Günter Kunert wird 90
Vor 45 Jahren schrieb Günter Kunert einen Roman über sein Land, die DDR. So ehrlich, dass er ihn keinem Verlag zeigte. Mit Ende 80 hat er „Die zweite Frau“ beim Kelleraufräumen wiedergefunden – und das Buch jetzt veröffentlicht.
Es klingt wie ein Märchen: Als Günter Kunert vor drei Jahren seinen Keller aufräumte, auf der Suche nach alten Gedichten, stieß er in einer Kiste auf einen Roman, den er bereits 1974/1975 geschrieben hatte. So frech, brisant, so „politisch unmöglich“, dass Kunert, der damals noch in der DDR lebte, es erst gar nicht einem Verlag vorlegte.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/gu ... _id=440972
Es klingt wie ein Märchen: Als Günter Kunert vor drei Jahren seinen Keller aufräumte, auf der Suche nach alten Gedichten, stieß er in einer Kiste auf einen Roman, den er bereits 1974/1975 geschrieben hatte. So frech, brisant, so „politisch unmöglich“, dass Kunert, der damals noch in der DDR lebte, es erst gar nicht einem Verlag vorlegte.
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Wozu die Tage zählen!?
(Ф.М. Достоевский)
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- Jörn Budesheim
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Frist
Und Sonne war und fiel heiß auf sie nieder
Und fiel auf mich der ich doch bei ihr war.
Die Wellen gingen fort und kamen immer wieder
Zurück voll Neugier zu dem nackten Paar.
Ein wenig Fleisch auf soviel Sandgehäufe
Ein wenig Frist in ziemlich viel Unendlichkeit
Ein wenig Leben und zwei Lebensläufe
Darüber Sonne und darunter Dunkelheit.
(Günter Kunert)
Und Sonne war und fiel heiß auf sie nieder
Und fiel auf mich der ich doch bei ihr war.
Die Wellen gingen fort und kamen immer wieder
Zurück voll Neugier zu dem nackten Paar.
Ein wenig Fleisch auf soviel Sandgehäufe
Ein wenig Frist in ziemlich viel Unendlichkeit
Ein wenig Leben und zwei Lebensläufe
Darüber Sonne und darunter Dunkelheit.
(Günter Kunert)
Kunert schätze ich (auch) hauptsächlich seiner Gedichte wegen, doch werde ich "Die zweite Frau" sicherlich lesen.
Verlegenheitsgedicht
Die Engel singen ihre Lieder droben,
wir andern aber haben unsre Stimmen
irdischerseits und leis erhoben,
damit sie keinen sonst ergrimmen.
Die Töne fliegen durch den tauben Äther,
auf daß sie irgendwo auf diesem Sterne
Gehör und Neigung finden. Wenig später
erklingt ihr Echo. Doch aus weiter Ferne.
G. Kunert
Verlegenheitsgedicht
Die Engel singen ihre Lieder droben,
wir andern aber haben unsre Stimmen
irdischerseits und leis erhoben,
damit sie keinen sonst ergrimmen.
Die Töne fliegen durch den tauben Äther,
auf daß sie irgendwo auf diesem Sterne
Gehör und Neigung finden. Wenig später
erklingt ihr Echo. Doch aus weiter Ferne.
G. Kunert
Wozu die Tage zählen!?
(Ф.М. Достоевский)
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- Friederike
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Das Verlegenheitsgedicht ist wundervoll. Der doppelsinnige Titel sowieso. So zarte und hingehauchte Worte ... aber irgendwie drastisch melancholisch. Man wäre doch lieber bei den Engeln.
@TsukiHana, Danke fürs Tippen oder Kopieren.
@TsukiHana, Danke fürs Tippen oder Kopieren.
Ja, ich liebe es auch. Gerade seine melancholische Sicht auf die Welt mag ich bei Kunert sehr, seine unaufdringliche Sprache, die beim Leser viel Raum für feine Nuancen und Schattierungen lässt.Friederike hat geschrieben : ↑So 3. Mär 2019, 17:33Das Verlegenheitsgedicht ist wundervoll. Der doppelsinnige Titel sowieso. So zarte und hingehauchte Worte ... aber irgendwie drastisch melancholisch.
Dann wirst Du dieses Gedicht vielleicht auch mögen?
Diagnose
Bei dir bin ich ein Weißnichtwer.
Die Spiegel täuschen und es lügt
die eigne Stimme. Was mich betrügt,
ist gar mein Selbst, von Inhalt leer.
Bin süchtig nach der Sicherheit
verleibter Stunden, nach gewohnter Hand,
nach einem Vatermutterliebesland,
nach einem Dasein ohne Zeit,
nach etwas Glück aus reinem Leid.
G. Kunert
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(Ф.М. Достоевский)
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- Friederike
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Oja.
Übrigens liest sich das Verlegenheitsgedicht noch einmal anders, wenn man daran denkt, es sei unter Zensurbedingungen (in der DDR) geschrieben und würde die Zensur geschickt "unterlaufen" (mir fällt kein besseres als das Kuratorenwort ein).
Übrigens liest sich das Verlegenheitsgedicht noch einmal anders, wenn man daran denkt, es sei unter Zensurbedingungen (in der DDR) geschrieben und würde die Zensur geschickt "unterlaufen" (mir fällt kein besseres als das Kuratorenwort ein).
In der Tat war die Zensur da schon wirkmächtig und G. Kunert sprichwörtlich ein Dorn im Auge der Machthaber, zumal seine Popularität im "feindlichen" Westen wuchs. Der Hanser-Verlag veröffentlichte schon früh seine Gedichte und Kurzprosa und bot ihm damit eine stabile Plattform, die in der DDR zunehmend bröckelte...
G. Kunert ist auch ein sehr aufmerksamer Beobachter der Gegenwart, die er in seinen Werken mit überaus skeptischen Blick kommentiert.
"Er denkt übers Älterwerden nach, über Versäumnisse im Leben, die Beschleunigung unseres Daseins und spricht, wie so oft, von der Kehrseite des Fortschritts. Seit Jahrzehnten warnt der Autor vor den Gefahren der Umweltzerstörung. Warum, wenn ihm niemand zuhört, schreibt er das alles auf? Kunerts Antwort: reiner Selbstzweck."
G. Kunert ist auch ein sehr aufmerksamer Beobachter der Gegenwart, die er in seinen Werken mit überaus skeptischen Blick kommentiert.
"Er denkt übers Älterwerden nach, über Versäumnisse im Leben, die Beschleunigung unseres Daseins und spricht, wie so oft, von der Kehrseite des Fortschritts. Seit Jahrzehnten warnt der Autor vor den Gefahren der Umweltzerstörung. Warum, wenn ihm niemand zuhört, schreibt er das alles auf? Kunerts Antwort: reiner Selbstzweck."
Aus: https://www.mdr.de/kultur/themen/leseze ... t-100.htmlGünter Kunert post_id hat geschrieben : Es gilt, das eigene Bewusstsein nicht in die billige Akzeptanz des Bestehenden absinken zu lassen. Es gilt, das Denken in Bewegung zu halten, geistigen Stillstand zu vermeiden …
Günter Kunert, Ohne Umkehr
Wozu die Tage zählen!?
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Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe
Goethe
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag dem heiterer Melancholiker!
Ikarus
Es sind ein paar Federn geblieben
nach seinem tiefen Sturz.
Höhenflüge dauern eben kurz
und werden zur Warnung beschrieben
gegen Übermütigkeiten. Doch die Geschichte
behält Gestalten des Scheiterns im Sinn.
In Clios Hauptbuch verzeichnet Gewinn
die dürftigsten Berichte.
Der Untergang als letzter Akt
ist dem Vergessen entzogen.
Und steigt aus des Alltags Katarakt
wie ein seltsamer Regenbogen.
G. Kunert
Ikarus
Es sind ein paar Federn geblieben
nach seinem tiefen Sturz.
Höhenflüge dauern eben kurz
und werden zur Warnung beschrieben
gegen Übermütigkeiten. Doch die Geschichte
behält Gestalten des Scheiterns im Sinn.
In Clios Hauptbuch verzeichnet Gewinn
die dürftigsten Berichte.
Der Untergang als letzter Akt
ist dem Vergessen entzogen.
Und steigt aus des Alltags Katarakt
wie ein seltsamer Regenbogen.
G. Kunert
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Den Ansatz dass Ikarus übermütig war habe ich noch nie so richtig verstanden. O.k. sich mit seinem Vater aufzuschwingen war wohl mutig. Aber würde das nicht jeder Sohn im Vertrauen auf seinen Vater tun? Dann näher an die Sonne zu wollen ist für mich eigentlich natürlich und auch mutig. Aber übermütig nicht. Da schlägt für mich eher ein künstlerisches Naturgesetz zu: das Federleichte ist das Schwerste...s. Mozart... eigentlich nicht zu beherrschen...von Normalsterblich(+)en...
Zuletzt geändert von szimmer am Mi 6. Mär 2019, 22:48, insgesamt 1-mal geändert.
P.S. Wer den Fehler findet darf ihn behalten
Na ja wem wollte er was zeigen? Genugtuung? Denke er ist nur seinem Willen gefolgt...der war stärker als sein Können...aber schwächer als die Natur...
P.S. Wer den Fehler findet darf ihn behalten
Da gibt's bessere Beispiele für. Freud hat die Adamnachfolge mit dem Brudermord analysiert...Dostojewski war bei den Brüdern Karamasov aktiv...
P.S. Wer den Fehler findet darf ihn behalten
- Jörn Budesheim
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Ikarus nach Cornelisz: Kunst kommt von fallen.
...und nicht zwangsläufig von Gefallen...Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 7. Mär 2019, 07:52
Ikarus nach Cornelisz: Kunst kommt von fallen.
...finden...
P.S. Wer den Fehler findet darf ihn behalten
Ins Morgenland
Der Boden jedem Schritte unbekannter.
Du spürst die Wahrheit: Nichts als Grauen.
Schon Deportierter, nicht mehr Abgesandter.
Verloren Weg und Steg und das Vertrauen
an jede gute Heimkunft unterdessen.
Was dich erwartet, mußt du täglich lesen
und mühst dich ab, es zu vergessen:
Daß du zur Zukunft unterwegs gewesen.
G. Kunert
Der Boden jedem Schritte unbekannter.
Du spürst die Wahrheit: Nichts als Grauen.
Schon Deportierter, nicht mehr Abgesandter.
Verloren Weg und Steg und das Vertrauen
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Was dich erwartet, mußt du täglich lesen
und mühst dich ab, es zu vergessen:
Daß du zur Zukunft unterwegs gewesen.
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- Jörn Budesheim
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Leider gehört Kunert zu den Mitunterzeichnen :(
https://sz-magazin.sueddeutsche.de/poli ... roff-86986
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