Philipp Hübl: Wahrheit (3) / Wissen (4)

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Quk
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Do 10. Apr 2025, 10:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 10:20
Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 09:43
Wenn das unstimmig ist, dann ist auch das Gegenteil von "Skepsis" unstimmig
Warum?
Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 09:43
Das radikale "Alles-bezweifeln" wird dann ersetzt durch radikales "Alles-für-wahr-halten".
Nein, es wird, wie ich geschrieben habe, ersetzt durch begründetes, also rationales Zweifeln.
Genau. Und deshalb ist ebenso meine Argumentation keine "radikale Skepsis", denn auch meine Skepsis ist begründet.

Ich schreibe das "Alles-für-wahr-halten" ja nicht Dir zu, sondern ich erläutere damit, dass Dein Vorwurf der radikalen Skepsis so wenig greift wie das Gegenteil, das "Alles-für-wahr-halten".

Es ist wichtig, meinen Kommentar zu Ende zu lesen. Ich wiederhole ihn:
Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 09:43
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 08:58
Außerdem erscheint es mir unstimmig ...
Wenn das unstimmig ist, dann ist auch das Gegenteil von "Skepsis" unstimmig: Das radikale "Alles-bezweifeln" wird dann ersetzt durch radikales "Alles-für-wahr-halten". Unstimmig deshalb, weil dann Aussage und Gegenaussage -- beide -- konsequenterweise für wahr gehalten werden müssen.

Ich war noch nie ein radikaler Skeptiker. Wie ich schon öfters erwähnte, gibt es für mich verschiedene Felder; auf manchen ist sicheres Wissen möglich, auf einigen nicht.

Ich bin so wenig ein radikaler Skeptiker wie Du ein radikaler Allesglauber bist (Gründe kann man erfinden). Ich stehe eben nur ein bisschen näher an dem einen Pol, und Du näher an dem anderen Pol. Wir stehen beide irgendwo zwischen den Extremen.

"Überzeugt sein" halte ich für einen mentalen Zustand. Man kann Gründe erfinden und dann von ihnen überzeugt sein, weil sie einem gefallen.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 10:44

Quk hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 10:36
Genau. Und deshalb ist ebenso meine Argumentation keine "radikale Skepsis", denn auch meine Skepsis ist begründet.
Für mich ist das ein Gießkannen-Skeptizismus, weil er sich nicht begründet auf den je konkreten Wissensanspruch bezieht, sondern auf unsere Wissensansprüche generell (=jeden einzelnen Wissensanspruch minus "Phänomenales" - das hab ich nicht thematisiert, weil es zu einer ganz anderen Fragestellung führt. In kurz: ich halte diese Zweiteilung nicht für richtig, weil sie auf einer meiner Ansicht nach künstlichen Trennung von Gehalt und phänomenalem Erleben basiert.)




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Quk
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Do 10. Apr 2025, 10:51

Gießkannen sind nicht grundsätzlich schlecht. Die Behauptung, jeder Mensch habe ein Herz, ist ebenso eine Gießkannen-Begründung.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 10:55

Mag ja sein, aber damit entfällt eine Begründung der Skepsis für das, was jeweils bezweifelt wird. Man muss mit dieser Methode eben praktisch alles (mit Ausnahme des Phänomenalen) bezweifeln = radikaler Skeptizismus.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 12:45

Hübl hat geschrieben : Jede Repräsentation ist fehleranfällig, aber das meiste, was wir über die Welt glauben, muss wahr sein, sonst könnten wir uns weder darin orientieren noch uns verständigen. Das hat der amerikanische Philosoph Donald Davidson mit seinem Hintergrund-Argument deutlich gemacht. Als fehlbare Wesen irren wir uns hin und wieder. Jede einzelne unserer Überzeugungen könnte sogar falsch sein. Daraus folgt aber Davidson zufolge nicht, dass alle zusammen falsch sein können. Um sich zum Beispiel darin zu irren, dass der Gärtner der Mörder ist, müssen wir schon viele wahre Annahmen über Gärtner, Pflanzen, Berufe, Mörder, Straftaten, Leben und Tod getroffen haben. Nur vor dem Hintergrund dieser unzähligen wahren Überzeugungen können sich die einzelnen Irrtümer überhaupt abzeichnen.




Timberlake
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Do 10. Apr 2025, 13:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 9. Apr 2025, 10:08
Timberlake hat geschrieben :
Mi 9. Apr 2025, 01:33
Um aber festzustellen, im welchen Radius der Mond die Erde umkreist, brauchen wir ein Konzept der Wahrheitsähnlichkeit.
Wieso? Wir brauchen dazu (vermutlich neben vielem anderen) einigermaßen präzise Angaben zur Lage des Mondes.
Ich denke mal wir brauchen schon allein deswegen ein Konzept der Wahrheitsähnlichkeit, weil PI , mit dem der Radius zum Mond berechnet wird, eine irrationale Zahl ist. Eine Zahl die unendlch ist, weil sie nicht als Bruch zweier ganzer Zahlen geschrieben werden kann. Wir also in "Wahrheit" den exakten Radius, von was auch imme, niemals "wissen" werden.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 12:45
Hübl hat geschrieben : Jede Repräsentation ist fehleranfällig, aber das meiste, was wir über die Welt glauben, muss wahr sein, sonst könnten wir uns weder darin orientieren noch uns verständigen. Das hat der amerikanische Philosoph Donald Davidson mit seinem Hintergrund-Argument deutlich gemacht. Als fehlbare Wesen irren wir uns hin und wieder. Jede einzelne unserer Überzeugungen könnte sogar falsch sein. Daraus folgt aber Davidson zufolge nicht, dass alle zusammen falsch sein können. Um sich zum Beispiel darin zu irren, dass der Gärtner der Mörder ist, müssen wir schon viele wahre Annahmen über Gärtner, Pflanzen, Berufe, Mörder, Straftaten, Leben und Tod getroffen haben. Nur vor dem Hintergrund dieser unzähligen wahren Überzeugungen können sich die einzelnen Irrtümer überhaupt abzeichnen.

Deshalb ist übrigens jede Repräsentation ist fehleranfällig. Gleichwohl muss es wahr sein, das der Mond die Erde umkreist. Wie könnten wir uns auch ansonsten darin orientieren und uns darüberr verständigen, dass der Mond am Sternehimmel immer wieder auf- und untergeht.



Im Gegensatz zum Gärtner. Da muss muss es ganz sicher nicht wahr sein, dass er immer der Mörder ist.
Zuletzt geändert von Timberlake am Do 10. Apr 2025, 13:25, insgesamt 2-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 13:19

Timberlake hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 13:02
Ich denke mal wir brauchen schon allein deswegen ein Konzept der Wahrheitsähnlichkeit, weil PI , mit dem der Radius zum Mond berechnet wird, eine irrationale Zahl ist.
Man braucht den Ausdruck der Wahrheitsähnlichkeit auch bei π keineswegs, hier ein paar Beispiele:
  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass wir die Zahl Pi nicht komplett erfassen können, weil sie unendlich viele Nachkommastellen hat.
  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass es sich bei der folgenden Zahl nur um eine vage Annäherung an π handelt: 3.1415926535.
  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass wir den exakten Radius eines Kreises oder anderer kreisförmiger Objekte mathematisch nie beliebig präzise angeben können, wenn π in der Berechnung involviert ist.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Apr 2025, 14:50

Denn dass es überhaupt für alles einen Beweis gebe, ist unmöglich, sonst würde ja ein Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden. (Aristoteles: Metaphysik, 1006a, S. 8-10)




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Consul
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Do 10. Apr 2025, 22:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 08:17
Fallibilismus, wie ich ihn verstehe, bezieht sich ohnehin nicht grundsätzlich auf einzelne Wissensansprüche, sondern meint ganz allgemein, dass wir irrtumsanfällig sind.
Beim Fallibilismus geht es nicht um die allgemeine menschliche Fehlbarkeit oder Irrtumsanfälligkeit aus psychologischer Sicht, sondern um die epistemologischen Fragen, ob fehlbar gerechtfertigter wahrer Glaube Wissen sein kann, und—falls ja—ob unser gesamtes Wissen fehlbar gerechtfertigter wahrer Glaube ist.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 08:17
Unser Wissensbestand wird mit hoher Wahrscheinlichkeit hier und da fehlerhaft sein. Analogie: Ich weiß, dass es Falschgeld gibt – aber daraus zu schließen, dass alle Münzen und Scheine in meiner Geldbörse falsch sind, wäre absurd. Es bedeutet auch nicht, dass jede Münze und jeden Schein für eine Blüte halten soll.
Fallibilismus ≠ "Falsismus", d.h. fehlbares Wissen ≠ falsches Wissen. Wenn all unser Wissen im fallibilistischen Sinn fehlbar ist, dann bedeutet das nicht, dass all unser Wissen falsch ist und wir deshalb nichts wissen.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Timberlake
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Do 10. Apr 2025, 22:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 14:50
Denn dass es überhaupt für alles einen Beweis gebe, ist unmöglich, sonst würde ja ein Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden. (Aristoteles: Metaphysik, 1006a, S. 8-10)
Für das hier ...
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 13:19
Timberlake hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 13:02
Ich denke mal wir brauchen schon allein deswegen ein Konzept der Wahrheitsähnlichkeit, weil PI , mit dem der Radius zum Mond berechnet wird, eine irrationale Zahl ist.
Man braucht den Ausdruck der Wahrheitsähnlichkeit auch bei π keineswegs, hier ein paar Beispiele:
  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass wir die Zahl Pi nicht komplett erfassen können, weil sie unendlich viele Nachkommastellen hat.
  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass es sich bei der folgenden Zahl nur um eine vage Annäherung an π handelt: 3.1415926535.
  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass wir den exakten Radius eines Kreises oder anderer kreisförmiger Objekte mathematisch nie beliebig präzise angeben können, wenn π in der Berechnung involviert ist.


.. hätte ich allerdings folgendes Zitat von Aristoteles für passender gehalten ...
  • "Denn wie ist es denn möglich das in diesem Sinne Unendliche zu denken? Es verhält sich nämlich hierbei keineswegs so, wie bei der Linie, bei welcher die Theilung zwar keine Gränze hat, die man aber doch nicht denken kann, ohne im Theilen anzuhalten; weshalb man denn keineswegs, wenn man die unendlich theilbare Linie durchgeht, die Theilungen der Linie zählen wird"
    Aristoteles .... Metaphysik des Aristoteles (deutsche Übersetzung)
Trifft doch das, meiner Meinung nach, auch auf die Kreislinie bzw. dem Radius zu. Also das auch dessen Theilung zwar keine Grenze hat, die man aber doch nicht denken kann, ohne im Theilen anzuhalten. Dazu nur mal zum Vergleich ..

  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass wir eine Linie nicht komplett erfassen können, weil sie sie sich unendlich teilen lässt.
  • Es ist wahr , und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass es sich bei der folgenden Zahl einer Linie, nur um eine vage Annäherung an die Linie handelt: 3.1415926535 cm.
    (... und um beides an dieser Stelle zu kombinieren ....)
  • Es ist wahr, und nicht nur der Wahrheit "ähnlich", dass wir die exakte Länge einer Kreislinie nie beliebig präzise angeben können, wenn π in der Berechnung involviert ist.
Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 22:36
Fallibilismus ≠ "Falsismus", d.h. fehlbares Wissen ≠ falsches Wissen. Wenn all unser Wissen im fallibilistischen Sinn fehlbar ist, dann bedeutet das nicht, dass all unser Wissen falsch ist und wir deshalb nichts wissen.
Was zu beweisen war !




Timberlake
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Do 10. Apr 2025, 23:47

Dia_Logos hat geschrieben :
So 6. Apr 2025, 17:25


Zusammenfassung von Hübl

(1) Fakten bestehen unabhängig von uns.
(2) Wer die Fakten beschreibt, sagt etwas Wahres.
(3) Wir leben nicht in einem postfaktischen Zeitalter, aber manche Menschen haben in bestimmten Situationen einen faktenfernen Denkstil.
(4) Wahrheit ist objektiv, nicht definierbar, nicht relativ, keine Konstruktion und keine Annäherung.
(5) Wahrheit ist die Voraussetzung für Denken und Sprechen: Die meisten unserer Überzeugungen müssen wahr sein, sonst könnten wir nicht denken, sprechen und uns in der Welt zurechtfinden
(6) Wissen hat eine subjektive Komponente: Die meisten Wahrheiten (wahren Aussagen) kennen wir nicht.
(7) Wir können uns irren, also etwas zu wissen glauben, was nicht wahr ist.
Wobei ich mich allerdings schon Frage , wie das mit dem in Zusammenhang steht, was man lange Zeit für eine "Lüge" hielt ..
Dia_Logos hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 17:51
Bild

Lange hielt man die Null für eine Lüge – nun baut alles auf ihr auf

Zuerst waren es konzeptuelle Probleme, dann kamen Ideologie und Fremdenhass hinzu: Es dauerte lange, bis sich die Null in Europa durchsetzte. Heute fußt auf ihr die gesamte Mathematik.

von Manon Bischoff

Quelle: https://www.spektrum.de/kolumne/von-bab ... ll/2258450
Da wird von Philipp Hübl behauptet, das Wahrheit die Voraussetzung für Denken und Sprechen ist. Nur wie steht es um diese Wahrheit, wenn beispielweise das Teilen durch Null davon offenbar ausgenommen ist.
matheguru.com hat geschrieben :
Division durch 0

Je weiter wir uns Null nähern, desto größer wird der Quotient. Die Unendlichkeit ∞ ist keine Zahl. Wenn wir durch 0 teilen würden, und wir die Unendlichkeit als Ergebnis bekämen, könnten wir nicht das Ganze mit Multiplikation auf den Ausgangswert bringen.
Wo schon mal im letzten Beitrag darauf bezogen , dazu nur mal zum Vergleich ..
  • "Denn wie ist es denn möglich das in diesem Sinne Unendliche zu denken? Es verhält sich nämlich hierbei keineswegs so, wie bei der Linie, bei welcher die Theilung zwar keine Gränze hat, die man aber doch nicht denken kann, ohne im Theilen anzuhalten; weshalb man denn keineswegs, wenn man die unendlich theilbare Linie durchgeht, die Theilungen der Linie zählen wird"
    Aristoteles .... Metaphysik des Aristoteles (deutsche Übersetzung)
Wäre demnach nicht vielmehr "das Ganze" eine Lüge! Wohlgemerkt eine "ganze" 6 , die wir nach dem Teilen mit einer ganzen 3 , durch die Multiplikation mit einer ganzen 2 wieder auf eine ganze 6 und somit auf den ganzen Ausgangswert bringen können.




Timberlake
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Fr 11. Apr 2025, 01:54

Unter Anlehnug an ...

"Lange hielt man die Null für eine Lüge – nun baut alles auf ihr auf

.. auf den Punkt gebracht ...

"Lange hielt man die Zahlen für eine Wahrheit – nun baut nichts mehr auf sie auf."




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Jörn Budesheim
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Fr 11. Apr 2025, 06:58

@Consul, meine (aktuellen) Quellen sind ein Podcast mit Markus Gabriel von der Uni Bonn. Und ein Textausschnitt von Tim Lewens. (Eine Textprobe, die ich mir eigens wegen dieses Fadens heruntergeladen habe.) So ungefähr habe ich diese beiden Quellen verstanden:

Tim Lewens beschreibt eine „sensible form of fallibilism“ (vernünftige Form des Fallibilismus) als die Einsicht, dass Wissenschaftler sich irren könnten („we might have got it wrong“).

Er kontrastiert dies direkt mit Poppers Anti-Induktivismus, den er als die Ansicht wiedergibt, dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass wir richtig liegen („there is no reason to think we have got it right“).

Ich verstehe Lewens so, dass die Ablehnung des Induktionismus durch Popper zu einer viel radikaleren (meiner Ansicht nach dogmatischen) Form des Fallibilismus führt, die über die bloße Anerkennung der Fehlbarkeit hinausgeht und die Möglichkeit einer positiven Bestätigung oder Annäherung an die Wahrheit (also: dogmatisch) in Frage stellt.
Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 22:36
Wenn all unser Wissen im fallibilistischen Sinn fehlbar ist, dann bedeutet das nicht, dass all unser Wissen falsch ist und wir deshalb nichts wissen.
Dem widerspreche ich ja nicht. Im Gegenteil. Aber der Falsifikationist müsste dem widersprechen. Das einzige was wir haben sind Hypothesen, die noch nicht widerlegt sind. Es gibt keine Akkumulation von Wissen und genau genommen auch keinen Fortschritt. Das ist meines Erachtens eine Sichtweise, die offensichtlich "empirisch" falsch ist.

Bild

Diese Vorstellungen harmonieren meines Erachtens auch sehr gut mit dem was Hübl zu Beginn der Vorlesung darlegt.




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Jörn Budesheim
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Fr 11. Apr 2025, 09:03

Bei Minute 15 erläutert Hübl, wie er den philosophischen Begriff des Skeptizismus versteht.

Sinngemäß: [...] Die umgekehrte Position [zum Relativismus] nennt man Skeptizismus. Skeptizismus darf man nicht verwechseln mit Skepsis. Skepsis ist eine Haltung, dass man kritisch ist. Skeptizismus ist eine Strömung oder eine philosophische Position. Das heißt, nicht so was wie: „Ich bin skeptisch, wenn ich das und das höre“ – das ist nur eine normale Einstellung, das ist einfach eine Einstellung des kritischen Denkens.

[...]

Der Skeptiker hat einen zu hohen, einen zu anspruchsvollen Wissensbegriff. Er sagt eigentlich so was wie: „Ich sage nur dann, dass du Wissen hast, wenn jeder mögliche Zweifel oder jeder mögliche Fehler absolut ausgeschlossen ist.“ Das ist eine Position, die Wissen mit Unfehlbarkeit gleichsetzt.




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Quk
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Fr 11. Apr 2025, 09:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 06:58
Ich verstehe Lewens so, dass die Ablehnung des Induktionismus durch Popper zu einer viel radikaleren (meiner Ansicht nach dogmatischen) Form des Fallibilismus führt, die über die bloße Anerkennung der Fehlbarkeit hinausgeht und die Möglichkeit einer positiven Bestätigung oder Annäherung an die Wahrheit (also: dogmatisch) in Frage stellt.
Wie gesagt, meine Einstellung ist die: In unseren Büchern stecken sicherlich unzählige wahre Aussagen. Das heißt, wir wissen sehr viel. Wir können uns nur nicht sicher sein, welche der Aussagen die wahren und die vollständigsten und die genauesten sind. Wir wissen außerdem, dass unsere technischen Geräte funktionieren, die gebaut wurden mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dass all diese Geräte laufen, ist auch ein Zeichen von Wissen.

Warum diese Einstellung einer radikalen Skepsis gleichkommen soll, kann ich nicht nachvollziehen.

Man muss doch eine gründliche Skepsis einräumen, wenn man nicht naiv ist. Ohne Skepsis gäbe es keinen Grund, Forschung zu betreiben. Unser heutiger Stand der Medizin wäre nicht erreicht worden ohne stetige Skepsis an bisherigen Aussagen.




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Jörn Budesheim
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Fr 11. Apr 2025, 09:16

Quk hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 09:06
Warum diese Einstellung einer radikalen Skepsis gleichkommen soll, kann ich nicht nachvollziehen.
Für mich ist das hingegen offensichtlich; und weiter oben habe ich es auch (in dem Beitrag mit den Beispielen der farbigen Kugeln) erläutert. An der fraglichen Stelle im Video (siehe mein Beitrag zuvor) erläutert Hübl auch den Unterschied zwischen Skepsis und Skeptizismus.




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Quk
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Fr 11. Apr 2025, 09:20

Dein Beispiel mit den Kugeln ist eine extreme Übertreibung; das ist fast wie: "Irgendwas ist irgendwo irgendwann." Das entspricht nicht meinen Vorstellungen. Mit dermaßen vagen Vermutungen würde kein Gerät funktionieren, und jeder Pilleneinwurf wäre Russisches Roulette.




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Fr 11. Apr 2025, 09:31

An der Stelle kommen wir nicht weiter. (Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir auch schon öfter darüber diskutiert.)

Zu dem Beitrag mit den Kugeln: Ich finde das Beispiel mit den Kugeln entspricht exakt dem, was du gesagt hast: "Es kann sein, dass viele meiner Thesen wahr sind. Aber ich kann nicht wissen, welche wahr sind."

Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir die Vorlesung zu Rate ziehen. Zu Beginn erläutert Hübl, was bis heute im Großen und Ganzen seit Sokrates als Standard Definition des Wissens gilt: (1) wir halten etwas (eine Proposition, einen Satz, eine Theorie, ...) für wahr, (2) wir haben Gründe dafür, (3) und sie ist wahr. Gemäß dieser Definition haben wir nach deiner Sicht überhaupt kein Wissen, denn keine "deiner" Thesen, die tatsächlich wahr sind, entspricht dieser Definition. Denn gemäß dieser Definition ist es kein Wissen, wenn du nicht weißt, welche deiner Thesen wahr ist, das widerspricht Punkt 1 und Punkt 2.

Zur Veranschaulichung: Angenommen du hast 100 Thesen und These 57 ist wahr. Dann musst du aber genau diese These auch für wahr halten und für diese These Gründe haben, warum du sie für wahr hältst. Beide Bedingungen müssen erfüllt sein, damit diese wahre These als Wissen gelten kann. Wahr-sein allein reicht einfach nicht hin für Wissen.

"Es kann sein, dass viele meiner Thesen wahr sind ..." Das ist keineswegs dasselbe, wie, eine bestimmte Proposition (etc.) für wahr zu halten.




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Fr 11. Apr 2025, 17:47

Du hast mitbekommen, dass ich verschiedene Felder sehe; auf manchen ist sicheres Wissen möglich, zum Beispiel auf dem phänomenologischem Feld. Ein weiteres sicheres Feld ist das der zeitlosen mathematischen und logischen Gesetze (sofern sie überschaubar sind und nicht unsere Hirnarbeit überlasten). Was Du vergessen hast, ist meine Sicht auf das Feld Vergangenheit und das Feld Zukunft. Aussagen über die Zukunft gibt es unendlich viele; keine davon liefert sicheres Wissen. Die Zahl der Aussagen, die wir bisher über die Vergangenheit tätigten, ist endlich. Das Anzahl-Verhältnis von Vergangenheitsaussagen zu Zukunftsaussagen ist demnach unendlich klein. Man könnte großzügig sagen, dass auch die Vergangenheit unendlich viele Aussagen birgt; wir haben sie nur noch nicht alle ausgesprochen. Aber auch dann stellen diese nur ein Teil aller Aussagen dar, nämlich die Hälfte. Ich denke, Du kannst Deine extreme Kugelmetapher dem Feld Zukunft zuweisen, aber nicht den anderen Feldern.

Nun, Wissenschaftsarbeit ist zukunftsgerichtet. Selbst Archäologen, die Mumien ausgraben, arbeiten morgen, übermorgen, nächste Woche, und werden dann neues entdecken und eventuell alte Thesen korrigieren ...

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 09:31
Zur Veranschaulichung: Angenommen du hast 100 Thesen und These 57 ist wahr. Dann musst du aber genau diese These auch für wahr halten und für diese These Gründe haben, warum du sie für wahr hältst. Beide Bedingungen müssen erfüllt sein, damit diese wahre These als Wissen gelten kann.
Das sehe ich anders. Ich sehe da noch gewisse Graustufen vom "Wissen" bis zur "Gewissheit". Ich lege ja bekanntlich Wert auf Geschmeidigkeit.




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Fr 11. Apr 2025, 18:04

Quk hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 17:47
Du hast mitbekommen, dass ich verschiedene Felder sehe; auf manchen ist sicheres Wissen möglich, zum Beispiel auf dem phänomenologischem Feld.
Das hast Du wiederholt erläutert, dass verstärkt jedoch meine Sicht auf deinen Skeptizismus, denn der ist ja nahezu immer ein "Außenwelt Skeptizismus".
Quk hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 17:47
Geschmeidigkeit
Ich finde es äußerst erstaunlich, dass du das von deiner Position denkst :) Das gehört für mich zu den krassesten inneren Widersprüchen.

Lass uns hier einfach den Dissenz festhalten, für mich bist du ein prototypischer Skeptizist und du selbst siehst es anders. Mehr ist - glaube ich - nicht zu machen.




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