Philipp Hübl: Wahrheit (3) / Wissen (4)

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Quk
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Fr 11. Apr 2025, 18:09

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 18:04
Quk hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 17:47
Du hast mitbekommen, dass ich verschiedene Felder sehe; auf manchen ist sicheres Wissen möglich, zum Beispiel auf dem phänomenologischem Feld.
Das hast Du wiederholt erläutert, dass verstärkt jedoch meine Sicht auf deinen Skeptizismus, denn der ist ja nahezu immer ein Außenwelt Skeptizismus.
Du liest wieder nur den einleitenden Satz, und den wichtigen neuen Teil ignorierst Du. Wozu schreibe ich hier eigentlich Antworten?

Ich wiederhole in Großschrift:

Ein weiteres sicheres Feld ist das der zeitlosen mathematischen und logischen Gesetze (sofern sie überschaubar sind und nicht unsere Hirnarbeit überlasten). Was Du vergessen hast, ist meine Sicht auf das Feld Vergangenheit und das Feld Zukunft. Aussagen über die Zukunft gibt es unendlich viele; keine davon liefert sicheres Wissen. Die Zahl der Aussagen, die wir bisher über die Vergangenheit tätigten, ist endlich. Das Anzahl-Verhältnis von Vergangenheitsaussagen zu Zukunftsaussagen ist demnach unendlich klein. Man könnte großzügig sagen, dass auch die Vergangenheit unendlich viele Aussagen birgt; wir haben sie nur noch nicht alle ausgesprochen. Aber auch dann stellen diese nur ein Teil aller Aussagen dar, nämlich die Hälfte. Ich denke, Du kannst Deine extreme Kugelmetapher dem Feld Zukunft zuweisen, aber nicht den anderen Feldern.

Nun, Wissenschaftsarbeit ist zukunftsgerichtet. Selbst Archäologen, die Mumien ausgraben, arbeiten morgen, übermorgen, nächste Woche, und werden dann neues entdecken und eventuell alte Thesen korrigieren ...




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Jörn Budesheim
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Fr 11. Apr 2025, 18:17

Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir die selbe Diskussion schon mal hatten. Ich denke, ich habe gerade einen DejaVu :) du wirst mich nicht überzeugen, ich werde dich nicht überzeugen. Und in einem Jahr diskutieren wir den ganzen Spaß noch einmal :)




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Quk
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Fr 11. Apr 2025, 18:28

Gerne sollst Du meine Beiträge kritisieren. Ich bitte sogar darum.

Nur: Bitte lies meine kleinen Beiträge vollständig (es sind keine Tapeten) und lies nicht nur die erste und letzte Zeile. Es fühlt sich einfach nicht gut an, wenn ich Deiner Kritik ausführlich mit Neuigkeiten antworte und Du meine Antwort dann ignorierst, indem Du nur auf die erste und letzte Zeile eingehst. Das ermüdet und ich verliere dann meine Motivation.




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Jörn Budesheim
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Fr 11. Apr 2025, 19:59

Ich lese immer alles, bevor ich antworte.




Timberlake
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Sa 12. Apr 2025, 03:15

Quk hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 18:09
Ein weiteres sicheres Feld ist das der zeitlosen mathematischen und logischen Gesetze (sofern sie überschaubar sind und nicht unsere Hirnarbeit überlasten).
Dazu nur mal zur Erinnerung ...

Timberlake hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 23:47
..
Da wird von Philipp Hübl behauptet, das Wahrheit die Voraussetzung für Denken und Sprechen ist. Nur wie steht es um diese Wahrheit, wenn beispielweise das Teilen durch Null davon offenbar ausgenommen ist.
matheguru.com hat geschrieben :
Division durch 0

Je weiter wir uns Null nähern, desto größer wird der Quotient. Die Unendlichkeit ∞ ist keine Zahl. Wenn wir durch 0 teilen würden, und wir die Unendlichkeit als Ergebnis bekämen, könnten wir nicht das Ganze mit Multiplikation auf den Ausgangswert bringen.
Wo schon mal im letzten Beitrag darauf bezogen , dazu nur mal zum Vergleich ..
  • "Denn wie ist es denn möglich das in diesem Sinne Unendliche zu denken? Es verhält sich nämlich hierbei keineswegs so, wie bei der Linie, bei welcher die Theilung zwar keine Gränze hat, die man aber doch nicht denken kann, ohne im Theilen anzuhalten; weshalb man denn keineswegs, wenn man die unendlich theilbare Linie durchgeht, die Theilungen der Linie zählen wird"
    Aristoteles .... Metaphysik des Aristoteles (deutsche Übersetzung)
Wäre demnach nicht vielmehr "das Ganze" eine Lüge! Wohlgemerkt eine "ganze" 6, die wir nach dem Teilen mit einer ganzen 3, durch die Multiplikation mit einer ganzen 2 wieder auf eine ganze 6 und somit auf den ganzen Ausgangswert bringen können.
Ohne Umscheife auf den Punkt gebracht ...

Wie kann etwas, wie beispielsweise eine Linie, ganz sein , wenn es unendlich teilbar ist?





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Jörn Budesheim
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Sa 12. Apr 2025, 06:45

Quk hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 18:09
Nun, Wissenschaftsarbeit ist zukunftsgerichtet. Selbst Archäologen, die Mumien ausgraben, arbeiten morgen, übermorgen, nächste Woche, und werden dann neues entdecken und eventuell alte Thesen korrigieren ...
Zu dem ersten Teil kann ich nichts sagen, weil ich ihn nicht verstehe. Und da du weiter oben eine Verständnisfrage zurückgewiesen hast, habe ich diesmal darauf verzichtet, nachzufragen. Und außerdem liest sich dieser Abschlusssatz für mich so, als wenn du die Theorie selbst wieder eingezogen hast.




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Quk
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Sa 12. Apr 2025, 07:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 8. Apr 2025, 19:00
Quk hat geschrieben :
Di 8. Apr 2025, 18:55
Du bist Realist; Deiner Auffassung nach ist alles Verstandene zweifelos fehlerfrei.
Kannst du mir erklären was dieser Satz bedeuten soll, ich verstehe ihn nicht?!
Quk hat geschrieben : Das kann ich Dir leider nicht erklären.
Ich kann Dir den Satz deshalb nicht erklären, weil Du mir nicht sagst, welchen Teil des Satzes Du nicht verstehst und ich nicht die Zeit habe, mit der Gießkanne alle erdenklichen eventuellen Einzelmissverständnisse zu erläutern; so eine Gießkannen-Erläuterung wäre mehrere Seiten lang. Und lesen würde sie wohl auch niemand.

Ich frage auch manchmal bei Deinen Sätzen nach, wenn ich sie nicht verstehe. Deine Antwort geht dann oftmals so: "Willst du allen Ernstes nicht verstehen, was damit gemeint ist?" Und ich sage dann ernsthaft: "Ja". Und ich teile dann auch mit, welchen Teil ich nicht verstehe. Denn meine Fragen sind immer ernst gemeint. Du zögerst dann oft trotzdem weiterhin, meine Verständnisfragen zu beantworten, oder brichst gleich ganz ab.

Nun siehst Du das auch mal von der anderen Seite :-)




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Jörn Budesheim
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Sa 12. Apr 2025, 07:38

Quk hat geschrieben :
Sa 12. Apr 2025, 07:29
... weil Du mir nicht sagst, welchen Teil des Satzes Du nicht verstehst.
Ich verstehe den Satz komplett nicht. Ich kann die Frage auch nicht spezifischer stellen, weil es an dem Satz einfach gar nichts gibt, was ich verstehe. Klar, ich verstehe jedes einzelne Wort, aber ich verstehe nicht, was sie zusammen sagen sollen.




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Quk
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Sa 12. Apr 2025, 07:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 18:04
Lass uns hier einfach den Dissenz festhalten ...
Einverstanden.




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Jörn Budesheim
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Sa 12. Apr 2025, 07:57

Das wird wahrscheinlich das Beste sein.




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Consul
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Sa 12. Apr 2025, 08:58

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 11. Apr 2025, 06:58
Consul hat geschrieben :
Do 10. Apr 2025, 22:36
Wenn all unser Wissen im fallibilistischen Sinn fehlbar ist, dann bedeutet das nicht, dass all unser Wissen falsch ist und wir deshalb nichts wissen.
Dem widerspreche ich ja nicht. Im Gegenteil. Aber der Falsifikationist müsste dem widersprechen. Das einzige was wir haben sind Hypothesen, die noch nicht widerlegt sind. Es gibt keine Akkumulation von Wissen und genau genommen auch keinen Fortschritt. Das ist meines Erachtens eine Sichtweise, die offensichtlich "empirisch" falsch ist.
In der Tat. Aber wenngleich wissenschaftliche Erkenntnis für Popper stets "Vermutungswissen" ist, so bestreitet er doch nicht, dass es wissenschaftlichen Fortschritt durch immer besser bewährte Hypothesen oder Theorien gibt, oder?
Laut Popper können sich wissenschaftliche Hypothesen zwar nicht bewahrheiten (als wahr erweisen), aber sie können sich bewähren, indem sie Widerlegungsversuchen widerstehen.
"Theorien sind nicht verifizierbar; aber sie können sich bewähren.
Man hat oft versucht, die Theorien zwar nicht als "wahr" oder "falsch", jedoch als mehr oder weniger "wahrscheinlich" zu kennzeichnen. Man hat insbesondere die Induktionslogik als eine Wahrscheinlichkeitslogik aufgebaut: die Induktion sollte den Wahrscheinlichkeitsgrad des Satzes bestimmen und ein Induktionsprinzip sollte die "wahrscheinliche Geltung" der induzierten Sätze sichern – oder auch nur wieder wahrscheinlich machen, denn das Induktionsprinzip selbst sollte vielleicht nur "mit Wahrscheinlichkeit gelten". Wir halten das ganze Problem der Hypothesenwahrscheinlichkeit für falsch gestellt: statt von der "Wahrscheinlichkeit einer Hypothese" zu sprechen, werden wir feststellen, welchen Prüfungen die Hypothese bisher standgehalten hat, wie sie sich bisher bewährt."

(Popper, Karl. Logik der Forschung: Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien: Springer, 1935. S. 185-6)
Es gibt für Popper unterschiedliche Grade der Bewährung:
"[W]ir pflegen Theorien als besser und als weniger gut bewährt zu bezeichnen."

(Popper, Karl. Logik der Forschung: Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien: Springer, 1935. S. 198)
In der englischen Übersetzung seines Buches verwendet er "(degree of) corroboration" für "(Grad der) Bewährung" und merkt in einer Fußnote an, dass er diese Übersetzung derjenigen von Rudolf Carnap vorzieht, welcher "(degree of) confirmation" verwendet. Das Verb "to confirm" klingt für Popper zu sehr nach "erhärten" oder "bestätigen", also zu sehr nach "verifizieren".



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Jörn Budesheim
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Sa 12. Apr 2025, 09:16

Meine beiden Gewährsmänner* – Lewens und Gabriel – vertreten nicht die Auffassung, dass Poppers Konzept der Bewährung als ein Fortschritt im Sinne einer "Annäherung an die Wahrheit" oder einer steigenden Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit einer Theorie zu verstehen ist. Für Popper bedeutet Bewährung lediglich, dass eine Hypothese bislang nicht falsifiziert wurde. Lewens fügt (nach meiner Erinnerung) hinzu, dass viele Wissenschaftler Poppers Ansicht, wonach Bewährung kein Grund für Vertrauen in eine Theorie sei, vermutlich nicht teilen würden.

Lewens: "Aber wenn Popper sagt, dass eine Theorie hochgradig 'bewährt' ist ('corroborated'), meint er damit nicht, dass die Theorie wahrscheinlich richtig ist. 'Bewährung' ist lediglich eine Aussage über den vergangenen Erfolg einer Theorie, und da für Popper der vergangene Erfolg keinerlei Anhaltspunkt für zukünftige Aussichten bietet – dies anzunehmen würde eine Form der induktiven Inferenz beinhalten –, bedeutet dies auch, dass wir keinen Grund haben anzunehmen, dass eine hochgradig bewährte Theorie wahrscheinlich den nächsten Test, dem sie unterzogen wird, bestehen wird."

*Ich kenne Popper nicht vom Original, und ich habe im Moment auch nicht vor, ihn zu lesen.




Timberlake
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Sa 12. Apr 2025, 23:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 12. Apr 2025, 09:16
Meine beiden Gewährsmänner* – Lewens und Gabriel – vertreten nicht die Auffassung, dass Poppers Konzept der Bewährung als ein Fortschritt im Sinne einer "Annäherung an die Wahrheit" oder einer steigenden Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit einer Theorie zu verstehen ist. Für Popper bedeutet Bewährung lediglich, dass eine Hypothese bislang nicht falsifiziert wurde.
Was einleuchtet. Wenn man denn davon ausgeht, wenn sich eine Hypothese nicht bewährt hat demzufolge falsifiziert wurde. Eigentlich eine Binsenweisheit. Insofern ich mich schon frage. Ob denn hinter dem, was nach Ansicht Poppers Bewährung bedeutet, doch nicht etwas mehr steckt.

Von daher neugierig geworden, habe ich mich dazu einmal erkundigt …
philosophie.uni-osnabrueck.de hat geschrieben :
2.1 Poppers Theorie der Bewährung.

In der Logik der Forschung schildert Popper, wie seiner Ansicht nach wissenschaftliche Hypothesen bzw. Theorien (sofern diese sich adäquat als Systeme von Hypothesen darstellen lassen – vgl. dazu Teil 5 weiter unten) sich bewähren können:

„Aus dem System werden (unter Verwendung bereits anerkannter Sätze) empirisch
möglichst leicht nachprüfbare … singuläre Folgerungen („Prognosen“) deduziert ...
Über diese – und andere – Folgerungen wird nun im Zusammenhang mit der
praktischen Anwendung, den Experimenten usw. entschieden. Fällt die Entscheidung
positiv aus, werden die singulären Folgerungen anerkannt, verifiziert, so hat das
System die Prüfung vorläufig bestanden; wir haben keinen Anlass, es zu verwerfen.
Fällt eine Entscheidung negativ aus, werden Folgerungen falsifiziert, so trifft ihre
Falsifikation auch das System, aus dem sie deduziert wurden.
Die positive Entscheidung kann das System immer nur vorläufig stützen; … Solange
ein System eingehenden und strengen deduktiven Nachprüfungen standhält und durch
die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft nicht überholt wird, sagen wir, dass
es sich bewährt“(a.a.O. 8).

Demzufolge bedeutet für Popper Bewährung wenn schon denn schon , dass ein System von Hypothesen bzw. ein System von bereits anerkannten Sätzen (Thesen) bislang nicht falsifiziert wurde. Das macht meiner Meinung nach schon einen erheblichen Unterschied.

Wir reden also , wenn Popper von Bewährungs spricht, von einer Systemtheorie.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 12. Apr 2025, 09:16
*Ich kenne Popper nicht vom Original, und ich habe im Moment auch nicht vor, ihn zu lesen.
Wie dem auch sei, nun kennst du, zumindest diesbezüglich, sowohl Popper im Original, als auch dazu meine Interpretation. Natürlich nur, wenn du im Moment vorhast beides zu lesen.
Zuletzt geändert von Timberlake am So 13. Apr 2025, 00:18, insgesamt 13-mal geändert.




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Consul
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Sa 12. Apr 2025, 23:26

Popper über den "Weg der Wissenschaft":
"Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen, auch kein System, das in stetem Fortschritt einem Zustand der Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist kein Wissen: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen.

Dennoch ist die Wissenschaft nicht nur biologisch wertvoll. Ihr Wert liegt nicht nur in ihrer Brauchbarkeit: Obwohl Wahrheit und Wahrscheinlichkeit für sie unerreichbar ist, so ist doch das intellektuelle Streben, der Wahrheitstrieb, wohl der stärkste Antrieb der Forschung.

Zwar geben wir zu: Wir wissen nicht, sondern wir raten. Und unser Raten ist geleitet von dem unwissenschaftlichen, metaphysischen (biologisch erklärbaren) Glauben, daß es Gesetzmäßigkeiten gibt, die wir entschleiern, entdecken können. Mit BACON könnten wir die "...Auffassung, der sich jetzt die Naturwissenschaft bedient,...Antizipationen..., leichtsinnige und voreilige Annahmen" [1 nennen.

Aber diese oft phantastisch kühnen Antizipationen der Wissenschaft werden klar und nüchtern kontrolliert durch methodische Nachprüfungen. Einmal aufgestellt, wird keine Antizipation dogmatisch festgehalten; die Forschung sucht nicht, sie zu verteidigen, sie will nicht recht behalten: mit allen Mitteln ihres logischen, ihres mathematischen und ihres technisch-experimentellen Apparats versucht sie, sie zu widerlegen, – um zu neuen unbegründeten und unbegründbaren Antizipationen, zu neuen "leichtsinnigen Annahmen", wie BACON spottet, vorzudringen.

Wohl kann man diesen Weg auch nüchterner deuten; man kann sagen, der Fortschritt könne "sich...nur in zwei Richtungen vollziehen: Sammlung neuer Erlebnisse und bessere Ordnung der bereits vorhandenen" [2. Und doch scheint mir diese Kennzeichnung des wissenschaftlichen Fortschrittes wenig charakteristisch; zu sehr erinnert sie an die BACONsche Induktion, an die emsig gesammelten "zahllosen Trauben" [3, aus denen der Wein der Wissenschaft gekeltert wird, – an jene sagenhafte Methode des Fortschreitens von Beobachtung und Experiment zur Theorie (eine Methode, mit der noch immer manche Wissenschaften zu arbeiten versuchen, in der Meinung, es sei das die Methode der experimentellen Physik).

Nicht darin liegt der wissenschaftliche Fortschritt, daß mit der Zeit immer mehr neue Erlebnisse zusammenkommen; auch nicht darin, daß wir es lernen, unsere Sinne besser zu gebrauchen. Von unseren Erlebnissen, die wir hinnehmen, wie sie uns treffen, kommen wir nie zu Wissenschaft – und wenn wir sie noch so emsig sammeln und ordnen. Nur die Idee, die unbegründete Antizipation, der kühne Gedanke ist es, mit dem wir, ihn immer wieder aufs Spiel setzend, die Natur einzufangen versuchen: Wer seine Gedanken der Widerlegung nicht aussetzt, der spielt nicht mit in dem Spiel Wissenschaft.

Der Gedanke ist es, der auch die Prüfung durch die Erfahrung leitet: Experimentieren ist planmäßiges Handeln, beherrscht von der Theorie. Wir stolpern nicht über Erfahrungen, wir lassen sie auch nicht über uns ergehen wie einen Strom von Erlebnissen, sondern wir machen unsere Erfahrungen; wir sind es, die die Frage an die Natur formulieren, wir versuchen immer wieder, die Frage mit aller Schärfe auf "Ja" und "Nein" zu stellen – die Natur antwortet nicht, wenn sie nicht gefragt wird – und schließlich sind es ja doch nur wir, die die Frage beantworten; wir setzen die Antwort fest, nach der wir die Natur fragten, wenn wir die Antwort streng geprüft, uns lang und ernstlich gemüht haben, die Natur zu einem eindeutigen "Nein" zu bewegen. "Vor der Arbeit des Experimentators und seinem Ringen um deutbare Tatsachen in unmittelbarer Berührung mit der unbeugsamen Natur, die zu unseren Theorien so kräftig Nein und so undeutlich Ja zu sagen versteht, bezeuge ich ein für allemal meinen tiefsten Respekt." [4

Das alte Wissenschaftsideal, das absolut gesicherte Wissen, hat sich als ein Idol erwiesen. Die Forderung der wissenschaftlichen Objektivität führt dazu, daß jeder wissenschaftliche Satz vorläufig ist. Er kann sich wohl bewähren – aber jede Bewährung ist relativ, eine Beziehung, eine Relation zu anderen, gleichfalls vorläufig festgesetzten Sätzen. Nur in unseren subjektiven Überzeugungserlebnissen, in unserem Glauben können wir "absolut sicher" sein.

Mit dem Idol der Sicherheit, auch der graduellen, fällt eines der schwersten Hemmnisse auf dem Weg der Forschung; hemmend nicht nur für die Kühnheit der Fragestellung, hemmend auch oft für die Strenge und Ehrlichkeit der Nachprüfung. Der Ehrgeiz, recht zu behalten, verrät ein Mißverständnis: nicht der Besitz von Wissen, von unumstößlichen Wahrheiten macht den Wissenschaftler, sondern das rücksichtslose, unablässige Suchen nach Wahrheit.

Spricht aus unserer Auffassung Resignation? Kann die Wissenschaft nur ihre biologische Aufgabe, sich in praktischer Anwendung zu bewähren, erfüllen, – ist ihre intellektuelle Aufgabe unlösbar? Ich glaube nicht. Niemals setzt sich die Wissenschaft das Phantom zum Ziel, endgültige Antworten zu geben oder auch nur wahrscheinlich zu machen; sondern ihr Weg wird bestimmt durch ihre unendliche, aber keineswegs unlösbare Aufgabe, immer wieder neue, vertiefte und verallgemeinerte Fragen aufzufinden und die immer nur vorläufigen Antworten immer von neuem und immer strenger zu prüfen."

(Popper, Karl. Logik der Forschung: Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien: Springer, 1935. S. 207-9)

Quellenangaben:
[1 Bacon, Francis. Novum Organon I., Art. 26]
[2 Frank, Philipp. Das Kausalgesetz und seine Grenzen (1932)]
[3 Bacon, Francis. Novum Organon I., Art. 123]
[4 Weyl, Hermann. Gruppentheorie und Quantenmechanik (1931), S. 2]



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Jörn Budesheim
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"Wir wissen nicht, sondern wir raten." (Popper)*

Im Podcast und dem Textauszug wird übrigens auch die Frage aufgeworfen, wie es um die Selbstanwendung von Poppers Theorie steht – also, wie sie abschneidet, wenn man sie auf sich selbst anwendet. Die Antwort der beiden Autoren fällt dabei, gelinde gesagt, nicht gerade positiv aus. Wenn ich mich richtig erinnere, räumen sie allerdings ein, dass Popper das Problem zumindest erkannt hat … aber keine Lösung fand.

Beide Autoren fragen sich zudem, wie es überhaupt sein kann, dass die Theorie der Falsifikation – gerade in den Wissenschaften – so viel Anklang gefunden hat, trotz ihrer Schwächen. Die Antwort fällt ernüchternd aus: Sie vermuten, dass viele die hochgelobten Texte gar nicht gelesen haben :) und die Theorie vermutlich mit der einfachen Idee verwechseln, dass wir fehlbar sind.

*Wenn mich nicht alles täuscht, hat vor vielen Jahren der User "Fliege" das des Öfteren von sich gegeben, allerdings ohne Quelle.




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So 13. Apr 2025, 19:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 13. Apr 2025, 07:15
Theorie der Falsifikation
Popper hat immer wieder daran erinnert, dass die Falsifikation keine Theorie ist, sondern eine Methode.

Das ist ein wichtiger Unterschied. Das heißt zum Beispiel, dass man die Falsifikation (die Methode) nicht falsifizieren kann. Methoden kann man ablehnen, verwenden, verfeinern und vieles mehr, aber nicht falsifizieren. Falsifikation ist ein Tun, ähnlich dem Radfahren oder Brustschwimmen; dieses Tun per se ist keine Theorie. Erst wenn man das Tun in Aussagen verknüpft, etwa "Brustschwimmen ist langsamer als Kraulen", gibt es Kontexte zum Falsifizieren. Ich kann nicht sagen, das Brustschwimmen an sich sei falsch oder wahr. Ich muss das erst in einen Bezug setzen, etwa in Bezug auf Gesundheit oder Schnelligkeit oder Bequemlichkeit etc. Ebensowenig ist die Falsifikationsmethode an sich falsch oder wahr. Falsch sein kann nur eine Aussage, zum Beispiel: "Die Falsifikation ist die ideale Methode in der Esoterik".




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Popper sagt doch u.a., dass sich Theorien nicht verifizieren lassen, sondern nur falsifizieren. Das ist eine Theorie.


Meine Spracherkennung kennt Popper nicht und schreib stattdessen immer Papa.




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So 13. Apr 2025, 20:02

Das ist der Falsifikationismus. Ja, das ist eine Theorie.




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So 13. Apr 2025, 20:13

Und das habe ich oben die Theorie der Falsifikation genannt.




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Mo 14. Apr 2025, 00:06

Consul hat geschrieben :
Sa 12. Apr 2025, 23:26
Popper über den "Weg der Wissenschaft":
"Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen, auch kein System, das in stetem Fortschritt einem Zustand der Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist kein Wissen: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen.

(Popper, Karl. Logik der Forschung: Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien: Springer, 1935. S. 207-9)
Um dazu auf den Vortrag von Wahrheit (3) / Wissen (4) von Philipp Hübl zurück zu kommen ....



Gibt es Wahrheit?
Aristoteles : wer denkt, es gäbe keine Wahrheit , ist wie eine "Pflanze"; John Searle "Mickymaus- Philosophie"

Überleitung

" .. ja, ich hatte schon gesagt, es gibt diese interessante Beobachtung, dass es in der Welt Wahrheitsfeinde gibt. Populisten habe ich schon genannt, vielleicht gehört in die Liste auch noch einige Querdenker, radikale Impfgegner und andere Feinde der Wissenschaft. .. die Wissenschaft ist der beste Weg die Wahrheit herauszufinden. Wenn Wissenschaft wissenschaftssystematische Wahrheitssuche ist, kann ich nicht beides haben. Entweder es gibt keine Wahrheit, dann gibt es auch nicht Wissenschaft im Sinne von, es gibt so etwas wie eine systematische Wahrheitssuche. " ... 40:36


Wenn Popper behauptet . " Unsere Wissenschaft ist kein Wissen: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen" , so würde ich vielleicht nicht meinen , dass er wie die Populisten, einige Querdenker und radikale Impfgegner ein Feind der Wissenschaft ist. Gleichwohl ich mich schon frage , ob er denn auch , unter Bezugnahme darauf, soweit gehen würde , eine systematische Wahrheitsuche in der Wissenschaft zu bestreiten. Ob er denn von daher möglicherweise als "Planze" einer "Mickymaus- Philosophie" aufgesessen ist.

Um ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen!

Eine systematische Wahrheitssuche in der Wissenschaft kann es meiner Meinung nach nur geben, wenn es auch eine Wahrheit von der Wissenschaft zu finden gibt.




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