Alt werden

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Jörn Budesheim
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Mo 10. Jun 2019, 11:28

Mit dieser Fragestellung hängt vielleicht auch das gängige Muster "älterer Mann jüngere Frau" bei Paaren zusammen?! Was doch zeigt, dass "alt sein" für Männer und Frauen anders bewertet wird, oder?




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Stefanie
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Mo 10. Jun 2019, 13:58

Alt sein wird bei Frauen und Männern unterschiedlich bewertet. Die Situation alte Frau und jüngerer Mann ist immer noch ein no go.

Aus den verlinkten Artikel:
In modernen Wohlfahrtsgesellschaften zeigt sich ein starker Trend zur Chronologisierung von Lebensläufen, wodurch Personen unabhängig von ihren individuellen Erfahrungen und Wünschen kalendarishc festgelegten Normen und Zwängen unterworfen werden.
Unter dem psychologischen Alter wird die subjektive Selbsteinschätzung im Sinne von „man ist so alt wie man sich fühlt“ verstanden. Es geht dabei um das Verhältnis einer Person zu sich selbst. Dieses Verhältnis ist schwierig zu operationalisieren, deshalb bleibt der Begriff des psychologischen Alters unscharf. Gerade im Zusammenhang mit der Frage des Wohnens könnte er aber eine gewisse Bedeutung haben, da der Entschluss, eine Wohnsituation zu verändern, mit der Einstellung zum eigenen Alter zusammenhängt. Man möchte sich nicht mit diesen Fragen beschäftigen, weil man sich nicht alt fühlt. Ein Umzug in ein Heim beispielsweise wird als Zugeständnis, „alt zu sein“ verstanden.
Auch der soziologische Altersbegriff, d.h. der gesellschaftliche Status, den man dem Alter beimisst, hat eseinen Einfluss auf die individuellen Entscheide hinsichtlich des Wohnens. Der Status des alters ist zurzeit in unseren westlichen Gesellschaften nicht besonders hoch: alle möchten alt werden, niemand möchte alt sein. Dies hängt sicherlich auch mit der wachsenden Anzahl und dem wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung zusammen, der zum abwertenden Ausdruck „Überalterung“ geführt hat, also insinuiert, dass es von den Alten sowieso schon zu viele gibt. Demzufolge haben Einrichtungen für alte Menschen einen negativen Beigeschmack; man möchte am liebsten damit (noch) nichts zu tun haben.
Über diese Aussagen, ich könnte alles fett markieren, ärgere ich mich. Anstatt Vorurteilen entgegenzuwirken, werden sie noch manifestiert.
Es ist nicht so, dass man sich nicht mit dem Thema Wohnen im Alter, insbesondere mit "Heimen" beschäftigen will, weil man nicht akzeptiert, dass man ist alt. Sondern die Angst, im Alter seine Unabhängigkeit, seine Freiheit zu verlieren. Erst hat sich der Mensch im Laufe der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen entwickelt, trifft eigene Entscheidungen, kann weitgehend so leben, wie man es möchte, um dann im Alter zu erleben, dass einem dies wieder genommen wird, wenn man alt wird und auch noch Unterstützung braucht. Selbstbestimmtes Leben ist nur noch im begrenzten Umfang möglich, bei den Wohnformen, die es derzeit gibt. Das ist mangelnde Wertschätzung der Gesellschaft. Im Alter hat man so zu sein, wie es erwartet wird, Individualität und Selbstbestimmung ist Nebensache. Die subjektive Selbsteinschätzung zählt nicht.

Der Satz man ist so alt wie man sich fühlt ist auch und vor allem eine Abgrenzung, ein Protest gegen die Schubladen, gegen die drohende Fremdbestimmung.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Stefanie
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Mo 10. Jun 2019, 14:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Jun 2019, 07:17
Stefanie hat geschrieben :
So 9. Jun 2019, 21:37
Es wird sich nicht dafür entschuldigt, dass man ein bestimmtes älteres Alter hat. Es wird u.a. festgestellt, dass man in dem Alter, in dem man ist, noch so einiges kann, körperlich und geistig, was die heutige Gesellschaft von jemanden, der alt ist, nicht erwartet. Warum soll jemand mit 80 zig Jahren, nicht das machen oder denken, was 50 zig jährige machen oder denken, oder 30 jährige?
Genau das ist das, was ich mit "entschuldigen" meine: "Ich bin zwar schon 80, aber..." "Warum soll man mit 80 nicht...?"

Indem man "das Abweichen" von der Erwartung überhaupt einer Bemerkung für Wert hält, unterstützt man die Erwartung im Grunde - denn man ist ja die Ausnahme von der Regel. Das ist so, als wenn man sagen würde, "ich bin zwar ein Mädchen, aber ich bin trotzdem gut in Mathe."
Meiner Meinung nach gibt es keine Regel. Es darf keine Regel geben. Alte Menschen sind keine Kinder, denen man erzieherische Regeln zum Leben im Alter vorzugeben hat. Wenn schon Regeln, dann sollten die Ausnahmen die Regel sein.
Es ist keine Entschuldigung, es ist eine Feststellung.



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Jörn Budesheim
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Mo 10. Jun 2019, 14:49

Wenn es keine Regeln gibt /geben soll, dann kann es auch keine Ausnahmen geben: "Ausnahmen bestätigen die Regel".




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Jörn Budesheim
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Mo 10. Jun 2019, 15:24

Man könnte mit dem Problem vielleicht vorwärts kommen, wenn man vertieft über die diversen Dimension des Alters reden würde... Das kalendarische Alter ist eben nur eine der diversen Dimension. Es hat keinen Sinn das kalendarischer Alter zu leugnen oder zu relativieren - es ist halt einfach das, was es ist.

Man muß an die Wurzel des Problems. Und das zeigt sich in Formulierungen wie "Überalterung der Gesellschaft", die ja nicht gerade eine Wertschätzung des (kalendarischen) Alters zum Ausdruck bringt, wie es bei der Rede von den "gewonnenen Jahren" durchaus ist.




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Mo 10. Jun 2019, 19:04

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Hier ein Interview mit Otfried Höffe zu dem Buch, was ich zuvor erwähnt habe > https://www.deutschlandfunkkultur.de/ph ... _id=427553




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Stefanie
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Mo 10. Jun 2019, 20:24

Das Interview las ich vor ein paar Tagen schon mal, so richtig warm werde ich mit dem Gesagten nicht, obwohl er an ein zwei Stellen auch von innen heraus jung bleiben spricht. Vielleicht will ich kein Vorbild sein, und nicht meine Lebensleistung danach bewerten zu lassen, was man im Alter noch leistet.
Keine Ahnung.



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Stefanie
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Mi 12. Jun 2019, 20:33

Wurde das näher ausgeführt, was genau damit gemeint ist?

Beruht der Satz mit dem aus dem Gefängnis des Gewesenseins zu befreien nicht auch auf einem Vorurteil des Alters? Es bedeutet doch wohl, dass der Mensch, weil er alt ist, damit gewesen ist, und deshalb nicht existiert. Oder?



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Do 13. Jun 2019, 05:25

Nein, das wurde leider nicht näher ausgeführt, ich kenne nur diesen Schnipsel. Online findet man, dass es um die literarische Darstellung von Anmut und Weisheit im Alter von Judith Neschma Klein geht. Genaueres dazu habe ich aber nicht gefunden.

Deiner negativen Sicht dieses Textfragments kann ich mich nicht anschließen. Die Autorin spricht von einer befreienden Wirkung der poetischen Wahrnehmung - das kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch nach meiner Einschätzung haben die Dinge nicht ohne weiteres ein "So-Sein", denn sie können uns auf viele, viele verschiedene Arten gegeben sein. Die poetische Wahrnehmung kann uns neue Arten des Gegebenseins aufschließen und uns so von einseitigen Sichtweisen befreien.

Das war meine spontane Sicht auf dieses kleine Textfragment, ob diese Interpretation der Intention der Autorin entspricht, kann ich natürlich nicht sicher sagen.




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Stefanie
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Do 13. Jun 2019, 20:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 13. Jun 2019, 05:25
Deiner negativen Sicht dieses Textfragments kann ich mich nicht anschließen. Die Autorin spricht von einer befreienden Wirkung der poetischen Wahrnehmung - das kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch nach meiner Einschätzung haben die Dinge nicht ohne weiteres ein "So-Sein", denn sie können uns auf viele, viele verschiedene Arten gegeben sein. Die poetische Wahrnehmung kann uns neue Arten des Gegebenseins aufschließen und uns so von einseitigen Sichtweisen befreien.
So geschrieben ist das nicht negativ.
Aber sie schreibt auch:
Es sind Fähigkeiten, die alte Menschen aus dem Gefängnis des Gewesenseins und dem unveränderlichen so und so seins befreien konnen.
Wie kommt sie darauf, dass dies bei alten Menschen so ist, dass sie in einem Gefängnis leben? Das ist doch keine Frage des Alters, das mit dem Gefängnis und der poetischen Wahrnehmung.
Dieser Satz ist schon eine negative Sicht auf das Alter, und es ist pauschal auf alle alte Menschen bezogen. Offensichtlich leben nur diese in diesem Gefängnis, weil sie alt sind.



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Stefanie hat geschrieben :
Do 13. Jun 2019, 20:25
Wie kommt sie darauf, dass dies bei alten Menschen so ist, dass sie in einem Gefängnis leben?
Da schreibt sie ja gar nicht.




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Stefanie
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Do 13. Jun 2019, 20:55

Doch.
Es sind Fähigkeiten, die alte Menschen aus dem Gefängnis des Gewesenseins und dem unveränderlichen so und so seins befreien können.
Um sie befreien zu können, müssen sie wohl erstmal drin sein.



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Meines Erachtens steht das nicht da. Ich passe.




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Do 13. Jun 2019, 21:22

Ähm, den Satz habe ich abgetippt.
Die Anmut und die poetische Wahrnehmung als genuine Fähigkeiten im Alter kann alte Menschen daraus befreien, und das wiederum soll zu mehr Anerkennung führen, wenn man erkennt, dass diese Fähigkeiten vorhanden sind.
Da steht nicht, dass alte Menschen andere befreien, durch diese Fähigkeiten, sondern sich selber.



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Do 13. Jun 2019, 21:38

Du möchtest es gerne negativ interpretieren, bitte das ist dein gutes Recht. Ich habe oben einen anderen Vorschlag dazu gemacht, der akzeptiert, dass es in dem Text und Anmut, Weisheit und poetische Wahrnehmung geht - mehr möchte ich dazu nicht sagen. Dafür ist der Textausschnitt auch zu kurz.




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So 16. Jun 2019, 19:22

Ein Text aus der FAZ. Cicero hat sich sehr ausführlich mit dem Thema beschäftigt, und war unsere Zeit ziemlich weit voraus.
Auch Ernst Bloch hat sich so seine Gedanken gemacht.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ ... ageIndex_0



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Jörn Budesheim
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Di 24. Dez 2019, 08:33

"Warum sagen wir: die Zeit vergeht und nicht ebenso betont: sie entsteht? Im Hinblick auf die reine Jetztfolge kann doch beides mit dem gleichen Recht gesagt werden." (Sein und Zeit 1927)

Wenn wir sagen, dass die Zeit vergeht, meinen wir vielleicht, dass wir selbst vergehen. Wir vergehen in der Zeit.

Kleine Kinder sagen selten: wie die Zeit vergeht! Weil für sie noch nicht viel Zeit vergangen ist, sie selbst sind gerade erst gekommen und nicht am (ver-)gehen.

Vielleicht hängt es auch mit der grundsätzlichen Asymmetrie zusammen, dass wir uns an die Vergangenheit, aber nicht an die Zukunft erinnern können?




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Di 24. Dez 2019, 08:36

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Timelaios
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Registriert: Sa 26. Sep 2020, 22:59

Mi 7. Okt 2020, 08:07

Ein grosses Thema, das ganz nah zur Entwicklungspsychologie gehört, genau wie zu unser aller Alltag. Ausbrechen daraus, sich verändern, sich verändern dürfen.




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