Philipp Hübl: Framing, Schwurbler und Schwätzer (11)

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Consul
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Di 8. Apr 2025, 03:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 29. Mär 2025, 11:20
Die Vorlesung ist sehens-, oder eigentlich hörenswert. Zwei Einwände:

Die Stelle mit den Flüchtlingen hat mich nicht überzeugt. Hieß es nicht im Vortrag, dass etwa die Hälfte der Wörter auf „-ling“ positiv und die andere negativ konnotiert ist? Das ist doch ein starkes Argument, auf „Flüchtling“ zu verzichten und stattdessen „Flüchtende“ zu wählen, finde ich.
Ein sprachliches Argument dagegen: Ein Flüchtender befindet sich (noch) auf der Flucht, wohingegen ein Flüchtling seine Flucht bereits beendet haben kann. Die ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland sind keine Fliehenden mehr, weil sie nicht mehr auf der Flucht sind.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 29. Mär 2025, 11:20
Auch die Passage über die Häuptlinge fand ich problematisch. Der Begriff ist kolonialistisch belastet – und zwar gründlich. Er war nie Ausdruck von Respekt vor den betroffenen Kulturen, darüber muss man nicht diskutieren. Zudem steht er nicht isoliert da, sondern ist Teil eines ganzen Netzes kolonialer Bezeichnungen und "Erzählungen", durchzogen von Karikaturen und Bildern, die mir selbst noch aus der Kindheit vertraut sind. Man kann ihn nicht einfach aus diesem Gefüge herauslösen und nur für sich betrachten, finde ich.
Das Wort "Häuptling" stammt aus präkolonialer Zeit und hat an sich keinerlei abwertende Bedeutung.
"häuptling, m. 1) oberhaupt, anführer. das wort ist zufrühest im altfriesischen bezeugt als hâvding und hâvdling, wo es ein mitglied des friesischen adels bezeichnet (Richthofen 799ᵇ. 800ᵇ); in welchem sinne die hochdeutsche form häuptling noch Adelung (1796) ausschlieszlich anführt. wenig später ist das wort in allgemeinerer bedeutung von den hochdeutschen schriftstellern häufig gebraucht: dasz nicht nur jeder häuptling (unter den deutschen dichtern), sondern auch jeder angeordnete seine selbstständigkeit festhielt. Göthe 31, 40; den Saracenen, die Luceras burg bewohnen, bin zum häuptling ich gesetzt. Uhland ged. 182.
2) häuptling, vinea capitata, im gegensatz zur armrebe, vinea brachiata."

Grimmsches Wörterbuch: https://www.dwds.de/wb/dwb/h%C3%A4uptling#GH03669
"Häuptling: 1) ein an der Spitze Stehender, ein gebietender Führer, ein Vornehmer, s. Haupt 4: H–e der Indianer; Nach den mündlichen Erzählungen eines Onondaga-H–s. Freiligrath H. 303; Daß nicht nur jeder H., sondern auch jeder Angeordnete seine Selbständigkeit festhielt. G. 27, 32 etc. —
2) Weinb.: Rebe, die sich nicht in Arme theilt, Armrebe (Vinea brachiata), sondern ungetheilt emporrankt (capitata): Stützte man sie bald als H. von Mannshöhe durch Pfähle .. oder als Armrebe durch Gaffeln. V. Georg. 129."

Sanders' Wörterbuch der deutschen Sprache: https://sanders.bbaw.de/woerterbuch/art ... 08__2__072



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Consul
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Di 8. Apr 2025, 04:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Apr 2025, 14:26
Hmm... Es gibt Menschen, die der Ansicht sind, dass man den Begriff aus bestimmten Gründen nicht nutzen sollte. Das wäre keine Tabuisierung, sondern eine Handlung aus (vermeintlich oder tatsächlicher) rationaler Einsicht. Hübl stellt deren Gründe infrage. Ob er in der Vorlesung von Tabuisierung gesprochen hat, weiß ich nicht mehr. Es wurden (nach meiner Erinnerung) auch Zusammenhänge diskutiert, in denen Verwendung oder Nichtverwendung von bestimmten Begriffen Gruppenzugehörigkeit signalisiert.

Ich würde nicht von Tabuisierung sprechen, weil das in gewisser Hinsicht ein "Angriff" auf die Rationalität derjenigen ist, die den Begriff aus bestimmten Gründen nicht nutzen wollen.
Ein aktuelles Beispiel:

"Komiker Dieter Hallervorden sorgte in einer ARD-Show mit dem Gebrauch des "N-Wortes" und "Z-Wortes" für Kritik."

Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama ... e-100.html

Es besteht ein relevanter Unterschied zwischen der objektsprachlichen und der metasprachlichen Verwendung eines Wortes. (Im Englischen ist von der use-mention distinction die Rede.) Wenn schon die bloße öffentliche Erwähnung der Wörter "Neger[kuss]" und "Zigeuner[schnitzel]" tabuisiert wird, dann steckt dahinter der Aberglaube an Sprachmagie – d.h. daran, dass allein das Aussprechen oder Ausschreiben bestimmter Wörter unmittelbar Unheil (Böses, Übles, Schlimmes) heraufbeschwört.

Hallervorden sagt in dem Sketch: "Wenn ich das gewusst hätte, dass man das nicht mehr sagt jetzt, Zigeunerschnitzel und so, Negerkuss und so…"
Das ist zweifellos eine metasprachliche Wortverwendung im Sinn einer Erwähnung; und ich finde es inakzeptabel, dass Hallervorden allein dafür des Rassismus bezichtigt wird.
(Was ich kritisiere, ist, dass Hallervorden nichts Besseres für die Neuauflage seines Sketch-Klassikers eingefallen ist als diese billige Provokation mit vorhersehbarer Empörungsreaktion.)
Zuletzt geändert von Consul am Di 8. Apr 2025, 05:03, insgesamt 2-mal geändert.



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Quk
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Di 8. Apr 2025, 04:38

Consul hat geschrieben :
Di 8. Apr 2025, 03:48
Ein Flüchtender befindet sich (noch) auf der Flucht, wohingegen ein Flüchtling seine Flucht bereits beendet haben kann.
Das stimmt. -- Dafür gibt es noch ein drittes Wort: Der Geflüchtete.




Timberlake
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Di 8. Apr 2025, 05:11

Das hätte zumindest den Vorteil, das dem oder diejenige als Flüchtling ein möglicher negativer Klang erspart bleibt.
Allerdings würde der Flüchtling als Geflüchtete dann auch nicht positven klingen ..




Timberlake
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Di 8. Apr 2025, 05:42

Consul hat geschrieben :
Di 8. Apr 2025, 04:31

Hallervorden sagt in dem Sketch: "Wenn ich das gewusst hätte, dass man das nicht mehr sagt jetzt, Zigeunerschnitzel und so, Negerkuss und so…"
Das ist zweifellos eine metasprachliche Wortverwendung im Sinn einer Erwähnung; und ich finde es inakzeptabel, dass Hallervorden allein dafür des Rassismus bezichtigt wird.
(Was ich kritisiere, ist, dass Hallervorden nichts Besseres für die Neuauflage seines Sketch-Klassikers eingefallen ist als diese billige Provokation mit vorhersehbarer Empörungsreaktion.)
Dazu nur mal zum Vergleich ...
  • Beispiel "Framing" ( Einrahmungseffekt)
    Kurzfassung ( nach Tversky/Kahnemann 1981)
    (1) Variante 1: Bei einer Tätigkeit legt die Überlebenswahrscheeiblichkeit bei 75%
    (2) Variante 2: Bei einer Tätigkeit legt das Sterberisiko bei 25%
    Etwa 80 Prozent der Probanden wählten Variante1 und nur etwa 30 Prozent der Probanden Variante2 , obwohl sich die Fälle faktisch nicht unterscheiden.
    Philipp Hübl .. Philipp Hübl: Framing, Schwurbler und Schwätzer (11).. 5:10
(1) Variante 1: Schokokuss und Schnitzel
(2) Variante 2: N- wort und Z- wort
Etwa ....
Zuletzt geändert von Timberlake am Di 8. Apr 2025, 05:56, insgesamt 3-mal geändert.




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Consul
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Di 8. Apr 2025, 05:51

Pragmatix hat geschrieben :
Sa 29. Mär 2025, 13:48
Der Indianer ist das beste Beispiel, dass solche Theorien fragwürdig sind. Die wurden verdrängt, ausgerottet, verachtet, trotzdem hat sich der Begriff als positiver gehalten, weil man die Menschen eben auch anders dargestellt hat. Das gleiche würde mit allen negativen Begriffen passieren. Und wenn man Bilderbücher für Kinder macht, bei denen Arzt für Männlein und Weiblein genommen wird, sieht niemand nur Männer.
Das ganze Spiel um solche Begriffe ist ein Machtspiel. Ich habe den Vortrag teilweise gesehen und fand ihn weder prickelnd noch negativ.
Gerade entdeckt: Auf der Website der Native American Association of Germany e.V. finden sich interessante Beiträge zum Thema Politische Korrektheit und das Wort "Indianer".
"'Indianer' - Was bringt der Verzicht auf dieses Wort? Zur Zeit ist der Schaden größer als der Nutzen.

Zu Beginn der ganzen Diskussion hatten wir die Hoffnung, dass nun endlich ein Umdenken stattfinden könnte, denn mit dem Wort "Indianer" sind in der Regel stereotype Vorstellungen verbunden, die hierzulande meistens als "positiv" bezeichnet werden. Sie führen jedoch dazu, dass eine Begegnung mit Native Americans auf Augenhöhe nahezu unmöglich gemacht wird.
Anhand vieler Kommentare im Internet wird deutlich sichtbar, dass es in Deutschland kaum ein Bewusstsein dafür gibt, wie verletzend diese Stereotypen sind. Etliche Medien sorgen mit immer den gleichen Schlagwörtern und Aussagen dafür, dass solche Vorstellungen nicht aufgelöst, sondern noch weiter zementiert werden. Hier sind nur einige Beispiele:

Held unserer Kindheit landet am Marterpfahl
Winnetou in ewige Jagdgründe geschickt
... im Indianerkostüm auf dem Kriegspfad

Solche Aussagen und die Grundeinstellung, die dahinter steckt, sind das eigentliche Problem und nicht das Wort "Indianer" - die deutsche Übersetzung für das englische Wort "Indian". Ursprünglich war dieses eine Fremdbezeichnung, doch sehr oft wurde es zu einer Eigenbezeichnung." (Quelle)

"Die Native American Association of Germany hat noch nie gefordert, das Wort "Indianer" aus dem deutschen Sprachgebrauch zu verbannen. Wir wissen bis heute nicht, woher auf einmal die Bezeichnung "das böse I-Wort" kam und wer dafür gesorgt hat, dass diese von pädagogischen Einrichtungen in Deutschland übernommen wurde. Bis jetzt konnten wir eine ähnliche Entwicklung in den USA nicht beobachten." (Quelle)
Das eigentliche Problem wird hier klar erkannt: Es ist nicht das Wort "Indianer" als solches, sondern es sind die damit verbundenen falschen Stereotype. Diese verschwinden nicht einfach dadurch, dass man das Wort "Indianer" nicht mehr verwendet und durch ein anderes ersetzt.



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Quk
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Di 8. Apr 2025, 06:03

Consul hat geschrieben :
Di 8. Apr 2025, 05:51
Das eigentliche Problem wird hier klar erkannt: Es ist nicht das Wort "Indianer" als solches, sondern es sind die damit verbundenen falschen Stereotype. Diese verschwinden nicht einfach dadurch, dass man das Wort "Indianer" nicht mehr verwendet und durch ein anderes ersetzt.
Genau meine Rede.

Jetzt könnte man noch weitergehen und grundsätzlich Fremdbezeichnungen nicht mehr benutzen. Dann sagen wir Nippon statt Japan, und die Lateiner sagen Deutschland statt Alemania.

Der Begriff "Native American" ist übrigens auch eine Fremdbezeichnung. Der Name "Amerika" stammt bekanntlich nicht von den Menschen, die vor 10.000 Jahren dort einwanderten. Ebenso nannten sich die Neanderthaler und die Pekingmenschen damals anders.
Zuletzt geändert von Quk am Di 8. Apr 2025, 06:15, insgesamt 1-mal geändert.




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Consul
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Di 8. Apr 2025, 06:14

Consul hat geschrieben :
Di 8. Apr 2025, 05:51
Native American Association of Germany e.V.
Wenn man "Indianer" durch "Uramerikaner" ersetzt, dann hat man das Problem, dass nicht alle Uramerikaner Indianer sind; denn es gibt daneben die Aleuten und die Eskimos.
(Ein analoges Problem hat man, wenn man "Zigeuner" durch "Sinti & Roma" ersetzt; denn nicht alle Zigeuner gehören zu den Sinti oder Roma.)



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Consul
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Di 8. Apr 2025, 06:21

Quk hat geschrieben :
Di 8. Apr 2025, 06:03
Der Begriff "Native American" ist übrigens auch eine Fremdbezeichnung.
Ursprüngliche Fremdbezeichnungen können bekanntlich zu Selbstbezeichnungen werden.



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Quk
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Di 8. Apr 2025, 06:51

Eben.




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