Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Sa 1. Jun 2019, 06:08
Was das Individuum im Lichte des gemeinsamen Ziels und der gegenseitigen Verantwortung "vollzieht", ist nämlich nur ihr Anteil an der Handlung, der sich nicht mal grundsätzlich ohne weiteres klar abgrenzen lässt, was man am Beispiel des gemeinsamen Tragens eines schweren Gegenstandes sehen kann.
Die Abgrenzung wird sofort deutlich, wenn einer versagt oder sich zu Lasten der anderen ausruht. Damit die gemeinsame Handlung gelingt,, muss
jeder Einzelne sein Bestes geben. - Der Umstand, dass die gemeinsame Handlung scheitert, wenn ein Einzelner versagt, pfuscht oder betrügt, zeigt doch ganz klar, dass jeder Einzelne für sein Handeln verantwortlich bleibt. Er hat die ihm (und keinem anderen) zugeteilte Aufgabe zu erledigen. Etwas anderes
kann er auch gar nicht tun.
Doch ein Teil ist nicht das Ganze. Eine Einzelne kann keinen Paartanz vollziehen. (Einen Paartanz kann es aber natürlich nicht ohne Individuen geben, die im übrigen bereits dafür "angelegt" sind, im Team handeln zu können.
Die Kategorien Teil/Ganzes sind, glaube ich, zu grob für die Sache. Die Zusammenarbeit von eigenständigen Subjekten lässt sich damit nicht angemessen erfassen. "Teile" sind nämlich unselbständig; sie kommen durch Zer-Teilung eines (selbständigen) Ganzen zustande. Ein Team besteht aber aus lauter selbständigen Subjekten, die sich jederzeit dazu entschließen können, das Team zu verlassen - oder einfach "Nein!" zu sagen und entsprechend zu handeln.
Kooperieren-können ist sozusagen Teil unseres Bauplans - siehe dazu Tomasello zum Beispiel.)
Ungeschickte Metapher! Denn Menschen leben nicht, indem sie einen schon vor ihnen existierenden Plan erfüllen. Sie entwickeln ihren eigenen Kopf. Sie können sich jederzeit gegen die Gemeinschaft stellen, sie können "aussteigen" oder ihren eigenen Vorteil zu Lasten anderer suchen, sie können kriminell werden usw. Dieses Potential zum Anti-Sozialen gehört unweigerlich zu dem, was wir "menschliche Freiheit" nennen. Freiheit bedeutet immer auch: Schuldfähigkeit. Und unsere individuelle Freiheit manifestiert sich im Handeln.
Eine Einzelne kann zwar im Chor singen, aber keinen Chorgesang "vollziehen". Diese dauernden gegenseitigen Bezugnahmen, das von Den-Anderen-Getragen-Werden und vieles andere mehr... das lässt sich nicht in einem Einzelnen verorten, sondern es ist eine (körperlich geistig fundierte) Relation. Und eine Relation hat ihren Ort nicht in einem ihrer Glieder, auch wenn sie nichts ist ohne diese Glieder. Eine Hand alleine kann nicht klatschen, auch wenn das Klatschen ohne diese eine Hand nicht geben kann.
Ein Subjekt ist aber kein bloßes "Glied". Es kann
sich dazu entschließen, sich zum Teil, zum gehorsamen Glied oder funktionierenden Organ eines Ganzes
zu machen. Es kann sich z.B. zur Waffen-SS oder zur Fremdenlegion melden und seine Erfüllung im Gehorchen finden. Es kann seine individuelle Freiheit auf vielfache Weise für eine Sache oder ein Kollektiv aufopfern. Ja. Aber dieses Opfer ist seine persönliche Handlung und liegt in seiner persönlichen Verantwortung.
Ziel der Argumentation ist ja nicht, den Einzelnen loszuwerden und ihn sozusagen in einem Über-Subjekt aufzuheben, sondern zu zeigen, dass eine Gemeinschafts-Handlung, eine geteilte Intention sich nicht auf diverse Einzel-Handlungen und einzelne Intentionen reduzieren lässt. Geteilte Intentionalität ist ein primitives Phänomen, nicht weil die einzelnen Akteure eliminiert werden sollen, sondern weil es sich nicht begrifflich auf anderes reduzieren - sozusagen wegerklären - lässt.
Dann musst Du aber vorsichtiger mit Deinen Begriffen und Beschreibungen werden (Teil, Glied, Bauplan).
Es ist auch nicht mein Ziel, menschliche Gemeinschaft und gemeinschaftliches Handeln auf Individuen und Einzelhandlungen zu "reduzieren". So habe ich schon deutlich gesagt, dass Verantwortung und Handeln grundsätzlich soziale Phänomene sind. Es liegt sozusagen in der "Natur" von Verantwortung, dass sie eine soziale - nämlich dreistellige Relation ist. Wenn ich (selbständig, auf eigene Rechnung) handele, dann bin ich dafür immer
anderen Personen verantwortlich. Eine "Einzelhandlung" ist also - wohlverstanden - kein atomares Teilchen, das isoliert im Vakuum umher treibt. So wenig, wie ein menschliches Individuum von Natur aus eine Art Robinson wäre. Menschen sind ursprünglich und wesentlich soziale Wesen. Sie sind auf Gemeinschaft und Kooperation von Natur aus angewiesen. Auch - und gerade - wenn sie zu selbständigen, eigenverantwortlich handelnden Subjekten heranwachsen wollen. Sie erlangen ihre Selbständigkeit nur im Zusammenleben mit Selbständigen. ("Das Selbstbewusstsein ist nur im anderen Selbstbewusstsein", sagt Hegel.) Aber "Zusammenleben mit Selbständigen" erschöpft sich nicht in lauter Kooperation und harmonischer Gemeinschaft. Dazu gehört - Hegel hat es überdeutlich herausgearbeitet - auch immer der Konflikt, das Nein-Sagen, die "Losreißung von der Sustanz", die Schuldfähigkeit und - Tragik.