Was heißt "denken"?

Drei wichtige philosophische Schulen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, welche die Philosophie europäischer und amerikanischer Provenienz mitgeprägt haben
Hermeneuticus
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Mit dem Denken kennt sich jeder aus. Wir alle tun es andauernd, mal mehr, mal weniger bewusst. Selbst im Schlaf, einem Zustand überwiegender Bewusstlosigkeit, scheint das Denken ohne unsere Aufsicht immer weiter zu gehen - wie sich anhand der Träume, die es uns zuspielt, erahnen lässt. Aber gerade, wenn wir ans Träumen denken, stellt sich auch schon die Frage, ob das überhaupt zum Denken gehört oder nicht eher etwas anderes ist - etwa "Phantasieren", "Imaginieren" oder "Vorstellen". Sinnliches Wahrnehmen ist Träumen mit Sicherheit nicht, obwohl es uns, solange wir träumen, so vorkommt, als hätten wir lebhafte, ganz "reale" Sinneswahrnehmungen; erst nach dem Aufwachen wird uns klar, dass das "nur geträumt" war. Aber auch in unseren Träumen scheint der Unterschied zwischen sinnlichem Wahrnehmen und anderen geistigen Tätigkeiten oder Zuständen bestehen zu bleiben. Neulich erst hatte ich einen Traum, in dem ich mit einer anderen Person sprach und gleichzeitig etwas über diese Person und unsere Beziehung dachte, das ich nicht aussprach. Im Traum können sich also die Unterschiede, die wir im bewussten täglichen Leben zwischen "wahrnehmen", "fühlen", "vorstellen" usw. und "denken" zu machen gewohnt sind, reproduzieren.

Diese Unterschiede handhaben wir wie selbstverständlich. Wir scheinen genau zu wissen, wann wir etwas wahrnehmen und wann wir uns etwas nur vorstellen; wann wir etwas fühlen - z.B. Sympathie, Verlangen, Liebe - und wann wir etwas empfinden - z.B. einen stechenden Schmerz im Fuß oder ein Zwicken im Gedärm; wann wir gestimmt sind - z.B. heiter, melancholisch, bedrückt - und wann wir solche Zustände haben wie Hoffnungen, Befürchtungen, Ahnungen. Und wir scheinen auch genau zu wissen, wann wir denken, und zwar im Unterschied zu all den anderen "geistigen" Aktivitäten, Zuständen und Widerfahrnissen.

Denken assoziieren wir mit dem "Verstand" oder "Intellekt", oft auch mit dem "Kopf" oder dem "Gehirn". Beim Denken scheint es irgendwie ums Verstehen oder Erkennen zu gehen. Auch ums Lösen von Aufgaben, ums Rechnen, ums logische Schließen. Es gibt sogar so etwas wie "Denksport", also Leibesertüchtigung für den Geist. :D Selbstverständlich wird in der Mathematik gedacht. In den anderen Wissenschaften ebenso. Und ganz besonders in der Philosophie. Philosophen sind doch "Denker" par excellence. Sie machen alles und jedes - mitunter sogar das Nichts - zum Gegenstand des Denkens und Nachdenkens. Auch - wie man sieht - das Denken selbst...

Aber wie hat man sich eine spezifisch philosophische Herangehensweise ans Denken vorzustellen? Philosophie ist keine empirische Psychologie oder Neurowissenschaft, sie untersucht ihre Gegenstände nicht mithilfe von Fragebögen, Experimenten, Messungen, apparategestützten Beobachtungen, sondern sie erfasst sie - nun ja: denkend... Nur, was soll das heißen? Kann man denn Gegenstände überhaupt dadurch erkennen, dass man sie denkt und damit eben nicht beobachtet wie die Erfahrungswissenschaften? Oder aber ist das Denken ein besonderer Gegenstand, der - weil er eben nicht sinnlich wahrnehmbar ist - gar nicht anders als durchs Denken angemessen erfasst werden kann? Wo lässt sich so ein "Gegenstand" einsortieren - zwischen all den anderen Gegenständen der Forschung und des Denkens?

Ich jedenfalls musste erst einmal nachdenken, in welchem philosophischen "Fach" ich diesen Thread am besten unterbringe - Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und Logik, Philosophische Anthropologie oder Metaphilosophie? Ich entschied mich dann für die Phänomenologie, und zwar deshalb, weil man in diesem Zweig der philosophischen Reflexion mit einer spezifischen Einstellung zur Sache geht, nämlich mit "Epoché". Das heißt, man versucht, sich aller mitgebrachten Überzeugungen, Vormeinungen und Urteile möglichst zu enthalten, um so den jeweiligen Gegenstand umsichtig, unvoreingenommen und grundsätzlich in den Blick zu bringen.

Und so eröffne ich dieses Thema auch ohne ausgearbeitetes Konzept. Ich weiß nur so grob die Richtung, in die meine eigenen Gedanken übers Denken gehen, mehr nicht. Und ich habe einen "Aufhänger": nämlich einen philosophischen Text, in dem es ums Denken geht. Es ist - nicht zufällig - der Text, der mich überhaupt darauf gebracht hat, dieses Thema hier im Forum zu stellen. Den werde ich im nächsten Beitrag zitieren. Er soll aber wirklich nur als Einstieg dienen; andere philosophische Texte übers Denken sind genauso willkommen.




Hermeneuticus
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Fr 25. Aug 2017, 10:21

Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat geschrieben : § 20
Nehmen wir das Denken in seiner am nächsten liegenden Vorstellung auf, so erscheint es α) zunächst in seiner gewöhnlichen subjektiven Bedeutung, als eine der geistigen Tätigkeiten oder Vermögen neben anderen, der Sinnlichkeit, Anschauen, Phantasie usf., Begehren, Wollen usf. Das Produkt desselben, die Bestimmtheit oder Form des Gedankens, ist das Allgemeine, Abstrakte überhaupt. Das Denken als [71] die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist. Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich.

Die hier und in den nächstfolgenden §§ angegebenen Bestimmungen sind nicht als Behauptungen und meine Meinungen über das Denken zu nehmen; jedoch da in dieser vorläufigen Weise keine Ableitung oder Beweis stattfinden kann, mögen sie als Facta, gelten, so daß in dem Bewußtsein eines jeden, wenn er Gedanken habe und sie betrachte, es sich empirisch vorfinde, daß der Charakter der Allgemeinheit und so gleichfalls die nachfolgenden Bestimmungen darin vorhanden seien. Eine bereits vorhandene Bildung der Aufmerksamkeit und der Abstraktion wird allerdings zu Beobachtung von Factis seines Bewußtseins und seiner Vorstellungen erfordert.
Schon in dieser vorläufigen Exposition kommt der Unterschied von Sinnlichem, Vorstellung und Gedanken zur Sprache; er ist durchgreifend für das Fassen der Natur und der Arten des Erkennens; es wird daher zur Erläuterung dienen, diesen Unterschied auch hier schon bemerklich zu machen. –

Für das Sinnliche wird zunächst sein äußerlicher Ursprung, die Sinne oder Sinneswerkzeuge, zur Erklärung genommen. Allein die Nennung des Werkzeuges gibt keine Bestimmung für das, was damit erfaßt wird. Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist, und indem das Einzelne (ganz abstrakt das Atom) auch im Zusammenhange steht, so ist das Sinnliche ein Außereinander, dessen nähere abstrakte Formen das Neben– und das Nacheinander sind. – Das Vorstellen hat solchen sinnlichen Stoff zum Inhalte, aber in die Bestimmung des Meinigen, daß solcher Inhalt in Mir ist, und der Allgemeinheit, der Beziehung-auf-sich, der Einfachheit, gesetzt. –

Außer dem Sinnlichen hat jedoch die Vorstellung [72] auch Stoff zum Inhalt, der aus dem selbstbewußten Denken entsprungen [ist], wie die Vorstellungen vom Rechtlichen, Sittlichen, Religiösen, auch vom Denken selbst, und es fällt nicht so leicht auf, worin der Unterschied solcher Vorstellungen von den Gedanken solchen Inhalts zu setzen sei. Hier ist sowohl der Inhalt Gedanke, als auch die Form der Allgemeinheit vorhanden ist, welche schon dazu gehört, daß ein Inhalt in Mir, überhaupt daß er Vorstellung sei. Die Eigentümlichkeit der Vorstellung aber ist im allgemeinen auch in dieser Rücksicht darein zu setzen, daß in ihr solcher Inhalt gleichfalls vereinzelt steht. Recht, rechtliche und dergleichen Bestimmungen stehen zwar nicht im sinnlichen Außereinander des Raums. Der Zeit nach erscheinen sie wohl etwa nacheinander, ihr Inhalt selbst wird jedoch nicht als von der Zeit behaftet, in ihr vorübergehend und veränderlich vorgestellt. Aber solche an sich geistige Bestimmungen stehen gleichfalls vereinzelt im weiten Boden der inneren, abstrakten Allgemeinheit des Vorstellens überhaupt. Sie sind in dieser Vereinzelung einfach. Recht, Pflicht, Gott. Die Vorstellung bleibt nun entweder dabei stehen, daß das Recht Recht, Gott Gott ist, – oder gebildeter gibt sie Bestimmungen an, z.B. daß Gott Schöpfer der Welt, allweise, allmächtig usf. ist; hier werden ebenso mehrere vereinzelte einfache Bestimmungen aneinandergereiht, welche, der Verbindung ungeachtet, die ihnen in ihrem Subjekte angewiesen ist, außereinander bleiben. Die Vorstellung trifft hier mit dem Verstande zusammen, der sich von jener nur dadurch unterscheidet, daß er Verhältnisse von Allgemeinem und Besonderem oder von Ursache und Wirkung usf. und dadurch Beziehungen der Notwendigkeit unter den isolierten Bestimmungen der Vorstellung setzt, da diese sie in ihrem unbestimmten Räume durch das bloße Auch verbunden nebeneinander beläßt. –

Der Unterschied von Vorstellung und von Gedanken hat die nähere Wichtigkeit, weil überhaupt gesagt werden kann, daß die Philosophie [73] nichts anderes tue, als die Vorstellungen in Gedanken zu verwandeln, – aber freilich fernerhin den bloßen Gedanken in den Begriff.
Übrigens wenn für das Sinnliche die Bestimmungen der Einzelheit und des Außereinander angegeben worden, so kann noch hinzugefügt werden, daß auch diese selbst wieder Gedanken und Allgemeine sind; in der Logik wird es sich zeigen, daß der Gedanke und das Allgemeine eben dies ist, daß er er selbst und sein Anderes ist, über dieses übergreift und daß nichts ihm entflieht.

Indem die Sprache das Werk des Gedankens ist, so kann auch in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist. Was ich nur meine, ist mein, gehört mir als diesem besonderen Individuum an; wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was ich nur meine. Und das Unsagbare, Gefühl, Empfindung, ist nicht das Vortrefflichste, Wahrste, sondern das Unbedeutendste, Unwahrste. Wenn ich sage: »das Einzelne«, »dieses Einzelne« »Hier«, »Jetzt«, so sind dies alles Allgemeinheiten; Alles und Jedes ist ein Einzelnes, Dieses, auch wenn es sinnlich ist, Hier, Jetzt. Ebenso wenn ich sage: »Ich«, meine ich Mich als diesen alle anderen Ausschließenden; aber was ich sage, Ich, ist eben jeder; Ich, der alle anderen von sich ausschließt. –

Kant hat sich des ungeschickten Ausdrucks bedient, daß Ich alle meine Vorstellungen, auch Empfindungen, Begierden, Handlungen usf. begleite. Ich ist das an und für sich Allgemeine, und die Gemeinschaftlichkeit ist auch eine, aber eine äußerliche Form der Allgemeinheit. Alle anderen Menschen haben es mit mir gemeinsam, Ich zu sein, wie es allen meinen Empfindungen, Vorstellungen usf. gemeinsam ist, die meinigen zu sein. Ich aber, abstrakt als solches, ist die reine Beziehung auf sich selbst, in der vom Vorstellen, Empfinden, von jedem Zustand wie von jeder Partikularität der Natur, des Talents, der Erfahrung [74] usf. abstrahiert ist. Ich ist insofern die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit, das abstrakt Freie. Darum ist das Ich das Denken als Subjekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen.

Quelle: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in der Ausgabe von zeno.org
(Die Aufteilung der langen Anmerkung in Absätze habe ich vorgenommen, um die Gliederung des Gedankengangs zu verdeutlichen.)




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Friederike
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Fr 25. Aug 2017, 17:35

Aus dem §20 der "Enzyklopädie":
Hegel hat geschrieben : Indem die Sprache das Werk des Gedankens ist, so kann auch in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist. Was ich nur meine, ist mein, gehört mir als diesem besonderen Individuum an; wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was ich nur meine.
Ich würde es anders herum wenden und sagen, daß die Gedanken das Werk der Sprache sind - unstrittig? dürfte indes sein. daß Gedanken ohne Sprache und verbale Sprache ohne Gedanken nicht denkbar sind. Wie herum man es nun wendet, darauf kommt es mir im Augenblick nicht an. Verblüffend finde ich hingegen die Beobachtung, daß Sprache und Gedanken allgemein sind. Das heißt, Sprache und Denken sind das, was Menschen miteinander teilen. Das bedeutet aber auch, daß der Zugang zur Welt ein allgemeiner, d.h. ein allen Menschen gemeinsamer ist. Vor diesem Hintergrund scheint es mir geradezu seltsam, wie es seit der Aufklärung zu einem philosophischen Gemeinplatz geworden ist, daß "mehr als eine Welt" sei (Fontenelle) oder "eine Welt von Welten" sei (Kant) oder daß wir "in mehr als einer Welt leben" (Blumenberg).
Möglicherweise müßte man anstelle von "Welt" von "Wirklichkeit" sprechen, was die genannten Redewendungen angeht, aber sicher bin ich mir nicht.

Wenn ich an Wittgensteins schillernden Ausdruck der "Lebensform" denke, dann scheint er mir wie eine Bekräftigung der Beobachtung und Schlußfolgerung von Hegel, daß die Einübung in die Sprache und mithin das Denken nahezu das Allgemeinste von den menschlichen Tätigkeiten ist, das ich mir vorstellen kann.

Im Zitat verstehe ich noch nicht, was Hegel mit "meinen" meint. Hätte er geschrieben: [...] "wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was nur ich meine", so verstünde ich es. Hegel aber formuliert es s o gerade nicht. D.h. man kann an dieser Stelle für "meinen" nicht "denken" einsetzen.




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Alethos
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Fr 25. Aug 2017, 21:52

Friederike hat geschrieben :
Fr 25. Aug 2017, 17:35

Wenn ich an Wittgensteins schillernden Ausdruck der "Lebensform" denke, dann scheint er mir wie eine Bekräftigung der Beobachtung und Schlußfolgerung von Hegel, daß die Einübung in die Sprache und mithin das Denken nahezu das Allgemeinste von den menschlichen Tätigkeiten ist, das ich mir vorstellen kann.
Interessant, dass du diesen Bogen spannen kannst. Ich hingegen habe schon allein Mühe, das Denken als Allgemeinheit zu verstehen, überhaupt zu verstehen, was Allgemeinheit in diesem Zusammenhang bedeutet. Wenn es nicht zu peinlich ist, sich in einem Philosophie-Forum als Unwissender zu 'outen', würde ich es hiermit gerne tun: Ich verstehe den Text nicht. Er erschliesst sich mir nicht. Einiges scheint mir plausibel, z.B. der Abschnitt über die Sinnlichkeit, der Abschnitt über die Sprache hingegen als Werk des Denkens und, wie gesagt, der Begriff der Allgemeinheit, erschliessen sich mir nicht.

Kann mir jemand auf die Sprünge helfen? :?



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Jörn Budesheim
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Sa 26. Aug 2017, 05:30

Alethos hat geschrieben :
Fr 25. Aug 2017, 21:52
Ich hingegen habe schon allein Mühe, das Denken als Allgemeinheit zu verstehen, überhaupt zu verstehen, was Allgemeinheit in diesem Zusammenhang bedeutet.
Ich male mir das ungefähr so aus: Wenn ich etwa - wie im Moment - denke, dass dieser Kaffee da sehr gut schmeckt, dann picke ich mir doch etwas Besonderes aus meiner Umgebung raus, nämlich diesen Kaffee da und weise ihm ein allgemeines Prädikat nämlich "schmackhaft" zu. Dieses Prädikat kann ich jedoch auch vielen anderen Dingen zuweisen. Ohne solche Allgemeinheiten kommt Denken doch nicht aus, oder?




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Alethos
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Sa 26. Aug 2017, 07:10

Nein, stimmt natürlich. Das geht nicht. Selbst ein jedes noch so besondere Prädikat kann einem anderen Subjekt zugewiesen sein und deshalb allgemeinen Charakter haben. Die Allgemeinheit bezieht sich also auf das Prädikat, welches einem x-beliebigen Subjekt, ob besonders oder allgemein, zugewiesen sein kann. 'Autos sind Fahrzeuge' wäre dann eine Koppula von allgemeinem Subjekt und allgemeinem Prädikat. Danke, Jörn.



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Hermeneuticus
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Sa 26. Aug 2017, 07:48

Friederike hat geschrieben :
Fr 25. Aug 2017, 17:35
Aus dem §20 der "Enzyklopädie":
Hegel hat geschrieben : Indem die Sprache das Werk des Gedankens ist, so kann auch in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist. Was ich nur meine, ist mein, gehört mir als diesem besonderen Individuum an; wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was ich nur meine.
Ich würde es anders herum wenden und sagen, daß die Gedanken das Werk der Sprache sind - unstrittig? dürfte indes sein. daß Gedanken ohne Sprache und verbale Sprache ohne Gedanken nicht denkbar sind. Wie herum man es nun wendet, darauf kommt es mir im Augenblick nicht an.
Ja, das ist vielleicht ein Henne-Ei-Problem, bei dem sich nicht auflösen lässt, was zuerst da war. Fürs Erste genügt es festzuhalten, dass wir ohne eine gemeinsame Sprache nicht über das Denken diskutieren könnten. Als wir sprechen lernten, haben wir auch gelernt, zwischen fühlen, wahrnehmen, begehren, vorstellen, wollen, phantasieren... und denken zu unterscheiden. Diese feinen Unterschiede gehörten bereits zum sprachlichen Repertoire, und man darf wohl sagen, dass sie nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. "Es gibt" diese Unterschiede zwischen unseren geistigen oder seelischen Tätigkeiten und Zuständen irgendwie.
Verblüffend finde ich hingegen die Beobachtung, daß Sprache und Gedanken allgemein sind. Das heißt, Sprache und Denken sind das, was Menschen miteinander teilen. Das bedeutet aber auch, daß der Zugang zur Welt ein allgemeiner, d.h. ein allen Menschen gemeinsamer ist.
"Allgemein" ist mehrdeutig. Einerseits bezeichnet es das, was allen Individuen einer Gruppe "gemeinsam" ist und was daher diese Gruppe zu einer "Gemeinschaft" macht. Auf diese Bedeutung hast Du es hier abgesehen. Daneben gibt es auch das logische Allgemeine, das Begriffe bzw. Prädikate charakterisiert. Da bedeutet "allgemein" so viel wie "abstrakt". Logisch allgemein ist das, was von Vielem ausgesagt werden kann, während Eigennamen sich auf einzelne Gegenstände beziehen.

Hegel spricht im Text von beiden Aspekten des Allgemeinen. Einerseits verwendet er "allgemein" im Sinne von "abstrakt". Andererseits grenzt er das Allgemeine auch von dem "Meinen" ab, also von dem, was nur mir, als Individuum, zukommt - das sozusagen "privat" ist, weil es sich nicht mit anderen Individuen teilen lässt. Offenbar sieht er zwischen beiden Aspekten - der logischen und der sozialen Allgemeinheit (= "Intersubjektivität") - einen sachlichen Zusammenhang.

Spannend wird das, wenn er das (allgemeine) Denken mit dem "Ich" oder "Subjekt" zusammenbringt. Denn so tritt eine Spannung auf zwischen dem privaten Ich und dem denkenden Ich. Sofern das Ich Gefühle, Stimmungen, sinnliche Wahrnehmungen hat und etwas "meint", sind das private, nicht mitteilbare geistige Zustände. Aber sofern das Ich denkt, haben die Gehalte seines Denkens den Charakter der Allgemeinheit und Mitteilbarkeit.

(Nebenbei: Wenn in der heutigen "Philosophie des Geistes" vom Ich gehandelt wird, dreht es sich meist, wenn nicht immer um die privaten Aspekte. Im Zentrum steht dabei immer die Frage nach der Reduzierbarkeit des Geistes auf materielle oder physikalische Gegebenheiten. Das Ich als Subjekt des Denkens, als Produzent und Träger allgemeiner geistiger Gehalte wird in diesen Debatten gern vernachlässigt.)
Im Zitat verstehe ich noch nicht, was Hegel mit "meinen" meint. Hätte er geschrieben: [...] "wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was nur ich meine", so verstünde ich es. Hegel aber formuliert es s o gerade nicht. D.h. man kann an dieser Stelle für "meinen" nicht "denken" einsetzen.
Hegel spielt hier mit dem Wort "meinen". Er macht auf die gemeinsame sprachliche Wurzel von "mein" und "meinen" aufmerksam. Das macht er übrigens auch schon im ersten Kapitel seiner "Phänomenologie": "Das Dieses und das Meinen". (Du erinnerst Dich?) ;-)

"Was ich nur meine, ist mein, gehört mir als diesem besonderen Individuum an; wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was ich nur meine. Und das Unsagbare, Gefühl, Empfindung, ist nicht das Vortrefflichste, Wahrste, sondern das Unbedeutendste, Unwahrste."

Was man üblicher Weise als "Meinung" bezeichnet und mit "Ich meine, dass p" ausdrückt, gehört offenbar zum Sagbaren und ist somit - nach Hegel - ein Gedanke. Wichtig ist hier auch, dass Hegel auf den Zusammenhang des Denkens mit der Wahrheit hinweist. Heute würde man eher sagen, dass Gedanken wahrheitsfähig sind, also wahr oder falsch sein können. Dagegen ist das Unsagbare, nur Private, begrifflich nicht Artikulierte weder wahr noch falsch; es ist einfach, was es ist. (Wenn ich einen Schmerz im Knie empfinde, empfinde ich einen Schmerz im Knie; da gibt es keinen Irrtum; auch ein Phantomschmerz tut wirklich weh.)




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Friederike
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Sa 26. Aug 2017, 10:34

Hermeneuticus hat geschrieben : [...] Spannend wird das, wenn er das (allgemeine) Denken mit dem "Ich" oder "Subjekt" zusammenbringt. Denn so tritt eine Spannung auf zwischen dem privaten Ich und dem denkenden Ich. Sofern das Ich Gefühle, Stimmungen, sinnliche Wahrnehmungen hat und etwas "meint", sind das private, nicht mitteilbare geistige Zustände. Aber sofern das Ich denkt, haben die Gehalte seines Denkens den Charakter der Allgemeinheit und Mitteilbarkeit.
Verstehe ich Deine Unterscheidung in ein "privates Ich" und ein "denkendes Ich" richtig, wenn ich sie in Bezug zu dieser Stelle setze?
Hegel hat geschrieben : Ebenso wenn ich sage: »Ich«, meine ich Mich als diesen alle anderen Ausschließenden; aber was ich sage, Ich, ist eben jeder; Ich, der alle anderen von sich ausschließt.
Dieses "Ich" ist wahrhaftig ein Phänomen. :lol: "Ich" ist einerseits jeder und zugleich gibt es niemanden außer mir, die "Ich" ist.




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Friederike
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Sa 26. Aug 2017, 11:01

Notiz: Mir fällt eben in Hinsicht auf das "Ich" Tugendhats Unterscheidung in die "epistemische Asymmetrie" und die "veritative Symmetrie" ein. Ich kann mich sehr wohl über Sachverhalte täuschen, nicht täuschen indes kann ich mich darüber, daß ich es bin, die sich täuscht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Unterscheidung das abdeckt, was Hegel unter "Ich" versteht.




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Friederike hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2017, 10:34
Verstehe ich Deine Unterscheidung in ein "privates Ich" und ein "denkendes Ich" richtig, wenn ich sie in Bezug zu dieser Stelle setze?
Hegel hat geschrieben : Ebenso wenn ich sage: »Ich«, meine ich Mich als diesen alle anderen Ausschließenden; aber was ich sage, Ich, ist eben jeder; Ich, der alle anderen von sich ausschließt.
Dieses "Ich" ist wahrhaftig ein Phänomen. :lol: "Ich" ist einerseits jeder und zugleich gibt es niemanden außer mir, die "Ich" ist.
Worauf Hegel hier aufmerksam macht, ist der Widerspruch zwischen dem Gemeinten und dem faktisch Gesagten. Als Personalpronomen genommen, ist "ich" nicht mehr als eine Zeigegeste wie "hier", "jetzt", "dies da". Es wird damit etwas Einzelnes gemeint, das sich von allen anderen Individuen unterscheidet. Doch sind die Zeigewörter "dies da" oder "hier" oder "jetzt" so unspezifisch, dass sie auf alles und nichts passen. Sie reichen also in keiner Weise aus, um die Singularität des jeweiligen Gegenstandes auszudrücken oder zu bestimmen. (Das ist genau die Dialektik, die im Abschnitt "Das Dieses und das Meinen" aus der PdG ausgebreitet wurde.)

Ohne es zu wollen, hat also derjenige, der mit dem Wort "ich" auf sich selbst zeigt, etwas Allgemeines ausgedrückt - etwas, das wegen seiner Unbestimmtheit von jeder anderen Person, die "ich" sagen kann, ebenso gut gesagt werden könnte. Trotzdem ist und bleibt natürlich jede Person, die "ich" sagt, ein Individuum, einzigartig und unverwechselbar. Und offenbar gehört beides zusammen; das Individuelle, Einzigartige ist ein ebenso unverzichtbares "Moment" des Subjekts wie das Allgemeine, das es sprechend/denkend selbst erzeugt, indem es "ich" sagt/denkt.

Das sollte doch eigentlich unstrittig sein. So schreiben die allgemeinen Menschenrechte jedem Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte zu - allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Klasse "Mensch". Trotzdem ist jeder Mensch ein Individuum, und der Sinn der allgemeinen Menschenrechte besteht darin, genau diese Individualität zu schützen. - Für Hegel ist es charakteristisch, dass er einerseits den Widerspruch zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen scharf akzentuiert, doch andererseits auf der lebendigen, konkreten Einheit der widersprechenden Momente beharrt. So ist es ja auch in Wirklichkeit nicht ausgeschlossen, Mensch zu sein (wie alle anderen Menschen) und es zugleich auf eine einzigartige, individuelle Weise zu sein. Nur, wenn man diese lebendige, konkrete Einheit begrifflich fassen will, tritt der Gegensatz auf, scheinen das Allgemeine und das Individuelle zweierlei zu sein, das sich nicht unter einen Hut bringen lässt. Allerdings kommt es im Zusammenleben der Menschen gar nicht so selten zu Konflikten, in denen sich der innere Widerspruch zwischen dem Allgemeinen und Individuellen austrägt; es ist keine leichte Aufgabe, die individuellen Ansprüche gegen die Ansprüche der Allgemeinheit auszubalancieren.

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In erster Näherung können wir also wohl festhalten, dass Hegel dem Denken den Charakter der Allgemeinheit zuschreibt, aber zugleich das Spannungsfeld im Blick behält, in dem sich diese Allgemeinheit bewegt.




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Friederike hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2017, 11:01
Notiz: Mir fällt eben in Hinsicht auf das "Ich" Tugendhats Unterscheidung in die "epistemische Asymmetrie" und die "veritative Symmetrie" ein. Ich kann mich sehr wohl über Sachverhalte täuschen, nicht täuschen indes kann ich mich darüber, daß ich es bin, die sich täuscht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Unterscheidung das abdeckt, was Hegel unter "Ich" versteht.
Ich kenne den Text von Tugendhat nicht, auf den Du Dich beziehst (warum eigentlich nicht, hä?). Darum kann ich dazu auch nur Vermutungen anstellen. Aber mir kommt es so vor, als ob Tugendhat damit die beiden Seiten des "Ich" - seine individuelle, unsagbare, "private" und seine allgemeine, die sich im Denken/Sprechen manifestiert - auf seine Weise zu analysieren suchte.




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Friederike
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Hermeneuticus hat geschrieben : Ich kenne den Text von Tugendhat nicht, auf den Du Dich beziehst (warum eigentlich nicht, hä?). Darum kann ich dazu auch nur Vermutungen anstellen. Aber mir kommt es so vor, als ob Tugendhat damit die beiden Seiten des "Ich" - seine individuelle, unsagbare, "private" und seine allgemeine, die sich im Denken/Sprechen manifestiert - auf seine Weise zu analysieren suchte.
Da ich von unterwegs schreibe, verbleibe ich im Ungefähren. Es ist das Buch über Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (bei Wittgenstein, Mead, Heidegger, Hegel). Warum ich meine, daß Tugendhat möglicherweise nur einen Teilaspekt abdeckt, ist darin begründet, daß Tugendhat in dieser Vorlesungsreihe der gesamten von ihm so genannten "Subjektphilosophie" den Garaus machen will und dies auf der Grundlage der sprachanalytischen und sprachphilosophischen Erörterungen des "Ich".




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Friederike hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2017, 12:45
Hermeneuticus hat geschrieben : Ich kenne den Text von Tugendhat nicht, auf den Du Dich beziehst (warum eigentlich nicht, hä?)
Da ich von unterwegs schreibe, verbleibe ich im Ungefähren. Es ist das Buch über Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (bei Wittgenstein, Mead, Heidegger, Hegel).
Ja, das dachte ich mir. Ich wollte es seit langem immer schon mal gelesen haben, kam aber irgendwie nicht dazu. Darum meine Frage an mich selbst. :-)




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Jörn Budesheim
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Schon in dieser vorläufigen Exposition kommt der Unterschied von Sinnlichem, Vorstellung und Gedanken zur Sprache; er ist durchgreifend für das Fassen der Natur und der Arten des Erkennens; es wird daher zur Erläuterung dienen, diesen Unterschied auch hier schon bemerklich zu machen. – Für das Sinnliche wird zunächst sein äußerlicher Ursprung, die Sinne oder Sinneswerkzeuge, zur Erklärung genommen. Allein die Nennung des Werkzeuges gibt keine Bestimmung für das, was damit erfaßt wird. Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist, und indem das Einzelne (ganz abstrakt das Atom) auch im Zusammenhange steht, so ist das Sinnliche ein Außereinander, dessen nähere abstrakte Formen das Neben– und das Nacheinander sind.
Drei "Dinge" braucht man nach Hegel zum Erkennen: Sinne, Vorstellungen und Gedanken. Diese verschiedenen Momente des Erkennens werden, wenn ich recht sehe, in dem oben von Hermeneuticus zitierten Text Hegels knapp charakterisiert und ihre Unterschiede werden erläutert, bzw angedeutet.

Der kleine Ausschnitt, den ich ausgewählt habe, wirkt auf mich so, als würde Hegel das Sinnliche so charakterisieren, dass es als Lieferant des Besonderen ausgewiesen wird. Das Sinnliche "liefert" das Einzelne, das Atomare, das noch nicht wirklich Verbundene, was daher bloß neben- und nacheinander steht. Das Verbinden, also das in einen größeren Zusammenhang bringen, die Synthesis soll dann wohl das Denken mit den allgemeinen Begriffen leisten.

Ganz knapp wird noch der Bezug des Sinnlichen auf die Werkzeuge erwähnt. Also die Sinnesorgane die Augen, Nase, Mund etc.

Ein anderer Bezug, nämlich der Bezug der Sinnesorgane auf die Wirklichkeiten um uns herum, wird in dem Abschnitt überhaupt nicht erwähnt, oder?

Falls diese Zusammenfassung einigermaßen richtig ist, dann hätte ich zwei Einwände. Erstens, man kann das Sinnliche meines Erachtens nicht treffend charakterisieren, ohne einen Bezug auf den Gegenstand der Sinnlichkeit, also die uns umgebende Wirklichkeit. Zweitens, unsere sinnlichen Wahrnehmungen selbst sind bereits begrifflich strukturiert. Das Sinnliche ist weit davon entfernt, ein bloßes neben- oder nacheinander zu sein. Die Rede vom "das Neben– und das Nacheinander" wirkt auf mich so (auf die Gefahr hin, Hegel völlig falsch zu lesen) als Stelle er sich das Sinnliche wie einen Stummfilm vor, bei dem einfach etwas abläuft, was stumm bliebe (also nicht sinnhaft verbunden) ohne das Denken.




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Friederike
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So 27. Aug 2017, 10:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 27. Aug 2017, 07:44
Schon in dieser vorläufigen Exposition kommt der Unterschied von Sinnlichem, Vorstellung und Gedanken zur Sprache; er ist durchgreifend für das Fassen der Natur und der Arten des Erkennens; es wird daher zur Erläuterung dienen, diesen Unterschied auch hier schon bemerklich zu machen. – Für das Sinnliche wird zunächst sein äußerlicher Ursprung, die Sinne oder Sinneswerkzeuge, zur Erklärung genommen. Allein die Nennung des Werkzeuges gibt keine Bestimmung für das, was damit erfaßt wird. Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist, und indem das Einzelne (ganz abstrakt das Atom) auch im Zusammenhange steht, so ist das Sinnliche ein Außereinander, dessen nähere abstrakte Formen das Neben– und das Nacheinander sind.
Falls diese Zusammenfassung einigermaßen richtig ist, dann hätte ich zwei Einwände. Erstens, man kann das Sinnliche meines Erachtens nicht treffend charakterisieren, ohne einen Bezug auf den Gegenstand der Sinnlichkeit, also die uns umgebende Wirklichkeit.
So wie ich Hegel verstehe, seid Ihr einer Meinung:
Hegel hat geschrieben : Allein die Nennung des Werkzeuges gibt keine Bestimmung für das, was damit erfaßt wird.
Jörn hat geschrieben : Zweitens, unsere sinnlichen Wahrnehmungen selbst sind bereits begrifflich strukturiert. Das Sinnliche ist weit davon entfernt, ein bloßes neben- oder nacheinander zu sein. Die Rede vom "das Neben– und das Nacheinander" wirkt auf mich so (auf die Gefahr hin, Hegel völlig falsch zu lesen) als Stelle er sich das Sinnliche wie einen Stummfilm vor, bei dem einfach etwas abläuft, was stumm bliebe (also nicht sinnhaft verbunden) ohne das Denken.
In dem zitierten Abschnitt aus §2o schreibt Hegel vom "Sinnlichen", der "Vorstellung" und dem "Denken". Den Begriff "Wahrnehmung" gebraucht Hegel nicht. Ich halte es für möglich, daß Hegel "Vorstellen" das nennt, was zumindest ich unter "Wahrnehmung" verstehe. "Wahrnehmen" heißt einen Aussagesatz derart zu bilden: "ich sehe X". Wahrnehmung schließt daher erstens die Bezugnahme auf die Wirklichkeit ein, und sie ist begrifflich strukturiert, denn das Referieren auf ein X setzt irgendeine -rudimentäre- Art von Begriffhaben voraus. Aus der folgenden Passage aus §2o würde ich schließen, daß Hegel mit "Vorstellung" das meint, was Du?, was jedenfalls ich als "Wahrnehmung" bezeichnen würde:
Hegel hat geschrieben : Das Vorstellen hat solchen sinnlichen Stoff zum Inhalte, aber in die Bestimmung des Meinigen, daß solcher Inhalt in Mir ist, und der Allgemeinheit, der Beziehung-auf-sich, der Einfachheit, gesetzt. – Außer dem Sinnlichen hat jedoch die Vorstellung [72] auch Stoff zum Inhalt, der aus dem selbstbewußten Denken entsprungen [ist], [...]




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So 27. Aug 2017, 15:20

Ich möchte Friederike unterstützen. Hegel will eigentlich darauf hinaus, dass "das Sinnliche" letztlich nicht vom Denken und vom Begrifflichen abzutrennen sei.

Das macht er gerade auch gegen Kant stark, der ja in seinen philosophischen Abhandlungen die verschiedenen "Vermögen", die am Erkennen beteiligt sind, schön säuberlich unterschieden und separat von einander untersucht hatte, wie (sinnliche) Anschauung, Verstand, Vernunft, Urteilskraft usw. Zwar wollte auch Kant im Grunde schon geltend machen, dass diese verschiedenen "Instanzen" nur im Zusammenwirken so etwas ergeben wie wohlbestimmte Erkenntnisse:
Kant hat geschrieben : Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen).

(Kritik der reinen Vernunft A 51| B 75)
Doch nach Hegels Ansicht war Kant darin nicht konsequent genug verfahren.

Im Zitat oben bestimmt Hegel "das Sinnliche" auffallend sparsam. Er spricht nicht von Zeit und Raum und nicht von einzelnen Gegenständen oder Dingen, die etwa den Sinnen "gegeben" seien (wie es Kant tut). Er sagt nur, dass das Sinnliche den Charakter der Einzelheit und des "Außereinanders", näher des Neben- und Nacheinanders habe. Diese Sparsamkeit ist Absicht, denn Hegel will geltend machen, dass alles nähere Bestimmen von Gegenständen letztlich etwas Begriffliches oder Gedankliches sei. Das darf man als einen Grundsatz betrachten, auf dem seine ganze Philosophie beruht: Wo etwas bestimmt oder unterschieden wird, sind Begriffe im Spiel. Und damit hält er auch im Zitat nicht lange hinterm Berg:
Hegel hat geschrieben : Übrigens wenn für das Sinnliche die Bestimmungen der Einzelheit und des Außereinander angegeben worden, so kann noch hinzugefügt werden, daß auch diese selbst wieder Gedanken und Allgemeine sind; in der Logik wird es sich zeigen, daß der Gedanke und das Allgemeine eben dies ist, daß er er selbst und sein Anderes ist, über dieses übergreift und daß nichts ihm entflieht.
Der Gedanke ist "er selbst und sein Anderes"; er "übergreift" dieses Andere. Wenn also zwischen Sinnlichkeit, Vorstellung und Gedanklichem unterschieden wird, wenn das so Unterschiedene weiter bestimmt wird, so sind diese Unterscheidungen oder Bestimmungen bereits das Werk des Gedankens. Denn das, was dabei herausgehoben, vom Anderen abgesetzt wird - das Sinnliche einerseits, das Denken andererseits -, sind, wenn man sie für sich betrachtet, Allgemeine oder Abstrakta. D.h. es sind Bezeichnungen für "Klassen" oder "Mengen", zu denen vieles Einzelne gehören kann: viele verschiedene sinnliche Anschauungen, viele verschiedene Gedanken oder Begriffe. Die Einteilung unseres Bewusstseinslebens, das ja irgendwie ein homogenes Ganzes bildet, in dem wir keineswegs so klare Abteilungen vorfinden wie Anschauungen hier, Begriffe dort, und Phantasien wiederum in einer eigenen Abteilung, - diese Einteilung in verschiedene Tätigkeiten und Zustände ist klarer Weise das Werk einer begrifflichen Unterscheidung. Darum kann Hegel mit Recht sagen, der Begriff übergreife sich selbst und das, was er von sich - als das Nicht-Begriffliche, Sinnliche - unterscheidet.




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Mi 30. Aug 2017, 22:25

Ich möchte einen weiteren Text zum Thema "Denken" zitieren, der mit dem von Hegel engstens zusammenhängt, ja auf den sich Hegel ausdrücklich und unausdrücklich bezieht. Es handelt sich um den zentralen Absatz aus Kants sog. "Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" in der KrV. Beim Lesen fallen sofort die inhaltlichen Parallelen auf.
Kant hat geschrieben : Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption

Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen. Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehöreten, d.i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden. Aus dieser ursprünglichen Verbindung läßt sich vieles folgern.[136]

Nämlich diese durchgängige Identität der Apperzeption, eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich. Denn das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin. Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d.i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich.14 Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen, und ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus, d.i. nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige derselben in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselbe insgesamt meine Vorstellungen; denn sonst würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin. Synthetische Einheit[137] des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption au bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist.

Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst identisch, mithin ein analytischer Satz, erklärt aber doch eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als notwendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbewußtseins nicht gedacht werden kann. Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtsein gedacht werden. Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen. Ich bin mir also des identischen Selbstbewußt, in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. Das ist aber so viel, als, daß ich mir einer notwendigen Synthesis derselben a priori bewußt bin, welche die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption heißt, unter der alle mir gegebene Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen.

KrV B 135ff. Zitiert nach der Ausgabe bei zeno.org




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Do 31. Aug 2017, 09:58

Kant hat geschrieben : Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.
Da haben wir also den (berühmten) Satz, den Hegel "ungeschickt" ausgedrückt findet, obwohl er in der Sache mit Kant weitgehend übereinstimmt.

Kants Gedanke ist im Grunde recht einfach: Alles, was mir in irgendeiner Weise bewusst wird, hat notwendig eine Beziehung auf mich, das denkende Subjekt. Auch wenn es sich um sinnliche Anschauungen handelt (bei Hegel "das Sinnliche"), die Kant als "gegeben" charakterisiert, sind es doch immer meine Anschauungen - da mögen sie noch so bunt, vielfältig und begrifflich unartikuliert sein. - Etwas ungeschickt ist allerdings auch Kants Rede von dem Mannigfaltigen, das "in demselben Subjekt (...) angetroffen wird". Aber es ist doch klar, was er sagen will: Auch wenn es sich bei meinen Bewusstseinsinhalten (= "Vorstellungen") nicht um Produkte meines Denkens oder meiner Phantasie handelt, wenn ich sie also passiv empfange (rezipiere), haben sie doch unvermeidlich einen Bezug zu meinem Denken - allein schon deshalb, weil es eben meine Bewusstseinsinhalte sind.

Nun folgt der nächste wichtige Gedankenschritt:
Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen. Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehöreten, d.i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden. Aus dieser ursprünglichen Verbindung läßt sich vieles folgern.
Die Einheit des denkenden Ich in der Mannigfaltigkeit aller seiner Bewusstseinsinhalte sei "ein Actus der Spontaneität", sie könne nicht als zur Sinnlichkeit gehörig verstanden werden. Denn das Sinnliche versteht Kant als grundsätzlich rezeptiv, d.h. passiv empfangend und damit abhängig von dem, was sich den Sinnen gerade darbietet. Dagegen müsse die Einheit des "Ich denke" eine spontane, von sich aus tätige sein - ein "Actus", also eine Handlung oder - wie Fichte später doppelmoppelnd sagen wird - eine "Tathandlung". Und diese Einheit macht Kant nun auch als Selbstbewusstsein kenntlich, denn offenbar ist der Gedanke "Ich denke" selbstreflexiv.

Allerdings müsse, so Kant, dieses Selbstbewusstsein, das sich im "Ich denke" artikuliert, nicht immer ein ausdrückliches, bewusst vollzogenes sein. D.h. ich muss nicht bei allem und jedem, was mir durch den Kopf schießt, immer hinzufügen: "ich denke jetzt x", "ich denke jetzt y", "ich denke jetzt z". Trotzdem wäre dieser Zusatz stets möglich, da x, y, z ja immer de facto meine Vorstellungen sind. - Kant wird später in seiner "Deduktion" die Urteile, die das denkende Subjekt fällt, als begriffliche Artikulationen des Ich interpretieren. D.h. in jedem einzelnen Urteil, das das Subjekt fällt, manifestiert sich seine "ursprüngliche" Einheit auf eine von unendlich vielen möglichen Weisen. Ohne diese durchgängige, selbsttätige Einheit des Ich "würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin."




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Fr 1. Sep 2017, 00:54

Versuchen wir eine Zwischenbilanz! Was haben wir bis jetzt über das Denken herausgefunden?

Denken ist eine geistige Tätigkeit neben anderen geistigen Tätigkeiten (wie Empfinden, Anschauen, Phantasieren, Begehren). Aber sie nimmt aus mehreren Gründen eine Sonderstellung ein:

1. Denken ist eine Tätigkeit, die das Allgemeine hervorbringt, und zwar sowohl das logische Allgemeine als auch das äußerlich Allgemeine, das sich "intersubjektiv" kommunizieren oder teilen lässt. Was man denkt, kann man wegen seiner logischen Allgemeinheit auch allgemein mitteilen, es ist allgemein verständlich.

2. Denken hat einen Bezug zur Wahrheit, d.h. Gedanken können wahr oder falsch sein. Was aber wahr ist, ist nicht nur für ein Individuum wahr, sondern für alle. Der Umstand, dass das Denken eines Individuums Gehalte hervorbringen kann, die nicht nur seine individuellen Ansichten oder Meinungen sind, sondern allgemein wahr sein können, untermauert den Sonderstatus des Denkens neben den anderen geistigen Tätigkeiten.

3. Dem Denken kann nichts entfliehen. Es übergreift auch das, was es als Nicht-Denken von sich unterscheidet. Kant sagt, dass das "Ich denke" alle meine bewussten Zustände und Regungen "begleiten" könne - auch diejenigen, die nicht spezifisch gedanklichen Ursprungs sind, wie Anschauungen und Empfindungen. Durch den bloßen Umstand, dass alle Bewusstseinsinhalte meine sind, haben sie auch notwendig einen Bezug auf mein Denken.

4. Denken ist keine passive Regung, sondern eine spontane Tätigkeit - ein "Actus", wie Kant sagt. Wenn nämlich das Denken stets passiv von allem abhinge, was mir so "durch den Kopf" schießt, hätte ich ein ebenso vielfarbiges, zersplittertes Selbst wie meine Bewusstseinsinhalte. Darum muss man sich die Tätigkeit, die Einheit in dieser unabsehbaren Mannigfaltigkeit stiftet, als eine unabhängige, freie Tätigkeit vorstellen.

5. Das "ich denke", das alle meine Bewusstseinsinhalte begleiten kann, hat nicht nur eine einheitsstiftende Bedeutung für das Wesen, das da "Ich" sagt. Es hat auch einen reflexiven Charakter. Im Denken haben wir also nicht nur Vorstellungen von diesen oder jenen Gegenständen, Empfindungen, Anschauungen, sondern mit diesen diversen Vorstellungen ist auch immer eine Selbstvergegenwärtigung möglich, also Selbstbewusstsein.




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Sa 2. Sep 2017, 13:12

Es ist wohl unübersehbar, dass Hegel sich in seinen Ausführungen über das Denken auf Kants "ursprüngliche Apperzeption" und "transzendentale Einheit des Subjekts" bezieht, und zwar affirmativ. Aber schaut man sich seine Formulierungen genauer an, zeigt sich auch, dass er Kants Gedanken nicht einfach paraphrasiert, sondern sich davon zugleich distanziert. Oder sagen wir besser: Man bemerkt, dass Hegel Kants Gedanken von einem ganz anderen Standpunkt aus referiert:
Hegel hat geschrieben : Kant hat sich des ungeschickten Ausdrucks bedient, daß Ich alle meine Vorstellungen, auch Empfindungen, Begierden, Handlungen usf. begleite. Ich ist das an und für sich Allgemeine, und die Gemeinschaftlichkeit ist auch eine, aber eine äußerliche Form der Allgemeinheit. Alle anderen Menschen haben es mit mir gemeinsam, Ich zu sein, wie es allen meinen Empfindungen, Vorstellungen usf. gemeinsam ist, die meinigen zu sein.
So ist bei Kant keine Rede von dem "gemeinschaftlichen" Aspekt der Allgemeinheit des Denkens. Kant spricht immer nur von DEM Ich bzw. DEM Subjekt. Man darf zwar unterstellen, dass dies als Kollektiv-Singular gemeint ist, dass also Kant stillschweigend davon ausgeht, dass die Subjektstrukturen, die er untersucht, in allen Subjekten die gleichen seien. Aber die Verhältnisse der vielen Subjekte zueinander, die inter-subjektiven Verhältnisse, sind für ihn kein Thema. Das ist ein Manko vieler subjekt-philosophischer Ansätze (von Descartes über Hume bis zu Husserl und zur zeitgenössischen "Philosophie des Geistes"). Die "introspektive" Fokussierung auf "Ich", "Bewusstsein", "Denken" usw. macht es schwierig, das Subjekt als einen Teil der Welt und als eines von vielen Subjekten in der Welt zu begreifen. Die bipolare Spannung (wenn nicht gar: der Dualismus) zwischen dem Subjekt und dem Objekt, in dem alles andere, was nicht Subjekt ist, sich versammelt, durchzieht dann das ganze Denken.

Von dieser Art Subjekt-Philosophie hat Hegel sich energisch und grundsätzlich distanziert. Seine ganze "Phänomenologie des Geistes" widmet sich ihrer immanenten Kritik. Und diese Distanzierung wird auch hier bemerklich, wo er sich auf den Standpunkt des "Ich" einlässt, das sich "introspektiv" mit seinem eigenen Denken befasst.
Lesen wir erst nach, was Kant über die "transzendentale Einheit" des Subjekts sagt:
Kant hat geschrieben : Synthetische Einheit [137] des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist.
Es springt uns sofort der Gegensatz entgegen zwischen dem "Gegebenen" - den Anschauungen - und der verbindenden Tätigkeit ("Synthesis") des Verstandes, die als eine Tätigkeit "a priori" herausgestellt wird. Die Synthesis der ursprünglichen Apperzeption sei der "Grund", der "a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht". Ja, diese synthetische "Verrichtung" des Verstandes sei der oberste Grundsatz der gesamten menschlichen Erkenntnis. - Kants Denken ist durchgreifend von der Opposition "a priori / a posteriori" geprägt, also dem Unterschied zwischen dem "Gegebenen", das das erkennende Subjekt passivisch rezipiert, und dem, was das Subjekt an sich selbst ist und tut, nämlich unter Abzug alles Gegebenen. Das hat u.a. zur Folge, dass das Subjekt und seine "transzendentale" Einheit gewissermaßen aus der sinnlichen Welt entrückt wird. Die Einheit des Subjekts kann demnach keine leiblich-seelische sein, denn das einheitsstiftendes Prinzip wird im reinen Denken, genauer sogar hinter dem faktischen, so und so bestimmten Denken angesiedelt...

Anders Hegel:
Ich aber, abstrakt als solches, ist die reine Beziehung auf sich selbst, in der vom Vorstellen, Empfinden, von jedem Zustand wie von jeder Partikularität der Natur, des Talents, der Erfahrung [74] usf. abstrahiert ist. Ich ist insofern die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit, das abstrakt Freie. Darum ist das Ich das Denken als Subjekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen.
Hegel paraphrasiert zustimmend, dass das denkende Ich das einheitsstiftende Prinzip sei, das alle seine Empfindungen, Vorstellungen, Zustände "durchzieht" und in ihnen "gegenwärtig" ist. Doch zuvor charakterisiert er "Ich" auch als abstrakt, genauer: als ein Produkt der Abstraktion. Das lässt bei Hegel immer aufhorchen, denn er ist u.a. auch ein scharfer Kritiker des "abstrakten Denkens".
"Abstrakt" drückt stets eine Relation aus. Was abstrakt ist, ist es stets im Verhältnis zu etwas Konkretem, von dem abstrahiert wird. Etwas Abstraktes kann daher nicht "absolut abstrakt" sein, sondern immer nur relativ zu dem, wovon beim Abstrahieren abgesehen wird. Und Hegel zählt denn auch auf, wovon abstrahiert werden muss, um vom Ich und der "reinen Beziehung auf sich selbst" sprechen zu können: Vorstellen, Empfinden, jeder Zustand, jede natürliche Partikularität usw. Indem er also gewissermaßen den Preis nennt, um den allein die reine Selbstvergegenwärtigung des "Ich denke" (oder "Ich bin ich" oder "ich denke, ich bin"...) zu gewinnen ist, relativiert er sie, stuft sie herab zu einem bloßen "Moment" des Geistes.

Was Kant als den "obersten Grundsatz" der ganzen menschlichen Erkenntnis heraushebt - die transzendentale Einheit der Apperzeption hinterm "Ich denke" -, hat für Hegel somit nicht den Charakter des Prinzipiellen, Absoluten oder Unhintergehbaren. Er lässt dies selbstreflexive, abstrakte "Ich denke" durchaus gelten, er würdigt es sogar als "frei" und "existierend". Aber er ist weit davon entfernt, es zum Prinzip seiner Philosophie oder allen menschlichen Wissens zu machen.




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