Volkssouveränität

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Hermeneuticus
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Mo 20. Mai 2019, 10:15

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 19. Mai 2019, 09:06
Aber der Artikel verliert kein Wort darüber, dass gewiss nicht jede beliebige Verfassung, die das souveräne Volk sich geben könnte, geeignet ist, die V. "aufzubewahren".
Für den Begriff von V., der im Artikel angeboten wird, ist es zufällig, welche Verfassung ein Staat hat. Mit diesem Begriff von V. wäre auch eine Diktatur verträglich.
Nach Würdigung des gesamten Artikels muss ich das doch korrigieren. (Ich hatte den Artikel vor einiger Zeit zwar schon ganz gelesen, mich aber bei der erneuten, gründlichen Sichtung erst einmal auf den ersten Teil ("Begriffliches") beschränkt.) Im weiteren Verlauf stellen die Autoren doch einen systematischen Zusammenhang von V. und Demokratie her. So heißt es etwa im 3. Teil über das deutsche Grundgesetz:
Das dem GG zugrundeliegende V.-Prinzip dient in der auch nach der deutschen Vereinigung weiter geltenden Fassung vorwiegend dem Zweck, diese repräsentative Demokratie der Bundesrepublik und seine tragenden Strukturprinzipien (außer dem Demokratieprinzip sind dies: das Republiks-, → Rechtsstaats-, → Sozialstaats- und → Bundesstaatsprinzip) zu legitimieren und so die Legitimation des gesamten politischen Systems herzustellen. Das Legitimationsprinzip V. und das Strukturprinzip Demokratie sind hierbei engstens aufeinander bezogen.
Aber ich muss gestehen, dass mir die Charakterisierung der V. als "Legitimationsprinzip" noch nicht klar ist. Na, schaun wir mal... :-)




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Friederike
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Mo 20. Mai 2019, 11:45

szimmer hat geschrieben :
So 19. Mai 2019, 21:18
Na ja der Begriff Bürger ist für mich genauso vorbelastet. Ich erschaudere immer wenn behauptet wird wir seien alle Bürger. Wir leben ja nicht mehr im Mittelalter wo ein Graf oder sonst ein Patriarch von der Burg herunterherrschte. Das ist mir zu absolutistisch. Im politisch bürgerlichen Lager mag das ja noch hinhauen. Aber die haben ja auch noch das C vorne dran 😉 "Etymologisch steckt im Wort Burg das Verb bergen, von dem sich auch die Geborgenheit ableitet, was in der Frühgeschichte die Flucht auf den Berg meinte (wo sich oft die Fliehburgen befanden)." Jetzt wird mir auch der Begriff "Papa Staat" klar 😏
Danke für Deinen Hinweis auf die Etymologie des Begriffes "Bürger". "Souverän"/"Souveränität" oder "Bürger" - aufschlußreich sind die Bilder, die mit den Begriffen transportiert werden und ja, daß "wir", das Volk, Schutzbefohlene von wem auch immer sind, das paßt ebenso wenig zu unserem Verständnis vom modernen Verfassungs- und Rechtsstaat, in dem alle gleich sind wie der Begriff "Souverän". Genaugenommen müßte man aber wohl davon ausgehen, daß die Bilder unser Verständnis schon zum Ausdruck bringen, zumindest zum Teil, denn wenn wir "Papa" oder "Vater Staat" sagen, dann hat diese Metapher eine Bedeutung.




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Friederike
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Mo 20. Mai 2019, 14:25

Artikel hat geschrieben : Ist die Verfassungsgebung erfolgt, so hat das Prinzip der V. seine konstituierende Funktion erfüllt; übrig bleibt seine legitimierende Funktion, die sich vor allem auf die Praxis der demokratischen Prozesse im Rahmen des modernen Verfassungsstaates bezieht: auf Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse aller Art im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft; auf die konkurrenz- oder koalitionsorientierten Interaktionen politischer → Parteien im Mehrparteiensystem; vorzüglich auf die politischen → Wahlen in Kommunen, Ländern und Gesamtstaat.
Der Begriff "V." erfaßt doch mehr als konstituierende Gewalt zu sein? Im oben Zitierten scheint das Prinzip (V.) höherrangig bzw. vorrangig. Ich hatte es bis eben so verstanden, daß V. die Legitimationsgrundlage eines Staates bzw. einer Verfassung ist, woraus das (Legitimations-) Prinzip der V. abgeleitet werden kann, was allerdings nicht zwingend ist.

@Hermeneuticus, vielleicht bringst Du Licht ins Dunkel. Gut jedenfalls, daß Du nach dem Legitimationsprinzip fragst, andernfalls hätte ich womöglich auf ewig einen Irrtum mit mir herumgeschleppt.




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Mai 2019, 15:58

szimmer hat geschrieben :
So 19. Mai 2019, 21:18
Ich erschaudere immer wenn behauptet wird wir seien alle Bürger.
Brauchst du nicht :-) Hier gibt es bei der Bundeszentrale einen kleinen Artikel dazu > http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/d ... buerger-in




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Mai 2019, 16:19

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 20. Mai 2019, 10:15
Aber ich muss gestehen, dass mir die Charakterisierung der V. als "Legitimationsprinzip" noch nicht klar ist.
Das Volkssouveränitäts-Prinzip soll die repräsentative Demokratie legitimieren, das heißt begründen und rechtfertigen. Das steht ja direkt im Text. Was sind deine Bedenken?




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Mai 2019, 16:29

Friederike hat geschrieben :
Mo 20. Mai 2019, 14:25
Der Begriff "V." erfaßt doch mehr als konstituierende Gewalt zu sein? Im oben Zitierten scheint das Prinzip (V.) höherrangig bzw. vorrangig. Ich hatte es bis eben so verstanden, daß V. die Legitimationsgrundlage eines Staates bzw. einer Verfassung ist, woraus das (Legitimations-) Prinzip der V. abgeleitet werden kann, was allerdings nicht zwingend ist.
Kannst du das für mich noch mal gaaanz laaangsam sagen :-)
(ich verstehe es einfach nicht)




Hermeneuticus
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Mo 20. Mai 2019, 18:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Mai 2019, 16:19
Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 20. Mai 2019, 10:15
Aber ich muss gestehen, dass mir die Charakterisierung der V. als "Legitimationsprinzip" noch nicht klar ist.
Das Volkssouveränitäts-Prinzip soll die repräsentative Demokratie legitimieren, das heißt begründen und rechtfertigen. Das stehe ja direkt im Text. Was sind deine Bedenken?
Nehmen wir die Stelle, die Friederike in ihrem letzten Beitrag zitiert hat:
Ist die Verfassungsgebung erfolgt, so hat das Prinzip der V. seine konstituierende Funktion erfüllt; übrig bleibt seine legitimierende Funktion, die sich vor allem auf die Praxis der demokratischen Prozesse im Rahmen des modernen Verfassungsstaates bezieht...
Das klingt doch so, als sei Legitimation (Begründung, Rechtfertigung) eine nachrangige Aufgabe. Sie ist das, was "übrig bleibt", wenn die eigentliche Arbeit getan ist.

Mir leuchtet nach wie vor nicht ein, dass die Autoren die V. auf den Akt der Verfassungsgebung beschränkt sehen. Ist dieser Akt erledigt, hat sich auch die Volkssouveränität erledigt. Sie hat dann keine Realität mehr, sondern ist nur etwas, auf das man hinweisen kann, um die bestehenden Strukturen zu legitimieren.

Ich sehe das eigentlich genau umgekehrt. Volkssouveränität ist nicht auf einen einzelnen, historischen Akt beschränkt - die Verabschiedung der Verfassung -, sondern sie besteht primär im dauerhaften demokratischen Leben eines Staatsvolkes, also in der freien politischen Willensbildung und Mitwirkung der Bürger. Der Akt der Verfassungsgebung ist demgegenüber nachrangig, zumal sich ja die Verfassung jederzeit wieder - auf demokratischem Wege - ändern lässt.

Ich würde darum auch Demokratie nicht als "Strukturprinzip" der V. - als bloßem "Legitimationsprinzip" - gegenüberstellen. Nach meinem Verständnis verwirklicht sich die V. im demokratischen Alltagsleben des Staatsvolkes.

Mir scheint, die Autoren des Artikels lassen sich von einem missverstandenen Kontraktualismus leiten, für den ja die Gegenüberstellung von "Naturzustand" und Rechtszustand charakteristisch ist. Im "Naturzustand" sind alle Menschen frei und souverän. Und in ihrer vorstaatlichen Souveränität schließen sie einen Gesellschaftsvertrag ab, der zur Gründungsurkunde des Staates wird. Bei Hobbes legen allerdings die Vertragspartner ihre natürliche Souveränität ab und übertragen sie dem Staat.

Dieses - aus verschiedenen Gründen irreführende - Bild spukt auch noch im Artikel herum. Nämlich in der Unterscheidung zwischen "konstituierender" Gewalt und "konstituierter" Gewalt, wobei die V. eindeutig mit der ersteren identifiziert und allein im Akt der Verfassungsgebung ausgeübt wird.

So weit erst mal.




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Mai 2019, 19:39

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Ist das nicht die Verfassung, die wir uns damals gegeben haben? Sie gilt bis heute. Dass der Akt der Verfassungsgebung irgendwann beendet ist, heißt doch nicht dass die Verfassung zu Ende ist. Diese Regeln sind in Geltung, jetzt in diesem Moment. Morgen ebenso und ich hoffe übermorgen auch noch.




szimmer
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Mo 20. Mai 2019, 20:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Mai 2019, 15:58
szimmer hat geschrieben :
So 19. Mai 2019, 21:18
Ich erschaudere immer wenn behauptet wird wir seien alle Bürger.
Brauchst du nicht :-) Hier gibt es bei der Bundeszentrale einen kleinen Artikel dazu > http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/d ... buerger-in
Brauchen? Danke. Ich möchte jetzt hier keine politische Diskussion kurz vor der Europawahl incl. Europäische Volksparteien incl oder plus bürgerlichem Lager lostreten. Aber das ist das was ich vorrangig im alltäglichen Leben mit angeblichen Bürgern zu tun habe. Da bleibt für mich dann doch das Erschaudern stärker als die Erkenntnis Deines Links 😉



P.S. Wer den Fehler findet darf ihn behalten ;)

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Jörn Budesheim
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Di 21. Mai 2019, 05:43

szimmer hat geschrieben :
Mo 20. Mai 2019, 20:23
Danke
Gerne!




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Jörn Budesheim
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 20. Mai 2019, 18:50
Nehmen wir die Stelle, die Friederike in ihrem letzten Beitrag zitiert hat:
Ist die Verfassungsgebung erfolgt, so hat das Prinzip der [Volkssouveränität] seine konstituierende Funktion erfüllt; übrig bleibt seine legitimierende Funktion, die sich vor allem auf die Praxis der demokratischen Prozesse im Rahmen des modernen Verfassungsstaates bezieht...
Das klingt doch so, als sei Legitimation (Begründung, Rechtfertigung) eine nachrangige Aufgabe. Sie ist das, was "übrig bleibt", wenn die eigentliche Arbeit getan ist.
Für mich klingt das eigentlich nicht so. Ich verstehe es ungefähr so. Der Souverän setzt sich selbst die Regeln. Das hat mehrere Aspekte, zwei davon sind: der Akt des Setztens selbst und die Legitimation der Regeln, die gesetzt wurden. Das etwas seltsam klingende "übrig bleibt" heißt ja doch nur, dass der Akt der Setzung irgendwann Geschichte ist. Aber es bleibt, dass dieser Akt vom Souverän selbst vollzogen wurde und dadurch legitimiert ist. In einem Akt der Selbstbestimmung - also Freiheit.

Ist das nicht (mit etwas Wohlwollen) bei jeglicher Handlung so? Man fällt eine Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt und was darauf folgt, ist dadurch rechtfertigt als meine eigenen autonome Setzung, als Ausdruck meiner Freiheit.

Als Bild könnte man sich vielleicht den Anstoß an der Billardkugel vorstellen. Die Ausführung des Billardstoß' mag in der Vergangenheit liegen, aber er prägt die gesamte Laufbahn und macht den Stoß zum Stoß einer bestimmten Person, auch wenn die Person ihre Finger die meiste Zeit nicht mehr mit im Spiel hat.




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Friederike
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Di 21. Mai 2019, 10:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Mai 2019, 06:06
Der Souverän setzt sich selbst die Regeln. Das hat mehrere Aspekte, zwei davon sind: der Akt des Setzens selbst und die Legitimation der Regeln, die gesetzt wurden. Das etwas seltsam klingende "übrig bleibt" heißt ja doch nur, dass der Akt der Setzung irgendwann Geschichte ist. Aber es bleibt, dass dieser Akt vom Souverän selbst vollzogen wurde und dadurch legitimiert ist. In einem Akt der Selbstbestimmung - also Freiheit.
@Jörn, die folgende Passage könnte mit Deiner Erklärung übereinstimmen. Ja oder nein? :lol: Ich versuche nur gerade, Pflöcke zu schlagen, die fest sind.
Artikel hat geschrieben : "Konstituierte Gewalten" in diesem Verständnis sind übrigens auch direktdemokratische oder plebiszitäre Elemente in demokratischen Verfassungssystemen; Einrichtungen wie Volksentscheide, Referenda, Volksabstimmungen etc. können entsprechend nur im Rahmen der vorgegebenen normativen Verfassungsordnung ausgeübt werden; insofern sind sie zwar Ausdruck des Prinzips der V. und durch sie legitimiert; nicht aber die V. selbst.
Denn ansonsten schwimme ich auch heute immer noch. Ich komme mit der Unterscheidung in "Volkssouveränitätsprinzip" und "Legitimationsprinzip", überhaupt mit dem Begriff "Prinzip" im Artikel nicht klar. Was unterscheidet die Legitimation und die Volkssouveränität von dem Prinzip der V. und dem Prinzip der Legitimation? In welcher Beziehung steht der Begriff "Prinzip" zu dem der "konstituierenden Gewalt"?




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Jörn Budesheim
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Di 21. Mai 2019, 10:13

ja




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Di 21. Mai 2019, 10:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Mai 2019, 06:06
Ich verstehe es ungefähr so. Der Souverän setzt sich selbst die Regeln. Das hat mehrere Aspekte, zwei davon sind: der Akt des Setztens selbst und die Legitimation der Regeln, die gesetzt wurden. Das etwas seltsam klingende "übrig bleibt" heißt ja doch nur, dass der Akt der Setzung irgendwann Geschichte ist. Aber es bleibt, dass dieser Akt vom Souverän selbst vollzogen wurde und dadurch legitimiert ist. In einem Akt der Selbstbestimmung - also Freiheit.

Ist das nicht (mit etwas Wohlwollen) bei jeglicher Handlung so?
Handlungen werden streng genommen immer von Individuen/Subjekten vollzogen. Individuen können zwar in Vertretung für andere, für eine Institution oder ein Kollektiv ("im Namen des Volkes") handeln, aber eine solche Stellvertretung muss einigermaßen klar geregelt sein. Beim Kollektivsingular Souverän = Volk ist das allerdings problematisch. Und dieses Problem der Stellvertretung bzw. des stellvertretenden Entscheidens und Handelns ist letztlich DAS politische Kernproblem.

Wann in der Geschichte hat es eine Staatsgründung gegeben, bei der buchstäblich das Volk sich eine Verfassung gab? Gab's nicht. Und kann es auch nicht geben, aus einfachen logistischen Gründen. Es waren - wie im Frankreich der Revolution - allenfalls "Nationalversammlungen" oder ähnliche Gremien, die stellvertretend für "das Volk" die neue Verfassung formuliert haben. Und wir dürfen sicher sein, dass dabei "das Volk" in Wirklichkeit nicht kollektiv einer Meinung war.

Das Volk als einhellig handelnder, entscheidender, regelsetzender Akteur ist eine Fiktion. Es ist keine vollkommen sinnlose Fiktion. Nämlich dann nicht, wenn innerhalb eines Verfassungsstaates genau geregelt ist, wie das stellvertretende Handeln "im Namen des Volkes" funktioniert. Dann - aber nur dann - lässt sich nach einer Wahl mit Fug behaupten: "Das Volk hat entschieden" oder nach der Verabschiedung eines Gesetzes durch das Parlament': "das Volk hat sich ein neues Gesetz gegeben".

Allgemein gesagt: Es sind die Regeln der Repräsentation, durch die allein das Volk in seiner faktischen Diversität und Pluralität zu einem Kollektiv wird, das einhellig handeln kann.

Aber bei der Setzung einer neuen Verfassung existieren solche Regeln nicht. Sie sollen doch gerade erst gesetzt werden! Wir haben also kein Staatsvolk vor uns, in dessen Namen einzelne Individuen legitim handeln können, sondern einen "Haufen Volks" quasi im Naturzustand, wo noch nichts geregelt ist. Nach Hobbes und Rousseau soll ja das Volk gerade in diesem ungeregelten Naturzustand noch frei und souverän sein - aber das ist ein ideologischer Mythos.


Wir feiern gerade das 70jährige Bestehen des Grundgesetzes, also der freisten und am meisten demokratischen Verfassung, die es in Deutschland je gab. Wie es aussieht, wird diese Verfassung von den allermeisten Deutschen anerkannt. Ihre Regeln sind gültig und rechtskräftig, sie ordnen de facto das politische Leben unseres Landes.
Aber wenn wir die im Artikel angebotene Bedeutung von V. an diese Verfassung legen, dann müssen wir feststellen, dass sie bloß ein Provisorium ist, weil das deutsche Volk diese Verfassung weder in einem souveränen Akt gesetzt noch sie durch ein Referendum bestätigt hat.
Und das ist doch - offensichtlich - Unsinn. Weder ist das GG ein Provisorium noch bedarf es eines besonderen Aktes des souveränen Volkes, um ihm wirklich die Legitimation zu verleihen. Ein solcher Akt wäre bestenfalls "Symbolpolitik", es wäre eine pro-forma-Legitimation.

Darum komme ich auch zu dem Ergebnis, dass die Realität der V. nicht in irgendeinem vorstaatlichen Gründungsakt besteht, sondern im realen politischen Leben des Volkes - wenn es denn durch eine rechtsstaatliche, demokratische Verfassung geordnet ist. Auf welche Weise und durch welche Akteure die Verfassung in die Welt kam, ist dabei sekundär. Ich sehe es also mit der V. genau andersherum als die Autoren des Artikels, die den Akzent auf den Gründungsakt des Staates legen und sogar meinen, darin "erschöpfe" sich die V. Nach meinem Verständnis beginnt die Souveränität des Volkes erst, wo es von seiner Freiheit im täglichen Leben Gebrauch macht.




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Di 21. Mai 2019, 10:43

Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 21. Mai 2019, 10:19
sondern
Warum "sondern" und nicht "und"?




Hermeneuticus
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Di 21. Mai 2019, 10:48

Das habe ich doch ausführlich begründet. So etwas wie den (vorstaatlichen) Gründungsakt eines souveränen Volkes gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Das ist ein Mythos.




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Di 21. Mai 2019, 11:30

Auch dazu gibt es in dem Text einen Hinweis:

"An folgenden Merkmalen lassen sich Hinweise für die Wirklichkeit des Volkssouveränitäts-Prinzips gewinnen: Der zentrale Aspekt der Volkssouveränität ist offensichtlich ihre Funktion als "verfassungsgebende" oder "konstituierende Gewalt". Als pouvoir constituant fundiert die Volkssouveränität den verfassungsgebenden Prozess und geht insoweit der Verfassung und den durch sie im Rahmen der Gewaltenteilungssystematik "konstituierten" Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) zeitlich wie systematisch voraus und bildet so ihren eigentlichen Entstehungs- und Legitimationsgrund. Kaum je kann die Verfassungsgebung (-beratung und -beschluss) unmittelbar durch das (empirisch versammelte) Volk erfolgen; in der Regel wird der verfassunggebende Wille durch eine (demokratisch gewählte) Repräsentation des Volkes ausgeübt; nach dem Vorbild der Französischen Revolution gilt als bevorzugtes Modell eine aus demokratischen Wahlen hervorgegangene "Nationalversammlung". Typisch ist auch, dass eine solche Nationalversammlung, hat sie ihre Aufgabe der Verfassungsberatung und -beschließung erfüllt, sich entweder aufzulösen oder in ein normales gesetzgebendes Parlament zu verwandeln sucht und so von der "konstituierenden" zu einer "konstituierten Gewalt" neben anderen wird, die nun im Rahmen der Gewaltenteilungssystematik der Verfassung definierte Kompetenzen und Aufgaben wahrzunehmen hat. Ist die Verfassungsgebung erfolgt, so hat das Prinzip der Volkssouveränität seine konstituierende Funktion erfüllt; ..."

In der Regel wird der verfassunggebende Wille also durch eine Repräsentation des Volkes ausgeübt. Wenn man diese Möglichkeit der Repräsentation nicht anerkennt, muss man dann nicht repräsentative Demokratie überhaupt ablehnen?




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Di 21. Mai 2019, 11:45

Nein, im Gegenteil. Weil es gar nicht anders geht, bejaht man die repräsentative Demokratie emphatisch und hält nicht besonders viel von sog. "Volksentscheiden". :-)




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Di 21. Mai 2019, 12:02

Den von Dir, @Jörn, zitierten Abschnitt hatte ich auch gerade herausgesucht, um ihn hierher zu kopieren. Im Folgenden beziehe ich mich also auf das kursiv Gedruckte in Deinem Beitrag.

Einerseits heben die Autoren den "zentralen Aspekt der V." hervor, der "offensichtlich" darin besteht, daß V. als konstituierende Gewalt verstanden wird. Ich würde den Autoren insofern beispringen -gegen Deinen Einwand @Hermeneuticus- als sie immerhin dezent die Problematik des Gründungsaktes andeuten. Andererseits denke ich aber auch, daß sie die Problematik herunterspielen, indem sie "kaum je" schreiben. Es hat niemals dergleichen gegeben. Und wenn die "Urzustands"-Gründung ein Mythos ist, dann kommt es mir seltsam vor, eben diese zum zentralen Aspekt zu erklären.




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Di 21. Mai 2019, 12:15

Als "Quelle" ist unten im Artikel angegeben: "Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 7., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2013. Autor des Artikels: Theo Stammen". Das Lit. Verzeichnis dürfte also ebenfalls dem "Handwörterbuch" entnommen sein.

Nun fange ich an kritisch zu werden und frage, wie es zu dem "offensichtlich" im Artikel kommt.

An folgenden Merkmalen lassen sich Hinweise für die Wirklichkeit des Volkssouveränitäts-Prinzips gewinnen: Der zentrale Aspekt der Volkssouveränität ist offensichtlich ihre Funktion als "verfassungsgebende" oder "konstituierende Gewalt.

Deswegen, weil in den meisten Verfassungen steht, alle "Gewalt gehe vom Volke aus"?




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