Aus:Hannah Arendt:
Der Gegenstand dieser Überlegungen ist ein Gemeinplatz. Niemand hat je bezweifelt, daß es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. Was bedeutet er für das Wesen und die Würde des politischen Bereichs einerseits, was für das Wesen und die Würde von Wahrheit und Wahrhaftigkeit andererseits? Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen? Welche Art Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in der uns gemeinsamen öffentlichen Welt als ohnmächtig erweist, also in einem Bereich, der mehr als jeder andere den gebürtlichen und sterblichen Menschen Wirklichkeit garantiert, weil er ihnen verbürgt, daß es eine Welt gab, bevor sie kamen, und geben wird, wenn sie wieder aus ihr verschwunden sind? Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann? Dies sind unbequeme Fragen, aber sie ergeben sich notwendig aus unseren landläufigen Meinungen in dieser Sache.
Arendt: Wahrheit und Politik Einleitung Der Text ist aus dem Jahr 1963 (deutsche Version) und liest sich immer noch aktuell. Auch die Fragen sind immer noch aktuell.
Scheinbar hat sich nicht viel geändert.