Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Di 21. Mai 2019, 06:06
Ich verstehe es ungefähr so. Der Souverän setzt sich selbst die Regeln. Das hat mehrere Aspekte, zwei davon sind: der Akt des Setztens selbst und die Legitimation der Regeln, die gesetzt wurden. Das etwas seltsam klingende "übrig bleibt" heißt ja doch nur, dass der Akt der Setzung irgendwann Geschichte ist. Aber es bleibt, dass dieser Akt vom Souverän selbst vollzogen wurde und dadurch legitimiert ist. In einem Akt der Selbstbestimmung - also Freiheit.
Ist das nicht (mit etwas Wohlwollen) bei jeglicher Handlung so?
Handlungen werden streng genommen immer von Individuen/Subjekten vollzogen. Individuen können zwar in Vertretung für andere, für eine Institution oder ein Kollektiv ("im Namen des Volkes") handeln, aber eine solche Stellvertretung muss einigermaßen klar geregelt sein. Beim Kollektivsingular Souverän = Volk ist das allerdings problematisch. Und dieses Problem der Stellvertretung bzw. des stellvertretenden Entscheidens und Handelns ist letztlich DAS politische Kernproblem.
Wann in der Geschichte hat es eine Staatsgründung gegeben, bei der buchstäblich
das Volk sich eine Verfassung gab? Gab's nicht. Und kann es auch nicht geben, aus einfachen logistischen Gründen. Es waren - wie im Frankreich der Revolution - allenfalls "Nationalversammlungen" oder ähnliche Gremien, die stellvertretend für "das Volk" die neue Verfassung formuliert haben. Und wir dürfen sicher sein, dass dabei "das Volk" in Wirklichkeit nicht kollektiv einer Meinung war.
Das Volk als
einhellig handelnder, entscheidender, regelsetzender Akteur ist eine Fiktion. Es ist keine vollkommen sinnlose Fiktion. Nämlich dann nicht, wenn innerhalb eines Verfassungsstaates genau geregelt ist, wie das stellvertretende Handeln "im Namen des Volkes" funktioniert. Dann - aber nur dann - lässt sich nach einer Wahl mit Fug behaupten: "Das Volk hat entschieden" oder nach der Verabschiedung eines Gesetzes durch das Parlament': "das Volk hat sich ein neues Gesetz gegeben".
Allgemein gesagt:
Es sind die Regeln der Repräsentation, durch die allein das Volk in seiner faktischen Diversität und Pluralität zu einem Kollektiv wird, das einhellig handeln kann.
Aber bei der Setzung einer neuen Verfassung existieren solche Regeln nicht. Sie sollen doch gerade erst gesetzt werden! Wir haben also kein Staatsvolk vor uns, in dessen Namen einzelne Individuen legitim handeln können, sondern einen "Haufen Volks" quasi im Naturzustand, wo noch nichts geregelt ist. Nach Hobbes und Rousseau soll ja das Volk gerade in diesem ungeregelten Naturzustand noch frei und souverän sein - aber das ist ein ideologischer Mythos.
Wir feiern gerade das 70jährige Bestehen des Grundgesetzes, also der freisten und am meisten demokratischen Verfassung, die es in Deutschland je gab. Wie es aussieht, wird diese Verfassung von den allermeisten Deutschen anerkannt. Ihre Regeln sind gültig und rechtskräftig, sie ordnen de facto das politische Leben unseres Landes.
Aber wenn wir die im Artikel angebotene Bedeutung von V. an diese Verfassung legen, dann müssen wir feststellen, dass sie bloß ein Provisorium ist, weil das deutsche Volk diese Verfassung weder in einem souveränen Akt gesetzt noch sie durch ein Referendum bestätigt hat.
Und das ist doch - offensichtlich - Unsinn. Weder ist das GG ein Provisorium noch bedarf es eines besonderen Aktes des souveränen Volkes, um ihm wirklich die Legitimation zu verleihen. Ein solcher Akt wäre bestenfalls "Symbolpolitik", es wäre eine pro-forma-Legitimation.
Darum komme ich auch zu dem Ergebnis, dass die Realität der V. nicht in irgendeinem vorstaatlichen Gründungsakt besteht, sondern im realen politischen Leben des Volkes - wenn es denn durch eine rechtsstaatliche, demokratische Verfassung geordnet ist. Auf welche Weise und durch welche Akteure die Verfassung in die Welt kam, ist dabei sekundär. Ich sehe es also mit der V. genau andersherum als die Autoren des Artikels, die den Akzent auf den Gründungsakt des Staates legen und sogar meinen, darin "erschöpfe" sich die V. Nach meinem Verständnis
beginnt die Souveränität des Volkes erst, wo es von seiner Freiheit im täglichen Leben Gebrauch macht.