Gibt es eine Demokratie ohne Kapitalismus?

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Stefanie
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Do 7. Dez 2017, 20:43

Der Sozialismus und die Vergesellschaftlichung von Unternehmen hat aber doch nicht funktioniert. Das letzte Beispiel ist doch wohl Venezuela. Bedarfsorientierte Produktion sieht anders aus.
Warum sollte es jetzt funktionieren?

Jeder und jede einzelne Person muss Miteigentum daran hat, und zwar auch hinsichtlich der Verantwortung und vor allem auch bei den Pflichten. Geht ein Unternehmen Pleite, haften dann alle. Wo wäre sonst der Anreiz, ein Unternehmen, welches allem gehört, erfolgreich zu führen.
Aber nicht jeder oder jede will Eigentümer/in eines Unternehmens sein.

Ich habe mehr als nur Zweifel, dass es funktioniert.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Tarvoc
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Fr 8. Dez 2017, 03:28

Venezuela ist daran gescheitert, dass das Chavez-Regime seine sozialstaatlichen Reformen durch Ölexport finanzierten. Der direkte Auslöser der Venezuela-Krise bestand darin, dass die Saudis den Weltmarkt mit ihrem eigenen Öl überschwemmten, was zu einem Einbruch der Ölpreise weltweit führte.

Chavez' Sozialismus war halbherzig, allerdings notwendig halbherzig. Die Ölvorkommen wurden (zu Recht!) verstaatlicht und man versuchte, demokratische Strukturen in den Favelas aufzubauen, aber insgesamt blieb der größte Teil der Wirtschaft privatwirtschaftlich. Allerdings kann man in einem einzelnen isolierten Drittweltland auch nicht sehr viel mehr machen. Bleibt der Sozialismus auf ein einziges, wenig entwickeltes Land beschränkt, ist er ohnehin zum Scheitern verursacht. Das Beste, was er in einem solchen Falle leisten kann, sind ein paar Verstaatlichungen und sozialstaatliche Reformen, die das Leben der Bevölkerung etwas weniger ärmlich machen. Wird dies noch dazu durch den Export eines einzigen natürlichen Rohstoffes finanziert, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Ein Beispiel für einen "sozialistischen" Staat, den die Krise kaum getroffen hat, ist Bolivien - weil Bolivien schlichtweg kein Öl zum Exportieren hat. Die Menschen dort sind natürlich noch ärmer als in Venezuela - aber sie stehen hinter der Evo-Morales-Regierung, weil diese im Vergleich zu vorherigen Regierungen eben dennoch ihr Leben verbessert hat. Aber auch das ist alles andere als ein voll entwickelter Sozialismus.

Die Idee besteht natürlich auch darin, dass man bei einem voll entwickelten Sozialismus nicht mehr verschiedene, voneinander getrennte und konkurrierende Unternehmen hätte. Dass nicht jeder auf jede Entscheidung Einfluss nehmen kann und will, ist klar. Organisatorische Aufgaben werden deligiert werden müssen, nur dann eben auf demokratische Weise, bottom-up statt top-down. Es ist davon auszugehen, dass es auch weiterhin (und nun auch erstmals in Ökonomie und Produktionssphäre) sowas wie eine Repräsentation geben wird. Das Modell der Rätedemokratie sieht allerdings vor, dass diese Repräsentanten sehr viel unmittelbarer den Repräsentierten gegenüber verantwortlich sein sollen, nämlich durch das sogenannte Imperative Mandat. Auf diese Weise steht es jedem frei, inwieweit er sich an der Organisation beteiligen will - während im Kapitalismus der einzelne Arbeitnehmer auf die Organisation seiner Firma zunächst mal überhaupt keinen Einfluss hat, der ihm nicht von seinem Arbeitgeber eingeräumt wurde, und auf die gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Strukturen sogar noch weniger.

Die Argumente hinsichtlich des Scheiterns bisheriger sozialistischer Versuche kann ich nachvollziehen. Die meisten blieben isoliert, worin sich eben bereits ihre ganze Schwäche gründet - und der Ostblock ist ein ganz eigenes Thema für sich, auf das ich hier nicht auf die Schnelle detailliert eingehen kann.

Insgesamt fehlte in der Vergangenheit einfach oft auch die Technologie, die zur gesellschaftlichen Planung und Organisation industrialisierter Ökonomien wohl notwendig wäre, wodurch Märkte zur besten Option wurden. An Software, mit der sich auch komplexe ökonomische Zusammenhänge planen lassen, wird in verschiedenen Teilen der Welt geforscht. Diese Software könnte äußerst hilfreich sein, wenn sie denn verwendet würde. Unter privatwirtschaftlich-kapitalistischen Verhältnissen kann sie allerdings schon aus strukturellen Gründen gar nicht zu solchen Zwecken verwendet werden.



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herbert clemens
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Do 18. Jan 2018, 09:10

Ich habe mal die Beiträge in diesem Forum quer gelesen, und finde es für mich ein interessantes und noch nicht ausgeschöpftes Thema.
Lange Lebenszeit hätte ich als „undogmatischer demokratischer Sozialist“ den Argumentationen von Tarvoc beigepflichtet. Im kapitalistischen Wirtschaftsleben gibt es wenig Demokratie. Die Kapitaleigner und ihre Manager bestimmen nach „Gewinn“erwartungen die Produktion von Waren. (Wie kurz und prägnant Tarvoc Bd1 des Kapitals zusammengefasst hat, bewundernswert). Der Staat regelt idealiter nur, dass durch gleiche Rechte dieses Produktionssystem erhalten bleibt. Kritisch in diesem Sinne gefragt: Ist es souveräne Volksherrschaft alle 4 Jahre eine Regierung zu wählen, die nur Nuancen von Regeln bestimmt?
Andererseits kann ich realistischerweise den Bedenken (z.B. von Stefanie durchaus) folgen, und ich halte es mittlerweile für keinen Zufall, dass sozialistische Umwälzungen keinen Fortschritt im Bezug auf Freiheit/Demokratie/... und auf bessere Versorgung mit Produkten zur Folge haben.
Das liegt sicher auch daran, dass sozialistische Perspektiven in unterentwickelten Ländern in Weltmarktabhängigkeiten nicht zu erreichen sind (wie Tarvoc ausführlich begründet).
In meinem derzeitigen Denkhorizont scheint mir die demokratische Planung der Befriedigung all der individuellen Konsumwünsche von uns allen trotz aller digitalen Hilfsmittel nicht verwirklichbar zu sein.
Auf eine Form von Marktwirtschaft können wir meines Erachtens nicht verzichten.
(Ich kenne noch nicht die Ansätze zur Gemeinwohlökonomie z.B. von Felber(?))
Der Alltag ruft: Gedankengang bleibt unvollendet)




Tosa Inu
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Do 18. Jan 2018, 09:48

M.E. ist das Kernproblem marxistischer oder linker Autoren, dass sie ein Unterkapitel verabsolutieren.
Die Zusammenhänge, die da in aller Ausführlichkeit entwickelt werden, sind vermutlich zum größten Teil wahr, aber Linke sind von der fixen Idee besessen, das seien die einzigen und wirkmächtigsten Faktoren, mit denen alles steht und fehlt.

Das ist glaube ich schon in der Kernthese daneben, da man bspw. von der falschen Idee ausgeht, Aggression sei aufgrund von Eigentumsverhältnissen (der Produktionsmittel) erst in die Welt gekommen, was einfach auch dann grundfalsch ist, wenn Aggression dadurch etwas moduliert werden kann, was sicher richtig ist. Zweitens, negieren Systemtheorien, auch die von Marx, notorisch die Kraft des Ichs (das eben einen inneren Ort der Identifikation hat, bei dem unterm Strich klar wird, was ich nun will und was nicht) und verkennen die Systematik und Abfolge innerer Entwicklung grob. Und in der fortschreitenden Fragmentierung des Ich im epidemischen Ausmaß, liegt m.E. ein Kernproblem. Drittens, hat mich auch die merkwürdig starre Idee, dass es so etwas wie eine fixe Gesamtmenge an Arbeit gäbe, die den immer gleichen Wert hat, nie überzeugt. Der Zusammenbruch der Qualität, auch theoretisch, ist immer fragwürdig. Viertens, verkennen linke Theoretiker glaube ich oft die Stimmung der Bevölkerung (oder pathologisieren sie) im Bezug auf das, was allgemein als gerecht empfunden wird. Eine flächendeckende Alimentation wird von der Mehrheit der Menschen m.E. (und nicht weil sie fies sind und der böse Neoliberalismus sie so gemacht hat) nicht gewünscht und zwar weil das ihrem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht. Mensch und Tier scheint von Beginn an zu unterscheiden, dass Tiere Trittbrettfahrer gewähren lassen, Menschen nicht.

Wirklich kritisch sehe ich die freiwillige Entmündigung durch die und in der digitalen Welt. Nicht nur, dass die flächendeckende Ausspähung von jedem nicht nur ein Skandal ist, ein Wissen darum, dass man kontrolliert wird, bringt andere Menschen hervor und die Bedeutung der Privatsphäre ist vollkommen unterschätzt. Dazu kommt, dass das, was mal als Erweiterung der Möglichkeiten startete - plötzlich war jedem Privatmenschen prinzipiell alles zugänglich - sich längst für viele ins Gegenteil verkehrt hat. Vermeintlich Passendes wird uns per Algorithmus mundgerecht zugewiesen, immer mit der Ansage, es sei doch toll, wenn man keine Schneekettenwerbung bekommt, wenn man eigentlich Kinderwagen sucht. Die Problematik, dass sich unser Horizont durch Passendes immer weiter verengt ist vollkommen unzureichend reflektiert.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Rosita
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Do 18. Jan 2018, 19:22

Ich kenne einige sozialistische Länder, manche ganz gut.

China, Sri lanka, Kuba alle enstanden durch sehr grosse Not in der Bevölkerung und der Kommunismus und Sozialismus hat deshalb auch anfänglich Fortschritt gebracht im Vergleich zu vorher. In China gab es vor Mao vom Adel abgesehen bei der Landbevölkerug nur Leibeigene.
Sri Lanka war bettelarm und Kuba war fest im Griff der amerikanisch Mafia, die aus der Insel einen gigantischn Puff und Spielhölle machte.

Zu dieser Zeit war der Sozialismus die einzige verfügbare, politische Option.

Nur wird es niemals "Führer" oder politsche Klassen geben die nicht korrumpierbar werden. Das lässt sich nur durch eine demokratisch Regierung mit
unabhängiger Legislative, Judikative und Exekutive umgehen.

Einer der wenigen die sich nicht von Luxus verführen liessen war Fidel Castro. Er blieb sich zwar bis zu Schluss treu, aber er liess keine Veränderungen zu.
Die Kubaner haben sich nach der Revolution besser gestellt und liebten Castro deshalb bis zum Ende. Aber es muss nun dringend eine sanfte Veränderung geben.



Jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten!

herbert clemens
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Fr 19. Jan 2018, 10:10

Ich möchte auf den Beitrag von Tosa Inu eingehen:
Zu1: Diese linke Kernthese kenne ich nicht.
Zu 2: Marx kann man durchaus anders lesen, Sein Werk heißt nicht „Politisch Ökonomie“, sondern „Kritik der politischen Ökonomie“. Es geht ihm darum, eben das vorhandene System der quantitativen Vermehrung kritisch darzustellen und gegen diesen Entfremdungszusammenhang die allseitige Entfaltung des in Gemeinschaft handelnden Individuums zu stellen. So ist es keine Systemtheorie, sondern eine Kritik der Grundlagen eines Systems.
Zu 3: Quantitativen Überlegungen in den Vordergrund zu schieben, zeichnet ja eben das kapitalistische System aus. Wachstum und Gewinn sind die entscheidenden Größen. Es geht Marx um eine Kritik der quantitativen Mehrwertproduktion und eine Orientierung an den Gebrauchswert. (zu 4: Dass es den Linken um Alimentierung geht, ist mir völlig neu.)
So würde meine Antwort als humanistischer Linker lauten.

Andererseits sehe ich schon, dass der Systemzusammenhang in kritischer Absicht zu total dargestellt wird. Die Individuen mit ihren Gedanken gehen nicht im Systemzusammenhang auf. Es ist eine Stärkung des individuellen Bewusstseins möglich, dass auch Folgen für die Produktion von Gütern hat.
Und: Ohne dass Gebrauchswerte (oft allerdings auch fiktive) produziert werden, lassen sich Werte/Mehrwerte/Gewinnen nicht realisieren.
Es gibt Unternehmen, die sich an natürlichen Lebengrundlagen orientieren und/oder sich für besser bezahlte existenzsichernde Löhne (oder Produktzuwendungen z.B. für Kleinbauern im Süden) einsetzen und eine wachsende Zahl von Konsumenten, die bereit ist, dafür mehr zu bezahlen.

Ist also trotz Kapitalismus eine Orientierung an freiheitlichen solidarisch handelnden Menschen (sprich: wahrer Demokratie) möglich? (Entschuldige Jörn, habe gerade mal Spaß dran deine Ausgangsfrage ein wenig zu verdrehen.)

Ernsthafter: Ist eine Marktwirtschaft mit gemeinnützigen Zielen zu verwirklichen? Was wäre die Rolle des Staates, von Staatenbünden?




Tosa Inu
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Fr 19. Jan 2018, 18:42

herbert clemens hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 10:10
Ich möchte auf den Beitrag von Tosa Inu eingehen:
Zu1: Diese linke Kernthese kenne ich nicht.
Zu 2: Marx kann man durchaus anders lesen, Sein Werk heißt nicht „Politisch Ökonomie“, sondern „Kritik der politischen Ökonomie“. Es geht ihm darum, eben das vorhandene System der quantitativen Vermehrung kritisch darzustellen und gegen diesen Entfremdungszusammenhang die allseitige Entfaltung des in Gemeinschaft handelnden Individuums zu stellen. So ist es keine Systemtheorie, sondern eine Kritik der Grundlagen eines Systems.
Zu 3: Quantitativen Überlegungen in den Vordergrund zu schieben, zeichnet ja eben das kapitalistische System aus. Wachstum und Gewinn sind die entscheidenden Größen. Es geht Marx um eine Kritik der quantitativen Mehrwertproduktion und eine Orientierung an den Gebrauchswert. (zu 4: Dass es den Linken um Alimentierung geht, ist mir völlig neu.)
So würde meine Antwort als humanistischer Linker lauten.
Es fällt mir insofern schwer darauf zu antworten, weil ich kein Marxkenner bin und so nur über Bande kommentieren kann, dies allerdings schon öfter auch in linken Kreise getan habe, so dass ich mich ersnthaft wundern würde, hätte ich linke Ideen nun in allen Punkten fundamental missverstanden.
Kannst Du kurz darstellen, was Deinen linken Humanismus im Kern ausmacht?
herbert clemens hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 10:10
Andererseits sehe ich schon, dass der Systemzusammenhang in kritischer Absicht zu total dargestellt wird. Die Individuen mit ihren Gedanken gehen nicht im Systemzusammenhang auf. Es ist eine Stärkung des individuellen Bewusstseins möglich, dass auch Folgen für die Produktion von Gütern hat.
Die Marginalisierung des Subjekts ist auch das, was mich immer ein wenig verwundert. Klar am Ende soll dann jeder philosophiere und fischen, wie's grad gefällt, aber dazwischen geht immer nur Revolution (wie konkret oder verdünnt auch immer).
herbert clemens hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 10:10
Und: Ohne dass Gebrauchswerte (oft allerdings auch fiktive) produziert werden, lassen sich Werte/Mehrwerte/Gewinnen nicht realisieren.
Es gibt Unternehmen, die sich an natürlichen Lebengrundlagen orientieren und/oder sich für besser bezahlte existenzsichernde Löhne (oder Produktzuwendungen z.B. für Kleinbauern im Süden) einsetzen und eine wachsende Zahl von Konsumenten, die bereit ist, dafür mehr zu bezahlen.
Das finde ich vollkommen in Ordnung und sehe diese Gewinnfixierung als unnötig an.
herbert clemens hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 10:10
Ist also trotz Kapitalismus eine Orientierung an freiheitlichen solidarisch handelnden Menschen (sprich: wahrer Demokratie) möglich? (Entschuldige Jörn, habe gerade mal Spaß dran deine Ausgangsfrage ein wenig zu verdrehen.)

Ernsthafter: Ist eine Marktwirtschaft mit gemeinnützigen Zielen zu verwirklichen? Was wäre die Rolle des Staates, von Staatenbünden?
Die Rolle des Staates ist oft nicht so wichtig, weil Korruption ein reales Problem ist. Allerdings glaube ich, dass die Macht der sog. Verbraucher wesentlich größer ist, als man oft hört, da es ja, die Logik der Gewinnmaximierung aufnehmend, oft gar nicht um einen Generalboykott bestimmer Waren geht, sondern schon ein geringerer Gewinn als im Vorjahr erheblich weh tut, gschweige ein Wachstumsstillstand oder gar 3% Einbußen. Das sind mächtige Hebel, die man da hat.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Sa 20. Jan 2018, 18:30

herbert clemens hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:10
Kritisch in diesem Sinne gefragt: Ist es souveräne Volksherrschaft alle 4 Jahre eine Regierung zu wählen, die nur Nuancen von Regeln bestimmt?
Erstens wählen wir ja nicht nur alle 4 Jahre, sondern deutlich häufiger. Und zudem lebt Demokratie nicht nur von Wahlen. Zu vielen Fragen gibt es öffentliche Debatten, an denen sich jeder auf verschiedenste Art und Weise beteiligen kann. Dass wir bei solchen Debatten frei und ohne Angst unsere Meinung vertreten können (zum Beispiel hier) ist ein Vorteil, den nicht alle Menschen auf diesem Globus genießen.




herbert clemens
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So 21. Jan 2018, 19:40

Ich bin inzwischen ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich dieses Etikett humanistischer Linker mir noch anheften will.
»Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. « (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung / 1843-44)
Als Ausgangspunkt wollte ich den Marxschen humanistischen Imperativ wählen, habe dann gemerkt, (als ich nach einem korrekten Zitat suchte), dass ich seine Einschätzung der Religion nicht mehr teile. Der materialistischen Platitüde „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ leuchtet mir nicht mehr ein. Dennoch geht es doch darum, auch in den Wirtschaftsprozessen den kategorischen Imperativ anzuwenden. (auch zu Jörn) Ich denke auch, dass eine demokratische Selbstverständigung in erster Linie in Debatten von uns mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen geleistet wird. Ob die Wahrheit z.B. aufgrund der wirkmächtigen finanziell starken Kapitalgruppen immer genügend in die öffentliche Meinung zu Tage tritt?

Ich würde die Rolle des Konsumenten im Wirtschaftskreislauf auch nicht gering schätzen. Deshalb arbeite ich ehrenamtlich in einem Weltladen und mache also darauf aufmerksam, durch Konsum von faireren Produkten der Kleinbauern und Genossenschaften etwas gegen sehr unmenschliche Arbeitsbedingungen zu unternehmen. (z.B. Kinderarbeit beim Kakaoanbau in Afrika)
Das hat aber starke Grenzen, wie sich in der „starken“ (?!) Steigerung von 1% zu 3 % Fairhandels Anteil (bei Kakao) in den letzten Jahren zeigt.
Demgegenüber nimmt z.B der Export auch unserer subventionierten Landwirtschaftsprodukte in viel höherem Maße zu. Die Wirtschaftlich Stärkerensiegen in der Konkurenz gegen die Schwächeren. Dieser Prozess wird z.B. durch die geplanten Freihandelsabkommen mit Afrika verstärkt werden.
Ich bin ratos, wo da welcher Hebel wirksam sein könnte. (Vielleicht weiß Tarvoc weiter?)




Tosa Inu
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Mo 22. Jan 2018, 10:58

herbert clemens hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 19:40
Als Ausgangspunkt wollte ich den Marxschen humanistischen Imperativ wählen, habe dann gemerkt, (als ich nach einem korrekten Zitat suchte), dass ich seine Einschätzung der Religion nicht mehr teile. Der materialistischen Platitüde „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ leuchtet mir nicht mehr ein. Dennoch geht es doch darum, auch in den Wirtschaftsprozessen den kategorischen Imperativ anzuwenden.
Das schließt sich ja nicht aus, da der KI weder den Materialismus, noch Gott als Voraussetzung braucht, sondern sich, laut Kant, aus einer konsequenten Anwendung der Vernunft ergibt.
herbert clemens hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 19:40
Ich würde die Rolle des Konsumenten im Wirtschaftskreislauf auch nicht gering schätzen.
Ein Punkt, den man viel stärker bewusst machen müsste, ohne dass er moralinsauer daher kommt. Linke schaffen das selten, ohne es in ein Bündel impliziter und expliziert Drohungen zu verpacken und weil sie das Volk für doof oder immer verführt halten (und dem Einzelnen und seinem Einfluss wenig zutrauen), müssen staatliche Regulierungen her, leider führt das zu einer Machtballung, die dann Korruption tatsächlich leicht macht, was keine steile These, sondern Lebensrealität ist. Die Lobbyisten wisssen es zu nutzen.

Die Folgen sind nicht lustig und wenig originelle Idee ist, dass dort wo Regulierung de facto versagt hat, eben noch mehr zu regulieren sei, was stets in dieverse Arten der Bevormudung einmündet.
herbert clemens hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 19:40
Deshalb arbeite ich ehrenamtlich in einem Weltladen und mache also darauf aufmerksam, durch Konsum von faireren Produkten der Kleinbauern und Genossenschaften etwas gegen sehr unmenschliche Arbeitsbedingungen zu unternehmen. (z.B. Kinderarbeit beim Kakaoanbau in Afrika)
Das hat aber starke Grenzen, wie sich in der „starken“ (?!) Steigerung von 1% zu 3 % Fairhandels Anteil (bei Kakao) in den letzten Jahren zeigt.
Inzwischen hat es auch bei bestimmtes Image, das immer stärker als unsympathisch angesehen wird.
Es ist auch tatsächlich nicht immer gut zu erklären, dass das was räumlich und zeitlich weit weg ist (auch wenn man Vorsorge- und Nachhaltigkeitsgedanken teilt) besondere Aufmerksamkeit bekommen soll, während man das was nah und aktuell ist, an Missständen ignoriert.
herbert clemens hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 19:40
Demgegenüber nimmt z.B der Export auch unserer subventionierten Landwirtschaftsprodukte in viel höherem Maße zu.
Dort herrscht ein dermaßen idiotischer Konservativismus, dass er durch überhaupt nichts rational zu erklären ist. Der größte Mist wird subventioniert, immer auf genau das ein Argument hinauslaufend, was alle strammstehen lässt, Arbeitsplätze. So dermaßen verflochten und verkrustet, dass da nicht zu holen ist. Da muss man wirklich die Politik aushebeln und umgehen.
herbert clemens hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 19:40
Die Wirtschaftlich Stärkerensiegen in der Konkurenz gegen die Schwächeren. Dieser Prozess wird z.B. durch die geplanten Freihandelsabkommen mit Afrika verstärkt werden.
Ich bin ratos, wo da welcher Hebel wirksam sein könnte. (Vielleicht weiß Tarvoc weiter?)
Ein Problem und in meinen Augen nicht dessen Lösung, ist die platte Repolitisierung, über die sich alle so freuen. Endlich wird wieder politisch diskutiert, ja toll, was hat es uns gebracht? Platte Lagerbildungen, bei denen an sich zu lösende rationale Einzelfragen, im Sinne einer stereotypen Ausrichtung politschen Gruppen unterzuordnen sind. Das Schlimme ist, dass die Linken den Punkt verpasst haben, an dem die Geschichte überzogen wurde und kippte und sich bis heute weigern daraus Schlüsse zu ziehen, denn es gibt ja zum Glück den großen Satan Neoliberalismus.

M.E. geht es mit einer Hinwendung zum Subjekt und dessen Bewusstsein. Man muss nicht alle sofort erreichen, wenn man ein wenig die Rolle von Multiplikatoren und "Influencern", wie es heute heißt, klug nutzt und gesellschaftliche Dynamiken kennt. Alles mit Begriffen aus der kommunistischen Mottenkiste zu überziehen und Herrschaftsinstrument zu deklarieren, führt nur dazu, dass die inzwischen regressive Linke von einer regressiven Rechten weiter abgelöst wird.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

herbert clemens
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Mi 24. Jan 2018, 10:02

Eine erste Antwort mit weiterführenden Fragen:
Mit „ Hinwendung zum Subjekt und dessen Bewusstsein“ stimme ich überein. Wirkliche humane Veränderungen sind nur zu erwarten, wenn wir über unsere Ideale reflektierend mit „Herz und Hand“ selber aktiv werden.
Nun gibt es verschiedene Dimensionen (?), in denen ich handele.
Ich leiste es mir leckere biologisch erzeugte Produkte zu genießen. Ich kaufe Jeans, die laut Siegel fair erzeugt werden. (Dafür habe ich gerade genug Geld, weil ich in der Regel auf klimaschädlcihe Flugreisen verzichte.)
Nun wehen aber die Pestizide der Agrarindustriellen weiter durch die Welt. Sind dann der Wunsch nach gemeinsamen Regeln, diese zu verbieten, nicht legitim?
(Wie gegen finanzstarke Lobbygruppen bestehen, die die öffentliche Meinung beherrschen und den Zugang zu unseren staatlichen Institutionen beherrschen?)
Muss es also Meta-Regeln geben, die wirkliche gleichberechtigte, um Wahrheit bemühte Argumentationen ermöglichen?
Der „freie Markt“ kennt nur die Regulation durch den Preis. Große Kapitalgruppen können sich durchsetzen.
Deshalb sind die Wünsche nach Regulationen aufgrund von gemeinschaftlichen Werten meines Erachtens berechtigt.
Wie können Schutzmechanismen für den Kleinbauern in Afrika und den Textilarbeiter in Bangladesch aussehen?




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Mi 24. Jan 2018, 12:41

Tosa Inu hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:48
Das ist glaube ich schon in der Kernthese daneben, da man bspw. von der falschen Idee ausgeht, Aggression sei aufgrund von Eigentumsverhältnissen (der Produktionsmittel) erst in die Welt gekommen, was einfach auch dann grundfalsch ist, wenn Aggression dadurch etwas moduliert werden kann, was sicher richtig ist. Zweitens, negieren Systemtheorien, auch die von Marx, notorisch die Kraft des Ichs (das eben einen inneren Ort der Identifikation hat, bei dem unterm Strich klar wird, was ich nun will und was nicht) und verkennen die Systematik und Abfolge innerer Entwicklung grob. Und in der fortschreitenden Fragmentierung des Ich im epidemischen Ausmaß, liegt m.E. ein Kernproblem.
Aha. Sehr interessant. Was folgt daraus jetzt für die politische Ökonomie? Oder für die politische Praxis? Oder sind das einfach nur abstrakte Überlegungen, die du dir halt mal so gemacht hast?
Tosa Inu hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:48
Drittens, hat mich auch die merkwürdig starre Idee, dass es so etwas wie eine fixe Gesamtmenge an Arbeit gäbe, die den immer gleichen Wert hat, nie überzeugt.
Wie bitte? Wer vertritt denn sowas? Und was soll das überhaupt heißen?

Schon die Kategorien selbst sind hier völlig verdreht. Die Arbeit selbst hat überhaupt keinen Tauschwert, sondern nur die Arbeitskraft hat einen Tauschwert. Die Arbeit produziert vielmehr Tauschwerte. Welche und wie viele das sind, ist allerdings nicht "fix" im Sinne von unveränderlich, sondern hängt von der aufgewendeten gesellschaftlich notwendigen Gesamtarbeitszeit ab.
Tosa Inu hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:48
Viertens, verkennen linke Theoretiker glaube ich oft die Stimmung der Bevölkerung (oder pathologisieren sie) im Bezug auf das, was allgemein als gerecht empfunden wird. Eine flächendeckende Alimentation wird von der Mehrheit der Menschen m.E. (und nicht weil sie fies sind und der böse Neoliberalismus sie so gemacht hat) nicht gewünscht und zwar weil das ihrem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht. Mensch und Tier scheint von Beginn an zu unterscheiden, dass Tiere Trittbrettfahrer gewähren lassen, Menschen nicht.
Dir ist aber schon klar, dass das argumentum ad populum ein Fehlschluss ist?

Abgesehen davon: Hast du gerade ernsthaft behauptet, die gesellschaftlichen Verhältnisse hätten keinen Einfluss auf das Gerechtigkeitsverständnis der unter ihnen lebenden Menschen? :roll: Dann ist es aber doch wirklich erstaunlich, wie sehr das von dir hier dargestellte "Gerechtigkeitsempfinden" deinem "Neoliberalismus" entspricht - gerade angesichts der Tatsache, dass dieser eine historisch äußerst junge Erscheinung ist. (Überhaupt weiss ich nicht, was das mit der "Gerechtigkeit" hier soll. Die Leute können den Kapitalismus als so "gerecht" empfinden, wie sie wollen, er wird dennoch immer wieder Krisen, Verelendung, politische Konflikte, etc. hervorbringen. Man kann hier durchaus die Konsistenzforderung anlegen, nach der man seinen Keks nicht gleichzeitig essen und behalten kann. Wenn sie den Kapitalismus als "gerecht" anerkennen, müssten sie auch alle seine Folgen für "gerecht" erklären. Schon hier zeigt sich, wie wenig der Gerechtigkeitsbegriff für ökonomische Debatten überhaupt taugt.)
Tosa Inu hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:48
Wirklich kritisch sehe ich die freiwillige Entmündigung durch die und in der digitalen Welt.
Ja, das ist in der Tat ein großes Problem. Das wäre einen eigenen Thread wert. In diesem Thread ist das nämlich einfach nur ein Whataboutism bzw. eine Ablenkung vom Thema.



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Mi 24. Jan 2018, 12:53

herbert clemens hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:10
Wie kurz und prägnant Tarvoc Bd1 des Kapitals zusammengefasst hat, bewundernswert.
Danke. :D
herbert clemens hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:10
In meinem derzeitigen Denkhorizont scheint mir die demokratische Planung der Befriedigung all der individuellen Konsumwünsche von uns allen trotz aller digitalen Hilfsmittel nicht verwirklichbar zu sein.
Die Frage ist, warum das so ist. Dass wir gar nicht erst dorthin gelangen, es auch nur versuchen zu können, weil sich die gesellschaftlichen Kräfte dafür gegenwärtig nicht mobilisieren lassen, ist geschenkt. Aber das ist etwas anderes als zu sagen, dass der Versuch selbst scheitern müsste. Ersteres ist ein politisches Problem, letzteres wäre ein ökonomisches (wenn es denn zutrifft).



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Mi 24. Jan 2018, 13:01

herbert clemens hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 10:10
Ich möchte auf den Beitrag von Tosa Inu eingehen:
Zu1: Diese linke Kernthese kenne ich nicht.
Zu 2: Marx kann man durchaus anders lesen, Sein Werk heißt nicht „Politisch Ökonomie“, sondern „Kritik der politischen Ökonomie“. Es geht ihm darum, eben das vorhandene System der quantitativen Vermehrung kritisch darzustellen und gegen diesen Entfremdungszusammenhang die allseitige Entfaltung des in Gemeinschaft handelnden Individuums zu stellen. So ist es keine Systemtheorie, sondern eine Kritik der Grundlagen eines Systems.
Zu 3: Quantitativen Überlegungen in den Vordergrund zu schieben, zeichnet ja eben das kapitalistische System aus. Wachstum und Gewinn sind die entscheidenden Größen. Es geht Marx um eine Kritik der quantitativen Mehrwertproduktion und eine Orientierung an den Gebrauchswert. (zu 4: Dass es den Linken um Alimentierung geht, ist mir völlig neu.)
Gut herausgearbeitet. Das unterschreibe ich so.
herbert clemens hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 10:10
Andererseits sehe ich schon, dass der Systemzusammenhang in kritischer Absicht zu total dargestellt wird. Die Individuen mit ihren Gedanken gehen nicht im Systemzusammenhang auf. Es ist eine Stärkung des individuellen Bewusstseins möglich, dass auch Folgen für die Produktion von Gütern hat.
Bestreite ich nicht. Die Frage ist nur, wie das genau aussieht und was genau man damit machen kann. Leute, die diesen Punkt anführen, haben leider zum konkreten praktischen Aspekt dann meist nur relativ wenig zu sagen.
herbert clemens hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 10:10
Und: Ohne dass Gebrauchswerte (oft allerdings auch fiktive) produziert werden, lassen sich Werte/Mehrwerte/Gewinnen nicht realisieren.
Gesamtgesellschaftlich ist das natürlich richtig. Würden gar keine Gebrauchswerte produziert, gäbe es auch keine Mehrwerte, weil es dann noch nicht mal Menschen gäbe, geschweige denn eine Gesellschaft. Bezüglich einzelner Wirtschaftszweige ist es hingegen mehr als fraglich. Welchen Gebrauchswert haben denn z.B. Derivate?

(Es wird oft der Fehler gemacht, Gebrauchswert mit Nachfrage zu verwechseln. Letztere hat zwar mit ersterem zu tun, aber beide sind nicht einfach identisch.)



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Mi 24. Jan 2018, 13:11

Tarvoc hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 12:41
argumentum ad populum
Whataboutism
Eine kleine Sammlung von Fehlschlüssen gibts auch bei DiaLogos :-) > https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... 9157#p9157




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Tarvoc
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Do 25. Jan 2018, 03:45

Danke für den Hinweis. :)

"Whataboutism" ist übrigens im Grunde ein moderner Ausdruck für Ignorantio Elenchi.



Don't just think outside the box. Think outside AND inside.

herbert clemens
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Fr 26. Jan 2018, 08:12

Tarvoc hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 12:53
herbert clemens hat geschrieben :
Do 18. Jan 2018, 09:10
In meinem derzeitigen Denkhorizont scheint mir die demokratische Planung der Befriedigung all der individuellen Konsumwünsche von uns allen trotz aller digitalen Hilfsmittel nicht verwirklichbar zu sein.
Die Frage ist, warum das so ist. Dass wir gar nicht erst dorthin gelangen, es auch nur versuchen zu können, weil sich die gesellschaftlichen Kräfte dafür gegenwärtig nicht mobilisieren lassen, ist geschenkt. Aber das ist etwas anderes als zu sagen, dass der Versuch selbst scheitern müsste. Ersteres ist ein politisches Problem, letzteres wäre ein ökonomisches (wenn es denn zutrifft).
Meine Fragestellung ist nicht die politische Frage nach Systemüberwindung. Sie steht nicht auf der Tagesordnung. Vielleicht steht sie aber auch deshalb nicht auf der Tagesordnung, weil wir alle zu wenig Phantasie haben, die demokratisch geplante gesellschaftliche Produktion von Gütern uns vorstellen zu können. Es geht mir also um die ökonomische Frage: Ist gesamtgesellschaftliche Planung möglich?
Ich gehe jetzt sehr beipielhaft von mir als Konsument aus. Ich bestelle beim Demeterhof meines Vertrauens z.B. diese Woche Rosenkohl und Rindergehacktes, weil unserer Familie der Sinn danach steht. Das ist ein Marktprozess. Wie könnte dieser Prozess in einem gemeinschaftlichen Planungsprozess überführt werden?
Marktprozesse scheinen mir zur Befriedigung individueller Konsumbedürfnisse die einfachste Regelung zu sein.
Führt der „Markt“ mit Notwendigkeit zum “Kapitalismus“?
Oder ist eine „soziale Marktwirtschaft“, vielleicht sogar eine „sozialistische Marktwirtschaft“ möglich?
Ist es möglich, durch rechtliche Rahmenbedingungen die undemokratische Kapitalstruktur zu bändigen?
In Betrieben flachere Hierarchien, Arbeiterselbstverwaltung, Genossenschaften?
Existenzsichernde Mindestlöhne hier
wie in den Ländern des Südens?
Warum nicht Einkommensobergrenzen? (Es gibt auch Unternehmer, die für Steuererhöhungen plädieren.)
Es wäre noch mehr aufzuführen. Zusammenfassend:
Individuelle Bewusstseinsänderungen führen zu einem anderen Konsumverhalten.
Gemeinschaftliche Setzungen führen zu Änderungen der internen Produktionsstruktur, wie zu anderen Produktionszielen,
bei Erhaltung von unternehmerischen Initiativen und persönlicher Freiheit.
(Meine persönliche Utopie ist inzwischen übrigens Anarchismus. Jedes Individuum entscheidet über sein Leben nach seinen individuellen Maximen. Ich stehle ja nicht, weil es verboten ist, sondern weil es unvernünftig ist. Dafür fahre ich bei Rot über die Ampel, wenn es vernünftig ist.)




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novon
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Registriert: Mo 7. Aug 2017, 01:01

Sa 27. Jan 2018, 01:11

herbert clemens hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 08:12
Ist es möglich, durch rechtliche Rahmenbedingungen die undemokratische Kapitalstruktur zu bändigen?
In Betrieben flachere Hierarchien, Arbeiterselbstverwaltung, Genossenschaften?
Warum sollte es nötig sein, die "undemokratische Kapitalstruktur" durch "rechtliche Rahmenbedingungen" "zu bändigen"? Sind denn rechtliche Bedingungen gegeben, die eine "undemokratische Kapitalstruktur" quasi oktroyieren? Soweit ich weiß, kann sich jeder - unter gewissen Voraussetzungen - in Selbstverwaltung mit anderen zusammentun und eine Genossenschaft gründen. Dann einfach noch wirtschaftlich hinkommen, so dass alle ein angenehmes Auskommen haben und die Sache wäre geritzt...?




Tosa Inu
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So 28. Jan 2018, 17:35

herbert clemens hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 10:02
Eine erste Antwort mit weiterführenden Fragen:
Mit „ Hinwendung zum Subjekt und dessen Bewusstsein“ stimme ich überein. Wirkliche humane Veränderungen sind nur zu erwarten, wenn wir über unsere Ideale reflektierend mit „Herz und Hand“ selber aktiv werden.
Mit Herz, Hand und Verantwortung, ja.
herbert clemens hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 10:02
Nun gibt es verschiedene Dimensionen (?), in denen ich handele.
Ich leiste es mir leckere biologisch erzeugte Produkte zu genießen. Ich kaufe Jeans, die laut Siegel fair erzeugt werden. (Dafür habe ich gerade genug Geld, weil ich in der Regel auf klimaschädliche Flugreisen verzichte.)
Ich finde das gut und wichtig, vor allem finde ich es wichtig, dass der Bereich Moral oder Verantwortung breiter gedacht wird und nicht einfach bezogen auf das jeweilige Lieblingsthema. Betrachtungen über öko und fair, die ich gut finde, kranken m.E. nicht daran, dass sie breit und komplex sind (ökologisch Interessierte meinen oft, mehr als Klima oder Schutz des Ökosystems ginge nicht), sondern flach, hier verwechselt man Spanne mit Tiefe.
herbert clemens hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 10:02
Nun wehen aber die Pestizide der Agrarindustriellen weiter durch die Welt. Sind dann der Wunsch nach gemeinsamen Regeln, diese zu verbieten, nicht legitim?
Doch, natürlich. Legitim und wichtig.
herbert clemens hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 10:02
(Wie gegen finanzstarke Lobbygruppen bestehen, die die öffentliche Meinung beherrschen und den Zugang zu unseren staatlichen Institutionen beherrschen?)
Mein Vorschlag ist ein konsequentes Labeling. Öko-Siegel usw. sind recht erfolgreich, auch dort wo sie sich nicht an staatliche Stellen heften. demeter ist in der Ökobranche ein Flagschiff für Qualität, gerade weil es von Fundamentalisten getragen wird. Find ich super.
Menschen mit Überzeugung könnten so etwas entwerfen und die Qualität und Integrität garantieren. Gerade heute im Internetzeitalter. Und da kann man erstens, ohne den Umweg Politik (die extem lobbyanfällig ist) agieren und selbst transparente Kriterien entwerfen, von den Bereichen, die man für wichtig hält.
herbert clemens hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 10:02
Muss es also Meta-Regeln geben, die wirkliche gleichberechtigte, um Wahrheit bemühte Argumentationen ermöglichen?
Der „freie Markt“ kennt nur die Regulation durch den Preis. Große Kapitalgruppen können sich durchsetzen.
Wie gesagt, auf Qualität und Integrität bestehen und wie bei den Fresssternen in der Gastronomie oder demeter oder so etwas agieren, nur bezogen auf übergeordnete Bereiche. Der freie Markt hat vor allem Angst vor Klarheit, darum haben Lobbygruppen hier die simple Ampel bei Nahrungsmitteln rausgemobbt und bestechen auch sonst, wen und wo es nur geht.
Kann man ja auch autonom machen für Bereiche wie Gesundheit, Klimaeffekt, Umweltbilanz, faire Produktion, faire Löhne usw. mit einer Karma-Gesamtquote.
Als übergeordnetes Siegel mit Wumms, nicht als das 163. in dem Dschungel, den längst niemand mehr durchschaut. Klar einfach, mit drei bis fünf Güteklassen.
herbert clemens hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 10:02
Deshalb sind die Wünsche nach Regulationen aufgrund von gemeinschaftlichen Werten meines Erachtens berechtigt.
Es gibt glaube ich weit weniger gemeinschaftliche Werte, als man meint. Isoliert sieht das immer schön einfach aus, aber die Welt ist halt nicht isoliert. Damit meine ich nicht nur Globalisierung und Klima, sondern, dass sich viele legitime Interessen und Bereiche überschneiden.

Und dann muss man klar machen, dass Gesundheit oder soziale Verantwortung nicht bedeutet, dass man keinen Spaß mehr am Leben haben darf. Dass bio und Genuss zusammenhängen, ist eher über die hohe Gastronomie bekannt geworden, als über die Ökos.
herbert clemens hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 10:02
Wie können Schutzmechanismen für den Kleinbauern in Afrika und den Textilarbeiter in Bangladesch aussehen?
Das könnte so ein Ampelsystem leisten. Die Mutti in Deutschland ist daran interessiert, ob sie ihr Kind mit fiesem Zeug aus der Baumwolle vergiftet, wenn der Preis stimmt und sich 'nur' ein paar Inder vergiften, das Endprodukt aber clean ist, sieht die Sache schon deutlich anders aus.

Man muss kein Zyniker werden, wenn man das einpreist, sondern kann die Menschen dazu anhalten, sich das zu verzeihen und in ihrem Rahmen dennoch zu tun, was geht. Man kann klar werden und den Leute auf Wunsch die Dinge auch klar sagen. Die Werbung tut genau das Gegenteil und das mit großem Erfolg. Warum die Dinge nicht einfach in 5 oder 7 Basiskategorien klar bewerten, in rot, gelb grün, meinetwegen in einer Kooperation von Experten und Usern, die ein Produkt voten? Kann man gestalten wie Wikipedia, es sollte mich wundern, wenn das nicht auch wirtschalftliche Folgen hätte. Wenn Firmen dann strampeln um die Standards zu erfüllen, die uns alles wichtig sind, ist das okay und gewünscht.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
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So 28. Jan 2018, 17:38

Tarvoc hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 12:41

Aha. Sehr interessant. Was folgt daraus jetzt für die politische Ökonomie? Oder für die politische Praxis? Oder sind das einfach nur abstrakte Überlegungen, die du dir halt mal so gemacht hast?
Usw.
Darum ging es mir nicht, geht es im Thread nicht und die Oberlehrerattitüde zündet nicht bei mir.
Auch im weiteren schreibst Du an mir einfach vorbei und ziehst irgendeine Solonummer ab, die Du vielleicht frisch und forsch findest, mich nervt es nur.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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