chance beigegeben ist, sich in einem Verlauf eines Prozesses zu entwickeln. Und das mittels zweckfreiem Sehen und Erkennen, unbestimmt und unvorhersehbar, einem Ereignis vergleichbar.
Der Verzicht, die Gegenarbeit für eine spezielle Absicht zu instrumentalisieren, macht eine Deutungspflicht überflüssig. Thema ist nicht das Licht der Moderne, das Licht, das ins Dunkle fällt, wie von der Aufklärung oder den verschiedenen Avantgarden intendiert. Es ist die „große Vernunft der Sinne“, die erkennt, dass Licht und Dunkel einander bedingen und sich ständig im gegenseitigen Wechsel begegnen.
Die Befragung der Einzelnen, der Kultur und der Gesellschaft als Kunst zu vollziehen, erwirkt sinnliches Erkennen im Unterschied zu rationaler Erkenntnis. In dieser Sinnfreiheit geht es nicht darum, eine Wahrheit zu erfassen, sondern vielmehr um ein Für-wahr-nehmen einer Gegebenheit. Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was sie ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen.
Tja...gut, es steht oben kulturtheoretisch Essay, aber muss es so kompliziert geschrieben sein? Das toppt jeden juristischen Text. Ich war so frei und habe es etwas markiert..Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 25. Dez 2020, 07:16Kunstforum: Vom Sinn der Kunst - I. Kulturtheoretische Essays, 2018
von Marion Strunk · S. 58 - 69
III Wirken ohne Absicht
Der Kunstbereich kann für sich nicht in Anspruch nehmen, etwas vom gesellschaftlichen Ganzen Abgehobenes zu repräsentieren. Aber in der Kunst ist die Intention angelegt, auf eine spezifische Weise wirken zu wollen. Der ihr zugeschriebene Eigensinn zeigt sich in den Fähigkeiten von Innehalten und Entschleunigung und darin, nicht den Forderungen der Zeit zu folgen. Nr. 1 Kunst wäre dann als „eine Gegenarbeit“ zu den Verhältnissen zu beschreiben, die nicht im Sinne eines bloßen Dagegen-seins agiert oder dem Bild einer Gegenkultur entspricht. Gegenarbeit bezeichnet vielmehr eine Phase der Unterbrechung, um die ästhetische Differenz zu den Zuständen des Gewohnten und Bekannten auszuloten. Wie eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens.
Die ästhetische Form lässt sich dabei in ihrer Gegenstrebigkeit nicht gezielt produzieren oder stringent zum Inhalt eines Vorhabens machen. Das wäre mit Didaktik, Propaganda oder Agitation gleich zu setzen, würde an Botschaften, Programmen oder Direktiven erinnern. Der ästhetischen Form ist, im Gegenteil, die Geste der Poesie immanent, eine Kraft, die sich in ihrem Wirken von ihrer Ursache löst. Wirkung lässt sich jedoch nicht konstruierend erzeugen – sie geschieht. Dabei ereignet sie sich umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen, sondern ihr die Chance beigegeben ist, sich in einem Verlauf eines Prozesses zu entwickeln. Und das mittels zweckfreiem Sehen und Erkennen, unbestimmt und unvorhersehbar, einem Ereignis vergleichbar.
Der Verzicht, die Gegenarbeit für eine spezielle Absicht zu instrumentalisieren, macht eine Deutungspflicht überflüssig. Thema ist nicht das Licht der Moderne, das Licht, das ins Dunkle fällt, wie von der Aufklärung oder den verschiedenen Avantgarden intendiert. Es ist die „große Vernunft der Sinne“, die erkennt, dass Licht und Dunkel einander bedingen und sich ständig im gegenseitigen Wechsel begegnen.
Die Befragung der Einzelnen, der Kultur und der Gesellschaft als Kunst zu vollziehen, erwirkt sinnliches Erkennen im Unterschied zu rationaler Erkenntnis. In dieser Sinnfreiheit geht es nicht darum, eine Wahrheit zu erfassen, sondern vielmehr um ein Für-wahr-nehmen einer Gegebenheit. Nr. 2 Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was sie ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen.
Danke für die Arbeit. Ich habe was reingeschrieben.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 31. Dez 2020, 10:14Ich habe mal versucht, den Text einfacher zu formulieren. Ich hoffe, dass ich dabei nicht zu viel verändert habe, sondern dass ich dicht am Original geblieben bin:
Die Kunst ist ein Teil der Gesellschaft, sie steht nicht neben oder über der Gesellschaft. Dennoch ist sie eine Form der Gegenarbeit. Gegenarbeit bedeutet nicht einfach "dagegen sein" oder eine Gegenkultur zu etablieren. Es geht vielmehr um Unterbrechung, Innehalten und Entschleunigung. In der ästhetischen Erfahrung schert man aus dem Gewohnten und Bekannten aus - eine Geste des Zögerns im gängig gewordenen Impuls des Wegwerfens. Aha, das habe ich jetzt verstanden.
Die Kunst lässt sich nicht beherrschen; die ästhetische Form kann nicht gezielt produziert werden: Das liefe auf Didaktik, Propaganda oder Agitation hinaus. Statt um Botschaften, Programme oder Direktiven geht es um Poesie. Die poetische Kraft löst sich in ihrem Wirken von ihren Ursachen, sie geschieht einfach. Sie lässt sich nicht nach Regeln oder einem Kriterienkatalog erzeugen. Dabei entfaltet sich diese Kraft umso eindrucksvoller, je weniger sie systematischen Absichten unterworfen ist. Sie ereignet sich im Spiel, im zweckfreiem Sehen und Erkennen: unbestimmt, unkontrollierbar und unvorhersehbar. Wenn die Kunst als Gegenarbeit nicht im Dienste spezieller Absichten steht, gibt es auch keine Pflicht zur (Ein-)Deutung. mal davon abgesehen dass mir nicht ganz klar ist, was genau mit Form gemeint ist, stolper ich erneut über zweckfreies Sehen und Erkennen. Gibt es das überhaupt, zweckfreies Erkennen? Mit Absichten ist gemeint, eine bestimmte Wirkung zu erzielen, oder. Aber doch nicht, aus Trocknerstaub irgendetwas zu machen, oder?
Die Kunst ist nicht das Licht der Moderne, das Licht, das ins Dunkle fällt, wie von der Aufklärung oder den verschiedenen Avantgarden beabsichtigt. Sie ist die „große Vernunft der Sinne“. Sie zeigt, dass Licht und Dunkel einander bedingen und sich ständig im gegenseitigen Wechsel begegnen.
Die poetische Gegenarbeit eröffnet die Möglichkeit zur sinnlichen Erkenntnis im Unterschied zur rationalen Erkenntnis - für den Einzelnen, die Kultur und die Gesellschaft. In dieser Sinn - und Zweckfreiheit geht es nicht darum, eine wahre Botschaft zu erfassen, sondern um das Für-wahr-nehmen des Kunstwerks. Die Betrachtenden, Zuhörenden und Lesenden sind frei zu entscheiden, was es ihnen bedeutet und was sie damit anfangen, beenden oder fortführen wollen. über Unterschiede zwischen sinnliche Erkenntnis und rationale Erkenntnis kann man sich wahrscheinlich streiten.
Dieser Anspruch dürfte bereits ein gewisses Problem darstellen. Ein Beispiel: Ich kann dir sagen, was genau das Ergebnis der Addition 7 + 5 ist, aber ich kann dir nicht sagen, was genau die Grenze von orange und rot ist :)
Das heißt natürlich jetzt nicht, dass Form und Inhalt grundsätzlich streng getrennte Entitäten sind. Die Art und Weise wie Joseph Beuys gezeichnet hat - sein sensibler, teilweise zögerlicher, meist offener Strich - hat natürlich immer auch eine inhaltliche Dimension. Der oft virtuose, entschlossene und meist wohlgesetzte Strich Picassos könnte fast ein Gegenstück dazu sein. Alles was man in der Kunst "sagt", muss man natürlich irgendwie "sagen". Und wie man es "sagt", das ändert in der Regel auch das, was zum Ausdruck kommt.Rudi Fuchs hat geschrieben : ... Bei ihm [Streinberg] geht es darum, was gemalt wird, während große Künstler, denen das Was egal ist, nach dem Wie fragen. Obgleich Picasso wie schon die Künstler des 17. Jahrhunderts traditionelle Themen wie Akt in der Landschaft, Stilleben, Porträt, Frau mit Mandoline beackerte, steht er für eine ganz neue Malerei. Und das gewiss deshalb, weil ihm das Wie wichtiger war als das Was. Selbst sein Gemälde Guernica, – im Grunde, wie ich finde, nicht sein bestes -, ist ein ganz normales Schlachtenbild, das auf die Alexanderschlacht mit zu Boden stürzenden Pferden zurückgeht. Vorwiegend durch die Art, wie Picasso sein Bild anlegte, ist es ein ganz besonderes und anders als andere Schlachtenbilder geworden. Auch Beuys hat als Zeichner thematisch ganz und gar nichts erfunden. Er zeichnete Hirsch, Frau und Kind, also nichts Neues oder Ungewöhnliches. Aber wenn ich sah, wie er das tat, stockte mir der Atem. So ungeheuerlich war das. Dabei wusste er selbst nicht, wie das ging, was er wollte. Er fing einfach damit an, eine Frau zu zeichnen.
Kersten Knipp bei Facebook hat geschrieben : Schönheit
Zerknittert am Morgen. Gerade vier Stunden hat es für den Schlaf gereicht diese Nacht, mehr haben die Nerven nicht zugelassen. Zu groß die Erregung, die literarische Erfahrung. Seit Wochen treibt mich, nach Jahren und Jahrzehnten beim Sachbuch, der Gedanke, es mal wieder mit dem Roman zu versuchen, und zwar auf der Suche nach Schönheit. Schönheit allerdings jenseits dessen, was Marcel-Reich Ranicki "Inhaltismus" nannte, Schönheit jenseits von Handlung also. Ich möchte nicht wissen, was eine Figur in einem Roman tut, wohin sie geht, in wen sie sich etwa verliebt und was sie dann tut.
Keine Psychologie, keine Soziologie, bitte. Stattdessen: Sprache als Sprache als Sprache. Sprache, die sich selbst ausstellt, die auf sich selbst lenkt, ihre Syntax, ihre Worte, vor allem die Bilder, die sie malt. Kleine Szenen, Evokationen jenseits der Handlung. Sprache, die wie Musik sich selbst genügt, Motive entwickelt und umspielt, sie dann in Varianten aufgreift und exploriert, erkundet und auf bislang Ungesagtes abklopft.
Klar, ohne Handlung geht das nichts, nichts geht bei Sprache ohne Inhalt, aber immerhin er lässt sich in den Hintergrund stellen. Dergleichen, kleine Szenen, habe ich zuletzt im "Englischen Patienten" von Ondaatje gelesen, und nun habe ich die freie Zeit zwischen den Jahren genutzt, die englischsprachige Literatur auf Vergleichbares zu durchforsten. Gestoßen bin ich dann aber auf einen Roman aus dem deutschen Sprachraum.
Nämlich Robert Seethaler, "Der letzte Satz". Über Gustav Maler zu schreiben, hat einen Vorteil: Man kennt ihn. Der Autor braucht ihn nicht vorzustellen, nichts zu erfinden, als wäre er eine fiktive Person. Dazu die freie Form, immerhin ist es ein Roman. So kann Seethaler spielen, in den Zeiten springen, die Vergangenheit in hartem Schnitt an die Gegenwart anschließen, zwischen New York, Paris und Paris umherreisen, kleine Szenen aufgreifen, die in kein äußeres Handlungsgefüge einzurasten sind. Stattdessen kleine Erkundungen kleiner Momente, impressionistisch grundierte Entfaltungen von Emotion, die Evokation der kleinen Dinge, all dies jenseits des plots.
Das ist so bestechend, so schön, und so anregend, dass es mir den Schlaf geraubt hat. Wenn Kunst, die in den Körper geht, so intensiv ist wie Kaffee: Dann, behaupte ich, lässt sich sagen, sie sei schön.
Sicher, darüber kann man und soll man streiten. Ich bin selbst kein Freund, diese beiden Erkenntnisformen gegeneinander zu setzen oder gar auszuspielen.
Was meinst du damit genau? „Feinkörnig“ hört sich für mich so an, wie wenn das sinnlich Erfahrene gegenüber dem rational Erdachten eine höhere Auflösung hätte, eine grössere Informationsdichte. Dazu passt vielleicht auch der Gedanke, dass die sinnliche Erfahrung ‚synthetischer‘ ist. Von synthetischen Urteilen wissen wir ja, dass sie den Begriffen Informationen hinzulegen, also ein Mehr an Informationen schöpfen, als da in den Begriffen von den Dingen drin steckt.