"Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen, auch kein System, das in stetem Fortschritt einem Zustand der Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist kein Wissen: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen.
Dennoch ist die Wissenschaft nicht nur biologisch wertvoll. Ihr Wert liegt nicht nur in ihrer Brauchbarkeit: Obwohl Wahrheit und Wahrscheinlichkeit für sie unerreichbar ist, so ist doch das intellektuelle Streben, der Wahrheitstrieb, wohl der stärkste Antrieb der Forschung.
Zwar geben wir zu: Wir wissen nicht, sondern wir raten. Und unser Raten ist geleitet von dem unwissenschaftlichen, metaphysischen (biologisch erklärbaren) Glauben, daß es Gesetzmäßigkeiten gibt, die wir entschleiern, entdecken können. Mit BACON könnten wir die "...Auffassung, der sich jetzt die Naturwissenschaft bedient,...Antizipationen..., leichtsinnige und voreilige Annahmen" [1 nennen.
Aber diese oft phantastisch kühnen Antizipationen der Wissenschaft werden klar und nüchtern kontrolliert durch methodische Nachprüfungen. Einmal aufgestellt, wird keine Antizipation dogmatisch festgehalten; die Forschung sucht nicht, sie zu verteidigen, sie will nicht recht behalten: mit allen Mitteln ihres logischen, ihres mathematischen und ihres technisch-experimentellen Apparats versucht sie, sie zu widerlegen, – um zu neuen unbegründeten und unbegründbaren Antizipationen, zu neuen "leichtsinnigen Annahmen", wie BACON spottet, vorzudringen.
Wohl kann man diesen Weg auch nüchterner deuten; man kann sagen, der Fortschritt könne "sich...nur in zwei Richtungen vollziehen: Sammlung neuer Erlebnisse und bessere Ordnung der bereits vorhandenen" [2. Und doch scheint mir diese Kennzeichnung des wissenschaftlichen Fortschrittes wenig charakteristisch; zu sehr erinnert sie an die BACONsche Induktion, an die emsig gesammelten "zahllosen Trauben" [3, aus denen der Wein der Wissenschaft gekeltert wird, – an jene sagenhafte Methode des Fortschreitens von Beobachtung und Experiment zur Theorie (eine Methode, mit der noch immer manche Wissenschaften zu arbeiten versuchen, in der Meinung, es sei das die Methode der experimentellen Physik).
Nicht darin liegt der wissenschaftliche Fortschritt, daß mit der Zeit immer mehr neue Erlebnisse zusammenkommen; auch nicht darin, daß wir es lernen, unsere Sinne besser zu gebrauchen. Von unseren Erlebnissen, die wir hinnehmen, wie sie uns treffen, kommen wir nie zu Wissenschaft – und wenn wir sie noch so emsig sammeln und ordnen. Nur die Idee, die unbegründete Antizipation, der kühne Gedanke ist es, mit dem wir, ihn immer wieder aufs Spiel setzend, die Natur einzufangen versuchen: Wer seine Gedanken der Widerlegung nicht aussetzt, der spielt nicht mit in dem Spiel Wissenschaft.
Der Gedanke ist es, der auch die Prüfung durch die Erfahrung leitet: Experimentieren ist planmäßiges Handeln, beherrscht von der Theorie. Wir stolpern nicht über Erfahrungen, wir lassen sie auch nicht über uns ergehen wie einen Strom von Erlebnissen, sondern wir machen unsere Erfahrungen; wir sind es, die die Frage an die Natur formulieren, wir versuchen immer wieder, die Frage mit aller Schärfe auf "Ja" und "Nein" zu stellen – die Natur antwortet nicht, wenn sie nicht gefragt wird – und schließlich sind es ja doch nur wir, die die Frage beantworten; wir setzen die Antwort fest, nach der wir die Natur fragten, wenn wir die Antwort streng geprüft, uns lang und ernstlich gemüht haben, die Natur zu einem eindeutigen "Nein" zu bewegen. "Vor der Arbeit des Experimentators und seinem Ringen um deutbare Tatsachen in unmittelbarer Berührung mit der unbeugsamen Natur, die zu unseren Theorien so kräftig Nein und so undeutlich Ja zu sagen versteht, bezeuge ich ein für allemal meinen tiefsten Respekt." [4
Das alte Wissenschaftsideal, das absolut gesicherte Wissen, hat sich als ein Idol erwiesen. Die Forderung der wissenschaftlichen Objektivität führt dazu, daß jeder wissenschaftliche Satz vorläufig ist. Er kann sich wohl bewähren – aber jede Bewährung ist relativ, eine Beziehung, eine Relation zu anderen, gleichfalls vorläufig festgesetzten Sätzen. Nur in unseren subjektiven Überzeugungserlebnissen, in unserem Glauben können wir "absolut sicher" sein.
Mit dem Idol der Sicherheit, auch der graduellen, fällt eines der schwersten Hemmnisse auf dem Weg der Forschung; hemmend nicht nur für die Kühnheit der Fragestellung, hemmend auch oft für die Strenge und Ehrlichkeit der Nachprüfung. Der Ehrgeiz, recht zu behalten, verrät ein Mißverständnis: nicht der Besitz von Wissen, von unumstößlichen Wahrheiten macht den Wissenschaftler, sondern das rücksichtslose, unablässige Suchen nach Wahrheit.
Spricht aus unserer Auffassung Resignation? Kann die Wissenschaft nur ihre biologische Aufgabe, sich in praktischer Anwendung zu bewähren, erfüllen, – ist ihre intellektuelle Aufgabe unlösbar? Ich glaube nicht. Niemals setzt sich die Wissenschaft das Phantom zum Ziel, endgültige Antworten zu geben oder auch nur wahrscheinlich zu machen; sondern ihr Weg wird bestimmt durch ihre unendliche, aber keineswegs unlösbare Aufgabe, immer wieder neue, vertiefte und verallgemeinerte Fragen aufzufinden und die immer nur vorläufigen Antworten immer von neuem und immer strenger zu prüfen."
(Popper, Karl. Logik der Forschung: Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien: Springer, 1935. S. 207-9)
Quellenangaben:
[1 Bacon, Francis. Novum Organon I., Art. 26]
[2 Frank, Philipp. Das Kausalgesetz und seine Grenzen (1932)]
[3 Bacon, Francis. Novum Organon I., Art. 123]
[4 Weyl, Hermann. Gruppentheorie und Quantenmechanik (1931), S. 2]