Wahrheit und Politik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Stefanie
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Sa 8. Jun 2019, 22:42

Hannah Arendt:
Der Gegenstand dieser Überlegungen ist ein Gemeinplatz. Niemand hat je bezweifelt, daß es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. Was bedeutet er für das Wesen und die Würde des politischen Bereichs einerseits, was für das Wesen und die Würde von Wahrheit und Wahrhaftigkeit andererseits? Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen? Welche Art Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in der uns gemeinsamen öffentlichen Welt als ohnmächtig erweist, also in einem Bereich, der mehr als jeder andere den gebürtlichen und sterblichen Menschen Wirklichkeit garantiert, weil er ihnen verbürgt, daß es eine Welt gab, bevor sie kamen, und geben wird, wenn sie wieder aus ihr verschwunden sind? Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann? Dies sind unbequeme Fragen, aber sie ergeben sich notwendig aus unseren landläufigen Meinungen in dieser Sache.
Aus:
Arendt: Wahrheit und Politik Einleitung
12_Wahrheit_u_Politik.pdf
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Der Text ist aus dem Jahr 1963 (deutsche Version) und liest sich immer noch aktuell. Auch die Fragen sind immer noch aktuell.
Scheinbar hat sich nicht viel geändert.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Friederike
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So 9. Jun 2019, 18:01

Welche Art Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in der uns gemeinsamen öffentlichen Welt als ohnmächtig erweist, also in einem Bereich, der mehr als jeder andere den gebürtlichen und sterblichen Menschen Wirklichkeit garantiert, weil er ihnen verbürgt, daß es eine Welt gab, bevor sie kamen, und geben wird, wenn sie wieder aus ihr verschwunden sind?

Weil das wohl immer so war, auch wenn das, was "Öffentlichkeit" meint, sich entwickelt und verändert, deswegen muß man Exil im Metaphysischen suchen oder in die Literatur ausbüchsen.




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Stefanie
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So 9. Jun 2019, 22:46

Mir ist leider nicht ganz klar, was Du meinst. Weil das immer so war muss man sich damit abfinden, dass im Politischen die Wahrheit nie was zählen wird?



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Jörn Budesheim
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Di 11. Jun 2019, 13:13

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Hat sich nichts geändert seit Hannah Arendt das schrieb?




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Stefanie
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Di 11. Jun 2019, 21:32

Meiner Meinung hat sich in der Verhaltensweisen und Handlungen nicht viel geändert.
Ich halte die Situation nicht für hoffnungslos. Arendt selber zeigt auch auf, wo die Grenzen der Lügen in der Politik liegen. Die Wahrheit selber setzt die Grenzen.

"Arendt schreibt:
Schließlich müssen wir fragen — und dies ist sicher die beunruhigendste Frage: Wenn die modernen Lügen sich nicht mit Einzelheiten zufriedengeben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachenerscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten, was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem vollgültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden?
(...)
Unter den gegenwärtigen Verhältnissen globalen Verkehrs und weltumspannender Kommunikation ist keine Macht auch nur annähernd groß genug, um diese Propaganda-Fiktionen hermetisch abzusichern. Daher ist die Lebensdauer dieser Fiktionen relativ kurz bemessen; sie pflegen nicht erst aufzufliegen, wenn die Dinge ernst werden und die Wirklichkeit den bösen Spielen der Propaganda ein Ende setzt.(...)
Da alles, was geschieht, auch anders hätte kommen können, sind die Möglichkeiten, die dem Lügen offenstehen, unbegrenzt, und an dieser Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten geht das konsequente Lügen zugrunde. (...)
Denn das klarste Zeichen der Faktizität eines Faktums ist eben dies hartnäckige Da[-Sein], das letztlich unerklärbar und unabweisbar alle menschliche Wirklichkeit kennzeichnet. (...)
An Hartnäckigkeit sind Tatsachen allen Machtkombinationen überlegen. Auf Macht ist kein Verlaß; sie entsteht, wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammentun und organisieren, und verschwindet, wenn dies Ziel erreicht oder verloren ist. Um dieser ihr innewohnenden Unzuverlässigkeit willen kann Macht weder der Wahrheit und der Wirklichkeit noch der Unwahrheit und jeweils erwünschten Fiktionen eine sichere Stätte bieten. (...) Zwar ist Wahrheit ohnmächtig und wird in unmittelbarem Zusammen-prall mit den bestehenden Mächten und Interessen immer den kürzeren ziehen, aber sie hat eine Kraft eigener Art: Es gibt nichts, was sie ersetzen könnte. Überredungskünste oder auch Gewalt können Wahrheit vernichten, aber sie können nichts an ihre Stelle setzen. Und dies gilt für religiöse und Vernunftwahrheiten genauso wie, vielleicht offensichtlicher, für Tatsa-
chenwahrheiten."

Ich finde, die Geschichte hat gezeigt und wird zeigen, dass sich die Lügner nicht durchsetzen werden.

Hier ein Beitrag, der den Text von Arendt auf das heute bezieht, ab Seite 4, wer nicht alles lesen mag.
https://www.radio39.de/read/item/wahrhe ... ml#Seite-4



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Jörn Budesheim
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Fr 14. Jun 2019, 21:56

Süddeutsche Zeitung: Weißes Haus - Eine Meisterin der Fake News tritt ab. https://www.sueddeutsche.de/politik/usa ... -1.4486291




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Stefanie
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So 16. Jun 2019, 16:20

Einen anderen, weiteren Aspekt, warum Lügen in der Politik schädlich für eine Demokratie sind, ist der Vertrauensverlust.
Interessant finde ich dem Zusammenhang englischen Begriff für Repräsentanten: trustees, also Vertrauenspersonen. Schwindet durch lügen die Glaubwürdigkeit der Politik, nimmt auch das Vertrauen der Menschen in das demokratische System ab. Das kann auch dazu führen, dass dann sich viele Menschen zurückziehen, in dem sie sich z.B. an Wahlen nicht mehr beteiligen.


Es gibt auch philosophische Ansichten, die halten lügen in der Politik durchaus für notwendig.
Machiavelli führte aus:
"Du mußt das so verstehen, daß ein Fürst, und besonders in neubegründeter Herrschaft, nicht alles das tun kann, was die Menschen für gut halten, sondern häufig zur Erhaltung des Staates gegen Treue, Milde, Menschlichkeit und Religion verstoßen muß."
Ein paar Sätze aus "Der Fürst":
Wie löblich es ist, wenn ein Fürst sein Wort hält und rechtschaffen und ohne List verfährt, weiß jeder.Trotzdem zeigt die Erfahrung unserer Tage, daß dieFürsten, die sich aus Treu und Glauben wenig gemacht und die Gemüter der Menschen mit List zu betören verstanden haben, Großes geleistet und schließlich diejenigen, welche redlich handelten, überragt haben.(...)
Ein kluger Herrscher kann und soll daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereicht und die Gründe, aus denen
er es gab, hinfällig geworden sind. Wären alle Menschen gut, so wäre dieser Rat nichts wert; da sie aber nicht viel taugen und ihr Wort gegen dich brechen, so brauchst du es ihnen auch nicht zu halten. Auch wird es einem Fürsten nie an guten Gründen
fehlen, um seinen Wortbruch zu beschönigen.(...) Freilich ist es nötig, daß man diese Natur gechickt zu verhehlen versteht und in der Verstellung und Falschheit ein Meister ist. Denn die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, daß der, welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen."

Machiavelli nannte entsprechendes Handeln des Fürsten ausdrücklich Verbrechen oder "Böses", und als Unrecht. Ein Herrscher muss allerdings einen höheren Zweck verfolgen: die Staatsräson, den Zusammenhalt des Staates und die Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung.

Man könnte meinen, Trump hätte Machiavelli gelesen. Allerdings finde ich, hat Machiavelli nicht ganz Recht. Das Unrecht des Lügens bewirkt eher die Spaltung der Gesellschaft, der Zusammenhalt im Staat schwindet, und die gesellschaftliche Ordnung ist in Unordnung.



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