Philipp Hübl: Wahrheit (3) / Wissen (4)

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Jörn Budesheim
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Mi 9. Apr 2025, 15:42

Btw.: Man kann den Fallibilismus akzeptieren, aber den Falsifikationismus ablehnen. Aber was genau ist eigentlich der Unterschied?

Just my two cents: Man könnte vielleicht sagen, Fallibilismus ist einfach der Gedanke, dass wir irrtumsanfällige Wesen sind. Im Unterschied zum Falsifikationismus ist das eine bescheidene und undogmatische Sicht, weil sie viele Methoden der Erkenntnis zulässt – je nach Kontext vielleicht auch Induktion, Verifikation und was sonst noch hilfreich sein kann. Ein schöner Slogan für diese Sicht ist: „Wir irren uns nach oben.“ Mir gefällt das, weil diese Haltung (an-)erkennt, dass wir uns irren können, aber zugleich sieht, wie viel unsere modernen Naturwissenschaften über die Wirklichkeit herausgefunden haben. Zudem wird dunser alltäglicher Wissensschatz anerkannt. Zugleich (aner-)kennt diese Sicht fundamentale Gewissheiten, die sich nicht weiter begründen lassen – etwa die eigene Existenz oder die der Außenwelt.

Erkenntnis kann auf viele Weisen gelingen – Wir sind nicht nur auf Falsifikation beschränkt.




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Quk
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Mi 9. Apr 2025, 19:55

Ich unterscheide zwischen der empirisch gewonnenen Erkenntnis, welche auf Kausalität beruht, -- und der logisch gewonnenen Erkenntnis, welche auf Gründen beruht. Logik ist zeitlos und ihre Operatoren (wenn-dann, oder, und, ja-nein etc.) basieren auf Vereinbarungen; somit ist in manchen logischen Angelegenheiten quasi zweifelsfrei die Wahrheit zu erkennen. Hingegen ist die Empirie eine zeitliche, aktive, produktive Angelegenheit; das heißt, hier gibt es immer eine Zeitachse; eine Sicht auf die Vergangenheit und eine in die Zukunft. Hinsichtlich der Vergangenheit kann ich folgende Aussage treffen: "Der Sonnenaufgang erscheint immer in Abständen von ungefähr 24 Stunden."

In dieser Aussage stecken viele Abhängigkeiten und Vagheiten, die Fragen aufwerfen: Was ist eine Sonne? Was ist ein Aufgang? Ist das überhaupt eine Sonne? Ist die Stunde absolut oder relativ? Was ist eine Erscheinung? Und so weiter. Abgesehen von diesen Vagheiten kann ich aber die genannte Aussage vorläufig und mit einem toleranten Augenzwinkern als wahr bezeichnen. Warum wahr? Weil die Aussage beschreibt, was innerhalb ihrer Vagheit der Fall ist. Der Fall ist vage. Das gehört zu dieser Wahrheit dazu. Das ist der eine Wahrheits-Faktor. Der andere Wahrheits-Faktor ist der, dass die Aussage sich auf die Vergangenheit bezieht. Diese ist aus logisch-tautologischen Gründen vergangen und somit zukünftig unveränderlich. Meine Geburt, zum Beispiel, kann ich morgen nicht mehr verhindern.

Also:
Faktor 1: Empirische Aussagen sind immer vage, und diese Vagheit berücksichtigend kann ich eventuell sagen, eine Aussage entspricht ungefähr der Wahrheit -- eben innerhalb ihres Vagheits-Puffers*. Maximal vage ist die Aussage "irgendwas ist irgendwann irgendwo". Hier geht der Puffer bis an die Grenzen. Diese Toleranz erlaubt manchmal eine pragmatische Wahrheitsbehauptung.
Faktor 2: Empirische Aussagen basieren auf Erfahrungen aus der Vergangenheit. Diese sind historisch und unveränderlich. Diese Unveränderlichkeit schützt Wahrheitsbehauptungen, denn die entsprechenden Tatsachen sind logischerweise unveränderlich.

Aber:
Da gibt es noch die Zukunft. Die Aussage "der Sonnenaufgang erscheint immer in Abständen von ungefähr 24 Stunden" könnte zukünftig nicht mehr zutreffen. Es gibt keinen logischen Grund zur Annahme, dass diese empirische Aussage ewig wahr bleibt. Damit komme ich zu dem logischen Schluss, dass diese Aussage falsch sein könnte -- trotz Faktor 1 und 2.

Kurz gesagt: Die Zukunft ist ungewiss. Somit ist auch ungewiss, ob allzeitumfassende Aussagen wahr sind.


* Ich sage gerne Phrasen wie "ich denke, dass" oder "meines Erachtens" etc. Damit kommt eine Aussage ein großes Stück näher an die Wahrheit. Zum Beispiel diese Aussage: "Ich denke, die Sonne ist heißer als die Erde". Diese Aussage ist zweifelsfrei wahr, denn ich denke tatsächlich, dass dies so ist; und dasjenige, was ich mit "ich" meine, meine ich tatsächlich auch in dieser Aussage. Wenn aber die Phrase "ich denke" wegfällt, wird das eine generelle Aussage und damit beweifelbar. Solche Phrasen sind immer ein Eingeständnis, dass man irren könnte. Deshalb benutze ich sie ganz bewusst.




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Consul
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Do 10. Apr 2025, 00:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 9. Apr 2025, 15:42
Btw.: Man kann den Fallibilismus akzeptieren, aber den Falsifikationismus ablehnen. Aber was genau ist eigentlich der Unterschied?
Der wissenschaftstheoretische Falsifikationismus umfasst zwei Thesen:
1. Erfahrungswissenschaftliche Hypothesen oder Theorien können nicht (induktiv) verifiziert, sondern nur (durch Beobachtungen, Experimente, Tests) falsifiziert werden. Der Bestätigungsgrad einer Hypothese oder Theorie hängt davon ab, wie viele Widerlegungsversuche sie unbeschadet übersteht.
2. Was wissenschaftliche Hypothesen oder Theorien von nichtwissenschaftlichen unterscheidet, ist ihre Widerlegbarkeit (durch Beobachtungen, Experimente, Tests).

Nehmen wir an, dass Wissen gerechtfertiger wahrer Glaube ist. Dann besteht der erkenntnistheoretische Fallibilismus in der These, dass man auch dann wissen kann, dass p, wenn p's Wahrheit nicht notwendigerweise aus den glaubensrechtfertigenden Beweisen für p folgt.
Das heißt, fehlbares Wissen, dass p, beruht auf Beweisen, die p's Wahrheit nicht logisch einschließen und p's Falschheit somit nicht logisch ausschließen. Bei fehlbarem Wissen, dass p, sind die Beweise für p sowohl mit p als auch mit ~p vereinbar.
An diesem Umstand—dass fehlbares Wissen die Möglichkeit eines Irrtums (falschen Glaubens) nicht ausschließt—setzt die Kritik der Infallibilisten an:
"If you are a contented fallibilist, I implore you to be honest, be naive, hear it afresh. 'He knows, yet he has not eliminated all possibilities of error.' Even if you've numbed your ears, doesn't this overt, explicit fallibilism still sound wrong?"
——————————
"Wenn Sie ein zufriedener Fallibilist sind, bitte ich Sie inständig, ehrlich und unbefangen zu sein, und es sich erneut anzuhören: 'Er weiß es, aber er hat nicht alle Möglichkeiten eines Irrtums ausgeschlossen.' Selbst wenn Sie Ihre Ohren betäubt haben, klingt dieser unverhohlene, ausdrückliche Fallibilismus nicht auch dann noch falsch?" [meine Übers.]

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. pp. 419-20)
Wenn jemand sagt, "Ich weiß es, aber ich kann mich irren", dann ist der Einwand "Wie kannst du es dann wissen?" durchaus berechtigt.

Infallibilisten meinen, dass "fehlbares Wissen", das sich später als Irrtum erweist, niemals echtes Wissen gewesen ist, sondern lediglich falscher Wissensglaube.

Lewis selbst ist ein eigentümlicher Quasi-Infallibilist:
"S knows that P iff S's evidence eliminates every possibility in which not-P – Psst! – except for those possibilities that we are properly ignoring."
——————————
"S weiß, dass P, wenn S's Beweise jede Möglichkeit eliminieren, in der nicht-P – Pst! – abgesehen von denjenigen Möglichkeiten, die wir legitimerweise ignorieren." [meine Übers.]

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. p. 425)
In seinem Aufsatz führt Lewis aus, welche vom Beweismaterial unbeseitigen Möglichkeiten epistemisch relevant sind und nicht ignoriert werden dürfen, und welche epistemisch irrelevant sind und ignoriert werden dürfen. Seine Wissenstheorie gehört in den Bereich des epistemischen Kontextualismus: https://plato.stanford.edu/entries/cont ... stemology/



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Quk
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Do 10. Apr 2025, 02:31

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 00:46
Wenn jemand sagt, "Ich weiß es, aber ich kann mich irren", dann ist der Einwand "Wie kannst du es dann wissen?" durchaus berechtigt.
Tatsächlich vermeide ich das Wort "wissen", wenn ich streng fallibilistisch philosophiere. Seit Jahren fällt mir auch bei Hübl auf, dass er oft das Wort "wissen" sagt an Stellen, wo ich ein anderes Wort benutzen würde. Aber das sind vernachlässigbare Feinheiten. Wenn Hübl sagt, "Wir wissen heute aus empirischen Studien ...", dann verstehe ich es so, dass wir die gemessenen Zahlen wissen, aber nicht notwendigerweise die Wahrheit jener These, welche aus der Empirie konstruiert wird. Also ich weiß, dass ich Hunger habe; das ist das Ergebnis meiner Empirie. Aber ich weiß nicht sicher, ob jene These, dass der Hunger vom leeren Magen verursacht wird, wahr ist.

Eigentlich habe ich noch nie einen Fallibilisten sagen hören: "Ich weiß es, aber ich kann mich irren." -- Gibt es dafür reale Zitate oder ist der Satz fiktiv?




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Consul
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Do 10. Apr 2025, 03:23

Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 02:31
Eigentlich habe ich noch nie einen Fallibilisten sagen hören: "Ich weiß es, aber ich kann mich irren." -- Gibt es dafür reale Zitate oder ist der Satz fiktiv?
Diesen habe ich mir ausgedacht, aber jeder Fallibilist muss Sätze dieser Art akzeptieren – wie auch den von Lewis: "Er weiß es, aber er hat nicht alle Möglichkeiten eines Irrtums ausgeschlossen."



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Quk
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Do 10. Apr 2025, 03:34

Ich bin Fallibilist und akzeptiere diesen Satz nicht. Warum sollte ich ihn akzeptieren müssen?

Beispielsweise sage ich auch nie den Satz "Ich weiß, dass ich nichts weiß", sondern: "Ich weiß, dass ich fast nichts weiß". Mit dem Wort "fast" wird das Allgemeinfeld aufgetrennt in mehrere Felder, und das Paradoxon ist damit aufgelöst.

Ich weiß eine ganze Menge über meine eigenen phänomenologischen Sachen. Das weiß ich, und das ist die Wahrheit.

Aber ich sage doch nicht: "Ich weiß die Lottozahlen für nächste Woche, aber ich kann mich irren."




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Consul
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Do 10. Apr 2025, 04:05

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 00:46
Infallibilisten meinen, dass "fehlbares Wissen", das sich später als Irrtum erweist, niemals echtes Wissen gewesen ist, sondern lediglich falscher Wissensglaube.
Berichtigung: Wenn es fehlbares Wissen gibt, dann erfüllt es (wie unfehlbares Wissen) die Wahrheitsbedingung und kann folglich kein falscher Glaube sein.
Fehlbares Wissen ist bzw. wäre fehlbar gerechtfertigter wahrer Glaube; und was Infallibilisten wirklich meinen, ist, dass fehlbar gerechtfertigter wahrer Glaube kein Wissen ist, und es somit kein fehlbares Wissen, sondern nur fehlbaren Glauben gibt.
Der Glaube, dass A, ist genau dann fehlbar, wenn er fehlbar gerechtfertigt (begründet) ist, d.h. wenn aus den angeführten Beweistatsachen B nicht notwendigerweise die Wahrheit der geglaubten Aussage A folgt. In diesem Fall ist die bedingte Wahrscheinlichkeit W(A/B) < 1, weil ~[](B & A) bzw. <>(B & ~A).
Laut den Infallibilisten erfordert Wissen-dass-A hingegen Folgendes: W(A/B) = 1, weil [](B & A) bzw. ~<>(B & ~A). Das heißt, die Beweise B für A müssen die Möglichkeit ausschließen, dass B wahr ist und A falsch.



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Quk
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Do 10. Apr 2025, 04:31

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 04:05
Der Glaube, dass A, ist genau dann fehlbar, wenn ...
Meiner deutschen Sprachauffassung nach ist der Begriff "Glaube" kein Element des Wahrheits-Paradigmas. Glauben ist Hoffnung oder Vermutung. Ich kann wahrlich hoffen oder vermuten. Und wenn das Erhoffte oder Vermutete sich als Tatsache herausstellt, so ist das nicht mehr länger Glaube, sondern Tatsache.

Oder meintest Du hier "Glaube" ausschließlich als Synonym für "Vermutung"?

Laut den Infallibilisten erfordert Wissen-dass-A hingegen Folgendes: W(A/B) = 1
"W(A/B) = 1 = Wissen" gilt auch für mich als Fallibilist.




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Do 10. Apr 2025, 05:10

Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 03:34
Ich bin Fallibilist und akzeptiere diesen Satz nicht. Warum sollte ich ihn akzeptieren müssen?
Weil der Fallibilismus beinhaltet, dass Wissen und möglicher Irrtum einander nicht ausschließen. Denn im Fall fehlbaren Wissens schließen die Beweise B für den Glauben, dass A, nicht die Möglichkeit aus, dass B & ~A.
Wenn du fehlbar weißt, dass A, dann kannst du die Möglichkeit, dass ~A, auf der Grundlage deines Beweismaterials B nicht ausschließen – was bedeutet, dass du einen möglichen Irrtum nicht ausschließen kannst.
Für Infallibilisten klingt es höchst verwunderlich und geradezu widersprüchlich, wenn jemand z.B. sagt: "Ich weiß, dass sich meine Frau derzeit in Hamburg aufhält, obwohl es ungewiss ist, ob sie dort ist, weil sie möglicherweise woanders ist."



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Do 10. Apr 2025, 05:22

Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 04:31
Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 04:05
Der Glaube, dass A, ist genau dann fehlbar, wenn ...
Meiner deutschen Sprachauffassung nach ist der Begriff "Glaube" kein Element des Wahrheits-Paradigmas. Glauben ist Hoffnung oder Vermutung. Ich kann wahrlich hoffen oder vermuten. Und wenn das Erhoffte oder Vermutete sich als Tatsache herausstellt, so ist das nicht mehr länger Glaube, sondern Tatsache.
Oder meintest Du hier "Glaube" ausschließlich als Synonym für "Vermutung"?
Ich meine "Glaube(n)" im Sinn von "Fürwahrhaltung".
Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 04:31
Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 04:05
Laut den Infallibilisten erfordert Wissen-dass-A hingegen Folgendes: W(A/B) = 1
"W(A/B) = 1 = Wissen" gilt auch für mich als Fallibilist.
Dann hast du eine falsche Auffassung; denn im Fall fehlbaren Wissens gilt W(A/B) < 1, weil ~(B –> A) und somit <>(B & ~A).



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Do 10. Apr 2025, 05:43

Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 04:31
Meiner deutschen Sprachauffassung nach ist der Begriff "Glaube" kein Element des Wahrheits-Paradigmas. Glauben ist Hoffnung oder Vermutung. Ich kann wahrlich hoffen oder vermuten. Und wenn das Erhoffte oder Vermutete sich als Tatsache herausstellt, so ist das nicht mehr länger Glaube, sondern Tatsache.
Glaube ist nicht gleich bloßer Glaube. Wenn ich etwas glaube, dann folgt daraus weder, dass ich es weiß, noch, dass ich es nicht weiß.
"Was ich weiß, das glaube ich."

(L. Wittgenstein: Über Gewissheit, §177)
Man beachte, dass Lewis den Glaubensbegriff für seine Wissensdefinition gar nicht verwendet:
"The final paper, 'Elusive Knowledge', proposes an analysis of knowledge. Pace the many complicated analyses now on offer, it seems as if the concept of knowledge is simple enough for small children to master. I suggest that the complicated phenomena we have observed arise from the interaction between a very simple analysis and the complex pragmatics of context-dependent ignoring. 'S knows that P' means simply that there is no possibility that S is wrong that P—Psst! except for those possibilities that we are now (properly) ignoring."
——————————
"Die letzte Arbeit, „Elusive Knowledge“, schlägt eine Analyse des Wissens vor. Angesichts der vielen komplizierten Analysen, die es heute gibt, scheint das Konzept des Wissens so einfach zu sein, dass es auch von kleinen Kindern bewältigt werden kann. Ich vermute, dass die von uns beobachteten komplizierten Phänomene aus der Wechselwirkung zwischen einer sehr einfachen Analyse und der komplexen Pragmatik des kontextabhängigen Ignorierens entstehen. „S weiß, dass P“ bedeutet schlicht, dass es keine Möglichkeit gibt, dass S sich irrt, dass P – Pst! – außer den Möglichkeiten, die wir jetzt (zu Recht) ignorieren." [Google Translate]

(Lewis, David. Papers in Metaphysics and Epistemology. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. Introd., pp. 6-7)



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Consul
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Do 10. Apr 2025, 06:22

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 05:22
Dann hast du eine falsche Auffassung; denn im Fall fehlbaren Wissens gilt W(A/B) < 1, weil ~(B –> A) und somit <>(B & ~A).
Ein Grundproblem für Fallibilisten: Wie hoch 0 < x < 1 muss W(A/B) im Fall fehlbaren Wissens sein? Wohl > 0,5, aber jeder Wert zwischen 0,5 und 1 scheint willkürlich gewählt. Warum z.B. 0,9 und nicht 0,95?



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Quk
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Do 10. Apr 2025, 06:42

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 05:10
Weil der Fallibilismus beinhaltet, dass Wissen und möglicher Irrtum einander nicht ausschließen.
Ich interpretiere die Gleichung feiner. Ja, Irrtümer sind möglich. Und ja, Wissen ist ebenfalls möglich: Es kann sein, dass viele meiner Thesen wahr sind. Aber ich kann nicht wissen, welche wahr sind.

Wenn eine These gute Vorhersagen leistet, ist es wahrscheinlich, dass in ihr wahre Sätze stecken. Es ist möglich, dass ich durch diese These etwas über die Wirklichkeit weiß. Aber ich weiß nicht, ob ausgerechnet bei dieser speziellen These besagte Möglichkeit in die Tat umgesetzt ist.

Russisches Roulette: Ich weiß, dass im Revolver eine Kugel steckt. Das wurde bestätigt. Aber ich weiß nicht, in welchem Rohr.

Paradox wird "W(A/B) etc." nur dann, wenn A und B dieselbe Schärfe haben. Haben sie aber nie. Die Aussage "eine Kugel im Revolver in Rohr Nr. 6" ist schärfer als die Bestätigung "eine Kugel im Revolver". Sie könnte auch in Rohr Nr. 5 stecken. Jedenfalls weiß ich, dass eine Kugel im Revolver ist. Das weiß ich.




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Consul
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Do 10. Apr 2025, 07:17

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 00:46
"If you are a contented fallibilist, I implore you to be honest, be naive, hear it afresh. 'He knows, yet he has not eliminated all possibilities of error.' Even if you've numbed your ears, doesn't this overt, explicit fallibilism still sound wrong?"
——————————
"Wenn Sie ein zufriedener Fallibilist sind, bitte ich Sie inständig, ehrlich und unbefangen zu sein, und es sich erneut anzuhören: 'Er weiß es, aber er hat nicht alle Möglichkeiten eines Irrtums ausgeschlossen.' Selbst wenn Sie Ihre Ohren betäubt haben, klingt dieser unverhohlene, ausdrückliche Fallibilismus nicht auch dann noch falsch?" [meine Übers.]

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. pp. 419-20)
"[N]o sooner do we engage in epistemology – the systematic philosophical examination of knowledge – than we meet a compelling argument that we know next to nothing. The sceptical argument is nothing new or fancy. It is just this: it seems as if knowledge must be by definition infallible. If you claim that S knows that P, and yet you grant that S cannot eliminate a certain possibility in which not-P, it certainly seems as if you have granted that S does not after all know that P. To speak of fallible knowledge, of knowledge despite uneliminated possibilities of error, just sounds contradictory."
——————————
"[K]aum beschäftigen wir uns mit Erkenntnistheorie – der systematischen philosophischen Untersuchung des Wissens –, stoßen wir auf ein überzeugendes Argument: Wir wissen so gut wie nichts. Dieses skeptische Argument ist weder neu noch ausgefallen. Es ist nur so: Wissen scheint per Definition unfehlbar zu sein. Wenn man behauptet, dass S weiß, dass P, und dennoch zugibt, dass S eine bestimmte Möglichkeit, in der nicht-P, nicht ausschließen kann, scheint es gewiss so, als hätte man zugegeben, dass S letztlich nicht weiß, dass P. Von fehlbarem Wissen zu sprechen, von Wissen trotz unbeseitigter Irrtumsmöglichkeiten, klingt einfach widersprüchlich." [meine Übers. + Google Translate]

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. p. 419)



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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 08:17

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 00:46
Wenn jemand sagt, "Ich weiß es, aber ich kann mich irren", dann ist der Einwand "Wie kannst du es dann wissen?" durchaus berechtigt.
Ich nehme noch einmal das Alltagsbeispiel: Jemand fragt nach dem Weg zum Kino, und die richtige Antwort lautet: „Nächste Straße links, dann sehen Sie es schon.“ Natürlich kann ich mich irren – vielleicht hat Descartes' Täuscherdämon das Kino über Nacht gegen eine Bibliothek ausgetauscht. Aber das ist kein vernünftiger Zweifel. Zweifel muss ebenso begründet sein wie jeder andere Wahrheitsanspruch.

Fallibilismus, wie ich ihn verstehe, bezieht sich ohnehin nicht grundsätzlich auf einzelne Wissensansprüche, sondern meint ganz allgemein, dass wir irrtumsanfällig sind. Unser Wissensbestand wird mit hoher Wahrscheinlichkeit hier und da fehlerhaft sein. Analogie: Ich weiß, dass es Falschgeld gibt – aber daraus zu schließen, dass alle Münzen und Scheine in meiner Geldbörse falsch sind, wäre absurd. Es bedeutet auch nicht, dass jede Münze und jeden Schein für eine Blüte halten soll.

Unabhängig von diesem allgemeinen Aspekt bedeutet Fallibilismus nach meinem Verständnis auch, dass (naturwissenschaftliche) Theorien in der Regel so formuliert sein sollten, dass sie widerlegbar sind.

Was mir in den bisherigen Analysen fehlt: Es gibt unterschiedliche Formen von Wissen, unterschiedliche Bereiche – und Wissen ist in der Regel zusammenhängend.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 08:58

Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 06:42
Ich interpretiere die Gleichung feiner. Ja, Irrtümer sind möglich. Und ja, Wissen ist ebenfalls möglich: Es kann sein, dass viele meiner Thesen wahr sind. Aber ich kann nicht wissen, welche wahr sind.
Das ist für mich synonym mit radikalem Skeptizismus.

Außerdem erscheint es mir unstimmig: In deiner Sicht ist Wissen ja gerade nicht möglich. Denn wenn du nicht weißt, welche deiner Thesen wahr ist, liegt kein Wissen vor. Wissen heißt: Ich halte etwas für wahr, ich habe Gründe dafür – und es ist tatsächlich wahr. Das ist nicht vereinbar mit der Annahme, dass manche meiner Überzeugungen wahr sind, ich aber nicht weiß, welche.

Beispiel: Im Nebenraum befinden sich Hunderte von Kugeln, aber ich kenne ihre Farben nicht. Nun behaupte ich aufs Geratewohl: Einige davon sind blau, einige grün, einige lila usw. Es mag sein, dass manche dieser Aussagen zutreffen – aber ich weiß nicht, welche. Also liegt kein Wissen vor.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 09:01

Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 05:22
Ich meine "Glaube(n)" im Sinn von "Fürwahrhaltung".
Ja, sehe ich auch so, in dem vorliegenden Zusammenhang heißt "Glauben" "Fürwahrhalten". Alternativ kann man von "wahren, gerechtfertigten Überzeugungen" sprechen, aber auch hier gibt es eine gewisse Abweichung von der Alltagssprache, weil dort "Überzeugung" in der Regel eine gewisse Emphase beinhaltet.




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Quk
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Do 10. Apr 2025, 09:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 08:58
Außerdem erscheint es mir unstimmig ...
Wenn das unstimmig ist, dann ist auch das Gegenteil von "Skepsis" unstimmig: Das radikale "Alles-bezweifeln" wird dann ersetzt durch radikales "Alles-für-wahr-halten". Unstimmig deshalb, weil dann Aussage und Gegenaussage -- beide -- konsequenterweise für wahr gehalten werden müssen.

Ich war noch nie ein radikaler Skeptiker. Wie ich schon öfters erwähnte, gibt es für mich verschiedene Felder; auf manchen ist sicheres Wissen möglich, auf einigen nicht.

Ich bin so wenig ein radikaler Skeptiker wie Du ein radikaler Allesglauber bist (Gründe kann man erfinden). Ich stehe eben nur ein bisschen näher an dem einen Pol, und Du näher an dem anderen Pol. Wir stehen beide irgendwo zwischen den Extremen.

"Überzeugt sein" halte ich für einen mentalen Zustand. Man kann Gründe erfinden und dann von ihnen überzeugt sein, weil sie einem gefallen.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 10:20

Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 09:43
Wenn das unstimmig ist, dann ist auch das Gegenteil von "Skepsis" unstimmig
Warum?
Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 09:43
Das radikale "Alles-bezweifeln" wird dann ersetzt durch radikales "Alles-für-wahr-halten".
Nein, es wird, wie ich geschrieben habe, ersetzt durch begründetes, also rationales Zweifeln.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 10:26

Hübl hat geschrieben : (2) Realisten glauben, es gebe Wissen. Relativisten meinen, es gebe keine Objektivität. Skeptiker setzen Wissen mit Unfehlbarkeit gleich.




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