"S/Z" - Intransitivität

Theoretische und poetologische Aspekte der Literatur
Nauplios
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Do 30. Mai 2019, 20:14

Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Conception und
die man im geschlechtlichen Actus ausgiebt.

(Friedrich Nietzsche; "KSA" 13, 600)

Das libidinöse Verhältnis zur Kunst-Conception, verborgen in der Unauffälligkeit der Kraft, hat für die literarische Hermeneutik Roland Barthes herausgearbeitet. Was sich in der Lust am Text in systematischer Absicht kristallisiert, wird in Barthes Strukturanalyse von Sarrasine paradigmatisch exemplifiziert: die Anverwandlung des Körpers zum Text-Körper. Der Körper hat die Seiten gewechselt und kann zum Objekt einer Begierde werden, in deren Windschatten Descartes Leidenschaften der Seele fahren, immer mit den Risiken, die Amouröses auszeichnet. Der Leser ist gleichsam aus dem Inkognito des verborgenen Liebhabers herausgetreten und macht dem Text Avancen. Wie bei Liebeserklärungen üblich - man denke an das Sich-Erklären als veraltete Form der Liebessemantik - ist das Objekt zwar aufgefordert im Rahmen angemessener Reaktionszeiten, Position zu beziehen, doch haben Selbstauskünfte über jedwedes Verlangen auch immer den Status einer Diathese, die in den modernen Sprachen nahezu gänzlich aus der Mode gekommen ist: das Medium als Stimme zwischen Aktiv und Passiv. Beim Medium zieht sich das Subjekt durch sein Agieren in Mitleidenschaft. Es verbleibt immer innerhalb des Geschehens, setzt sich seiner eigenen Agenda aus. - Barthes hat die Frage aufgeworfen, ob schreiben ein intransitives Verb sei. Ergänzend wäre zu fragen nach dem objet ambigu des Text-Körpers. Im Eupalinos von Valery wirft Sokrates es zurück ins Meer. Antworten entschwinden seewärts, Fragen landeinwärts.




Nauplios
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Fr 31. Mai 2019, 01:22

Aufblickendes Lesen. Innehalten. Gedankenverloren. Abschweifen. Gleichsam tauchen in die geheimnisvolle Welt des Lesens mit der Notwendigkeit der Unterbrechung. "Was ist S/Z folglich? Bloß ein Text, jener Text, den wir in unserem Kopf schreiben, wenn wir aufblicken." (Roland Barthes; Das Rauschen der Sprache; S. 30)

Logik der Vernunft / Logik des Symbols. Das Symbol ist vielleicht dem verbunden, was Husserl in der frühen Phänomenologie die freie Variation nennt. Die Lektüre von Balzacs Sarrasine kooperiert bei Barthes dem Verweisungssinn, den der Text freiwillig hergibt. Sie ist assoziativ, aber nicht beliebig. Sie variiert frei, aber wird im Gebrauch ihrer Freiheit unterstützt durch die "abschweifende Energie des Textes" (Barthes). Lektüren destillieren einen Überschuss an Sinn; sie machen sie die Ambiguität des Textes zunutze, lassen sich von seiner Strömung treiben. Man blickt auf (taucht auf), um zu wissen, wo man ist. Man taucht ein, um zu wissen, wo man war. Das Lesen des Textes ist das Schreiben (s)eines Hypertextes. Es ist die "spielerische Wahrheit" (Barthes), welche dem Text jene Haltung verleiht, die ihn lebendig macht. Nachfahren Heideggers könnten sagen: Der Text textet.




Nauplios
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Fr 31. Mai 2019, 02:12

Das Begehren des Lesens. Es ist nicht überraschend, daß Prousts Recherche dafür eine Fundstelle bietet, einen geradezu intimen Einblick:

"Um meinen Tränen freien Lauf zu lassen, stieg ich im Haus unter das Dach, wo neben der Studierstube eine kleine Kammer lag, die nach Iriswurzel roch und außerdem von einem wilden Johannisbeerstrauch durchduftet wurde, der draußen zwischen den Mauersteinen wuchs und einen Blütenzweig durch das halboffene Fenster schob. An sich für alltäglicheren Gebrauch bestimmt, diente mir dieser Raum, von dem aus man bei Tag bis zum Turm von Roussainville-le-Pin blicken konnte, lange Zeit, zweifellos weil er der einzige war, in dem ich mich einschließen durfte, als Zuflucht für all meine Beschäftigungen, die unverletzliche Einsamkeit erforderten: Lesen und Träumen, Tränen und Lust." (Marcel Proust; Unterwegs zu Swann in: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, I, S. 20) -

Die Ingredienzien: Sich einschließen im welt-ausschließenden geschützten Bereich / das Zusammentreffen von Begehren mit seinem Objekt / das Aufblicken und Abschweifen beim Anblick des Turms von Roussainville-le-Pin / der Duft des wilden Johannisbeerstrauchs als die auslösende memoire involontaire. Die Alliterationsverschachtelung "Lesen und Träumen, Tränen und Lust" mag von Eva Rechel-Mertens unbeabsichtigt sein, die Anagnosis des Barthes´schen Lesens bestätigt: Lektüren haben ihre Bettgeschichten.




Nauplios
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Fr 31. Mai 2019, 02:21

Lesen im abgeschlossenen Bezirk als Arbeit am und im unabschließbaren Raum aller Interpretation. Barthes´ "ständige Blutung".

Der Tod des Autors - "Das Schreiben ist dieses Neutrum ... diese Schrägheit, die unser Subjekt ausrinnen ... läßt."




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Dia_Logos
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Fr 31. Mai 2019, 06:25

Kleine Lektüre-Unterstützung :)
Nauplios hat geschrieben :
Do 30. Mai 2019, 20:14
objet ambigu
objet ambigu (französisch) = mehrdeutiges Objekt
Hans Blumenberg, Sokrates und das objet ambigu hat geschrieben :
Paul Valéry und das ›objet ambigu‹

Hades. Ilissos, der Strom der Unterwelt, der Strom der Zeit, in dem alle Dinge ihre Substanz verlieren. Das ist die Szenerie, die Paul Valéry 1923 in seiner Schrift ›Eupalinos oder der Architekt‹ wählt für einen philosophischen Dialog über Architektur und Musik und die Hierarchie der Künste. Sokrates, mit Phaidros am Ufer des Ilissos wandelnd, erinnert sich im Gespräch an einen entscheidenden Moment seiner intellektuellen Biographie im vergangenen Diesseits. Als junger Mann, noch gänzlich allen Möglichkeiten des Lebens aufgeschlossen, findet er am Meeresstrand einen Gegenstand, »une chose blanche, hart, zart und leicht, poliert und von allerreinster Weiße. Sokrates hebt es auf, reinigt es von Sand, reibt es an seinem Mantel, und sogleich sind alle seine Gedanken durch die Einzigartigkeit dieser Form bestimmt. [...] es ist ein Gegenstand, der an nichts erinnert und dennoch nicht gestaltlos ist. […] Aber gerade, dass dieses objet ambigu ›nichts‹ ist und ›nichts‹ bedeutet, steigert seine Bedeutung ins Unabsehbare: es stellt alle Fragen und lässt sie alle offen.«
Nauplios hat geschrieben :
Do 30. Mai 2019, 20:14
Lust am Text
Nauplios hat geschrieben :
Fr 31. Mai 2019, 02:21
Der Tod des Autors
Nauplios hat geschrieben :
Do 30. Mai 2019, 20:14
Sarrasine
Spiegel online hat geschrieben : Honoré de Balzac, Sarrasine
https://gutenberg.spiegel.de/buch/sarrasine-4866/1
Nauplios hat geschrieben :
Do 30. Mai 2019, 20:14
Barthes hat die Frage aufgeworfen, ob schreiben ein intransitives Verb sei
Duden hat geschrieben : [transitive Verben sind] "Verben mit einem Akkusativobjekt, dass bei der Umwandlung ins Passiv zum Subjekt wird." [Beispiel: Roland schreibt einen Text. Der Text wird von Roland geschrieben.]




Nauplios
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Fr 31. Mai 2019, 15:04

"Das Werk ist der imaginäre Schweif des Textes," schreibt Barthes in Das Rauschen der Sprache. Im Bedeutungshorizont des Equestrischen zu suchen, dürfte im Fall dieses Schweifs in die Irre führen; gemeint ist wohl der Schweif des Kometen, zumal Barthes gleich zu Beginn von S/Z auf den gestirnten Himmel als Imagination für den Text schlechthin zu sprechen kommt. Werk und Hand / Text und Sprache - Werk als Leistung eines mit der Hand gesetzten Produkts, das hand-werk-liche Fähigkeiten voraussetzt - Sarassine immerhin ist Bildhauer und sieht in Zambinella den vollendeten weiblichen Körper, den er in Stein verewigen möchte - Text als Fließ-text mündet ins Fluide, Residenz des Wassergottes, in dessen Zuständigkeitsbereich auch die Aggregatzustände seines Elements fallen, mithin das Eis als Teil der Zusammensetung von Kometen, von denen die meisten sich in den kalten Bereichen des Sonnensystems, in Rufweite der Neptun-Bahn, bilden. Metaphorologisch ließe sich sagen: das Werk bleibt, auch dort, wo der Text verdampft.




Nauplios
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Fr 31. Mai 2019, 15:40

Eine Nachtseite der Bildhauerei: ihre Empfänglichkeit für Suggestionen diabolischer Provenienz wenn es um den perfekten weiblichen Körper geht. Günstig wirken sich dabei Enttäuschungen aller Art aus im vorhergehenden Umgang mit dem anderen Geschlecht. Pygmalion, angewidert vom mangelnden Schamgefühl der Propoetiden (ein mythologischer Eskortservice), schafft sich - und das auch noch ganz zufällig - eine Frau aus Elfenbein, in die er sich unter tätiger Mithilfe von Aphrodite verliebt und natürlich ist das Ergebnis ihrer Liebe ein Kind. - Was im Mythos noch ein Happy-End hatte mißlingt bei Pygmalion 2.0. Hoffmann´s Nathanael verliebt sich zwar auch im Sandmann, doch die Sache nimmt kein gutes Ende. Dem Realismus liegt die Opferrolle nicht, der Romantik ist sie Teil ihres natürlichen Lebensraums. Außerdem: Olimpia war aus Holz.




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Fr 31. Mai 2019, 16:46

Die Metapher des Textes unterhält eine Fernbeziehung zum Fließenden, das Liebäugeln mit dessen Obsessionen inbegriffen. Das Fluide hat für den Text jenes Auflöse- und Rekombinationspotential, das ihn in seiner Identität bedroht und dennoch seinem Wesen entspricht. Das Terrain, das er eröffnet, ist von Spaziergangsgröße mit der Option des Verlaufens, womöglich des Verfallens, was in allen erotischen Obsessionen der Fall ist. Bei Barthes liest sich das so:

"Der Leser des ˋTextes´ ließe sich mit einem unbeschäftigten Subjekt vergleichen (das in sich das gesamte Imaginäre entspannt hätte): Dieses einigermaßen leere Subjekt wandert (...) den Hang eines Tals entlang, in dessen Talgrund ein Wadi fließt (der Wadi ist hier, um eine gewisse Erotik zu belegen); was er wahrnimmt, ist vielfältig, irreduzibel, entstammt heterogenen, versetzten Substanzen und Ebenen ..." (Das Rauschen der Sprache; S. 68)




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Fr 31. Mai 2019, 20:07

"emotion poetique" - dieser Nachfahre von Novalis "Gemüterregungskunst", den Valery in der Rede über die Dichtkunst als Wirkung der Poesie auf die Seele geltend macht, hat das Spezielle darin, daß solcherart Erregung "von der Sprache der Götter" bestimmt ist. Das Rauschen der Sprache ist hier das Rauschhafte des Mythos, im besonderen des Dionysischen. - "Mythe ist der Name all dessen, was den Grund seines Daseins und seinen Fortbestand allein im Wort hat." (Paul Valery; Kleiner Brief über die Mythen, in Werke, I, 963f) Dichtung hat in der Wirklichkeit kein Äquivalent. Genauigkeit ist dabei das Antipodische des Mythos. An seinen Rändern franst der Mythos aus. Hans Blumenberg sprach vom narrativen Kern. Mythos ist immer tema con variazioni. "Was durch ein geringes Mehr an Genauigkeit zugrunde geht, ist eine Mythe." (Paul Valery; Werke IV, 252) -

"emotion poetique" - eine Arbeit am Mythos.




Nauplios
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Do 6. Jun 2019, 20:37

Wie liesse sich unter den Bedingungen der Moderne das denken, was zu denken in der griechischen Antike die Einheit der Unterscheidung mundan/extramundan stiftete, den Mythos? - Theogonie und Kosmogonie, Hesiod und Homer, umklammern das, was Husserl in der Krisis das naive Weltvertrauen nannte. Götter und Welt kommen (in einem ganz wörtlichen Sinne) zur Sprache. Das Griechische hält dafür mythos und logos bereit, logos mit der inhärenten Lizenz zum Diskurs. Der instrumentelle Charakter, den die Wissenschaft der Sprache zuschreibt und das "Poetische" der Literatur, das nach einer Formel von Jakobson die eigene Form zum Gegenstand nimmt, sind zwei Diskurstypen, in denen sich in der Moderne die Verständigung über die Welt ereignet. Man muß dabei den Begriff der Wissenschaft in einem universalen Sinne nehmen; Wissenschaft als eine Art Prototyp; speziell das "Mathematische" wird Husserl in der Krisis als beispielhaft setzen. Wissenschaft und Literatur, logos und mythos, Differenz und Identität, Ausdifferenzierung von Wissen und das literarische Integral von Wissen, episteme und doxa - es gibt eine Reihe von Unterscheidungen, mit denen sich Beobachtungen anstellen lassen.




Nauplios
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Fr 7. Jun 2019, 20:16

"Wenn kein Land mehr in Sicht ist, an Deck schreibend/lesend/denkend zu sitzen, den glucksenden Wellen, dem Wind in den Segeln und gelegentlich der knatternden Melodie der Mastwinde zu lauschen ... " (TsukiHana, https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... f=21&t=670)

"Ich sehe mich heute ein wenig wie den von Hegel beschriebenen Griechen der Antike: er lauschte, sagt er, leidenschaftlich und ohne Unterlaß auf das Rauschen der Blätter, der Quellen, der Winde, kurz auf das Säuseln der Natur, um darin die Umrisse einer Intelligenz auszumachen. Und ich lausche dem Säuseln des Sinns, wenn ich das Rauschen der Sprache vernehme - jener Sprache, die für mich, als modernen Menschen, meine Natur ist." (Roland Barthes; Das Rauschen der Sprache; S. 91) -

Das Lauschen auf die Geräusche des nautischen Geschehens, astra-akustisch gesteigert zum Lauschen auf die Geräusche des Weltraums, ist vielleicht die früheste Form der philosophischen Hör-Akustik, von Heidegger zum "eigentlich hörenden Anrufverstehen" raffiniert.

Das musikalische Wesen des Rauschens. -

Medium/Form (Fritz Heider)




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TsukiHana
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Fr 7. Jun 2019, 23:24

Ach, Nauplios… mir geht gerade das Herz auf. Herzlichen Dank für diese poetischen Worte, die ich natürlich sofort in den Thread "Von Menschen und Schiffen" kopieren muss/werde.

Roland Barthes, wieso bin ich da bisher noch nicht selbst drauf gekommen?
Wahrscheinlich deshalb, weil ich immer an Land bin?

Ich bin mir sicher, dass in Deinem Fundus noch viele See-Metaphern-Schätze schlummern. Fühle Dich hiermit eingeladen diese, Deine Schatztruhe gelegentlich zu öffnen.
Diese Bereicherung würde mich sehr freuen. :D



Wozu die Tage zählen!?
(Ф.М. Достоевский)

Nauplios
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Sa 8. Jun 2019, 17:53

Hallo TsukiHana,

Zunächst gute Reise und glückliche Heimkehr!

Ja, Roland Barthes wird oft als Theoretiker der Semiotik, als Literaturwissenschaftler und Vertreter des Strukturalismus klassifiziert, weniger als Philosoph. Das mag daran liegen, daß Barthes seine Beobachtungen nicht vom Krähennest aus anstellt, sondern - wie Du - "schreibend/lesend/denkend an Deck" sitzt.

"Die meisten Schiffe der Legende oder der Fiktion sind [...] Thema einer geliebten Einschließung, denn es genügt, das Schiff als Wohnstätte des Menschen aufzuweisen, damit der Mensch es sogleich als rundes glattes Universum genießt, in dem er im übrigen durch eine ganze Seefahrermoral zugleich zum Gott, Herrn und Besitzer wird [...]." (Roland Barthes; Nautilus und Trunkenes Schiff, in: Mythen des Alltags; S. 41)

Rimbauds Bateau ivre ist sogar in der Lage, "ich" zu sagen: Comme je descendais des Fleuves impassibles (Wie ich hinabglitt auf unbewegten Flüssen)

(Über Seefahrt als "Grenzverletzung" könnte man im Rahmen eines Blumenberg-Threads noch sprechen.)




Nauplios
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Do 20. Jun 2019, 02:03

An unvermuteter Stelle findet sich ein metaphorisches Juwel, welches die gewagte Seefahrt als Sinnbild und Inbegriff des Philosophierens faßt:

"Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset und jeden Theil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann."

Kant hat sich beim Übergang von der transzendentalen Analytik zur transzendentalen Dialektik (Kritik der reinen Vernunft; B 294f) für eine Form der Veranschaulichung entschieden, bei der die Grenzüberschreitung dem Naturell und Wagemut des seefahrenden Philosophen zugeschrieben wird gleichsam dazu verurteilt ist, sich den Gefahren des Scheins auszusetzen, sich nicht mit der Kartographie seiner Insel begnügt. Um Abstand zu gewinnen, gibt er seinem "Schwärmen" nach, wird "in Abenteuer verflechtet", die er nicht ausschlagen kann. - Der Mensch ist immer über sich hinaus. Er sieht mehr als für seine Daseinssorge notwendig wäre. Nautik und Kosmonautik, "stürmische Oceane" und unendliche Weiten stehen paradigmatisch für dieses Über-sich-hinaus. Seine Passion ist geradezu die Vakanz einer festen Stellung in der Natur. So ist die Fortbewegungsart des Philosophierens vor allem eins: schwankend.




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Do 20. Jun 2019, 02:42

An die Frage der Grenzziehung im Fall von Territorien ließe sich die der Grenze zwischen Meer und Land im Hinblick auf die Existenzweisen des Menschen anschließen: wie läßt sich leben auf künstlichem Grund, der auf einem grundlosen Element schwimmt? - Nimmt man die Metapher des Grundes beim Wort, hat man die philosophische Situation auf den Punkt gebracht. Aus Mangel an Beweisen wird die philosophische Seefahrt freigesprochen. Der Rest ist Seemannsgarn.




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Do 20. Jun 2019, 03:45

Das Meer ist ein "Spiegel, in dem die Sterne sich sehen", schreibt Cees Nooteboom im letzten seiner Briefe an Poseidon (S. 165). Siderische Kontemplation im Spiegel der nächtlichen Meeresoberfläche erinnert an Valery´s Narcisse parle, Mythos in der Abenddämmerung.




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Jörn Budesheim
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Do 20. Jun 2019, 05:46

Dafür muss man sich nicht schämen, dafür braucht es keine Entschuldigung und man muss auch nicht mit verstellter Stimme sprechen, man kann es einfach sagen, wenn man kann:

"Wenn ich am Meer stehe, höre ich dich in deinen tausend Stimmen. Manchmal schreist du, stürmisches Gelächter, das alle Fragen verhöhnt, in anderen Nächten bist du totenstill, ein Spiegel, in dem die Sterne sich sehen. Dann denke ich, dass du mir etwas sagen willst, aber das tust du nie. Natürlich weiß ich, dass ich Briefe an niemanden geschrieben habe. Doch was ist, wenn ich morgen auf dem Felsen einen Dreizack finde?"

(Cees Noteboom, "Briefe an Poseidon: Essays")




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TsukiHana
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Do 20. Jun 2019, 10:32

Ausgerechnet in unserer winzigen Bordbibliothek (bestehend aus zwei Regalbrettern, auf denen die Bücher in doppelten Reihen stehen) fand ich ein sehr interessantes Buch, welches ich mir heute beim Buchhändler meines Vertrauens abholen werde:

Philosophie des Meeres von Gunter Scholtz, erschienen im Mare-Verlag
https://www.mare.de/philosophie-des-meeres-8249

Aus der Beschreibung:

Seit über zweieinhalbtausend Jahren hat das Meer die Philosophie beschäftigt: Schon Thales, der erste Philosoph der griechischen Antike, betrachtete das Wasser als Quell allen Seins; Kant glaubte, die Ozeane würden nach und nach die Rotation der Erde ausbremsen und darum unweigerlich den Weltuntergang herbeiführen; Edmund Burke wählte den Anblick des Meeres, um den Begriff des Erhabenen zu definieren, und Hegel wiederum warnte seine Studenten, der Akt des Philosophierens selbst ähnele dem Sprung in einen uferlosen Ozean.
Nicht uferlos, aber tiefgründig und einmalig ist die 'Philosophie des Meeres': Indem sie uns das Meer aus den Blickwinkeln bedeutender Denker und verschiedener philosophischer Disziplinen betrachten lässt, bietet sie zugleich einen perfekten und verständlichen Einstieg in die Philosophie generell – von der Antike bis zur Moderne. Denn wer der Mensch ist, das hat sich seit jeher an seinem Verhältnis zum Meer gezeigt.

„Das Leben kommt aus dem Meer. Zu zeigen, dass dies auch für das Denken gilt, ist das Verdienst dieses klugen Buches.“ Gert Scobel

Die erste, spontane Lektüre dieses Buches hat mich sofort begeistert.



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Nauplios
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Fr 28. Jun 2019, 14:05

Das Uferlose, Unbegrenzte, apeiron des Anaximander, hat sich immer als metaphorische Möglichkeit angeboten, das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen zu kontrastieren. Seine Verschärfung ist der unendliche Kosmos, metaphorisch verdoppelt in der Figur des Kosmo- bzw. Astro-nauten, ein nautes, Seefahrer in unendlichen Weiten. Die Konstellation (hier liegt das Zusammentreffen von Sternen bereits etymologisch vor) von Selbst und Welt in der Moderne ist ja eine mittelbare Folge der theologischen Astronomie des Mittelalters und ihrer Suspendierung durch den neuzeitlichen Verfall der Himmelsordnung. "Temporale Nostrozentrik" nennt Hans Blumenberg in der Genesis der kopernikanischen Welt die Vorstellung, Kopernikus´ Entdeckung sei an keinen Möglichkeitssinn gebunden und habe zu jeder Zeit stattfinden können. Doch ist für das Selbstverständnis des Menschen nicht entscheidend, daß es Kopernikus gegeben hat, sondern die "Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus". Nicht das augenfällige Ergebnis des heliozentrischen Weltbildes hat den Anstoß für die Genesis der kopernikanischen Welt gegeben, sondern "die Frage nach ihrem Rhizom" (S. 159) führt auf die Spur der Möglichkeit eines Kopernikus. Deleuze/Guattari haben dann später ihr Konzept einer philosophischen Rhizomatik, eines semantischen Wurzelnetzwerks entwickelt.

Weiterführung: Genette und der Mann, der "nie dort ist, wo man hinblickt": Proust als das versteckte Objekt ... analog Poe´s Schachspieler in Mälzels Chess Player ...




Nauplios
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Fr 28. Jun 2019, 19:35

"Ich arbeitete beharrlich weiter. Ich wollte sehen, ob es dieser wilden Macht gelingen würde, einen freien Geist zu hemmen und zu unterjochen. Ich hielt mein Denken in Bewegung, damit es Herr seiner selbst bliebe. Beim Schreiben beobachtete ich mich. Auf die Dauer erst beeinträchtigten die Ermüdung und der Schlafverlust in mir eine Kraft, die wohl die anfälligste Fähigkeit des Schriftstellers ist: das Gespür für den Rhythmus. " (Jules Michelet; Das Meer; S. 71) -

Die Beschreibung des Sturms vom Oktober 1859 ohne seiner ansichtig zu werden.




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