Das Milgram Experiment Exkurs zu Das Böse

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Tangens Alpha
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Mo 9. Dez 2019, 17:45

Friederike hat geschrieben :
Mo 9. Dez 2019, 15:33
Kurzer Einwurf: Was ich an "Bedürfnissen" als Grundlage für eine Ethik gut finde, das ist, daß man einigermaßen unstrittig -vermute ich - eine Negativ-Liste erstellen kann, d.h. was ganz sicher nicht zu den Bedürfnissen von Menschen gehört: Hungern, frieren, dürsten, eingesperrt sein, nicht selber über sein/ihr Leben bestimmen dürfen, unfreiwillig arm sein, psychisch und körperlich mißhandelt werden ... übrigens kann man diese Liste unabhängig von Forschungszweigen erstellen (das ist kein Einwand gegen die Heranziehung anderer Disziplinen@T.A.).
Ja klar! Nicht alles muss von der Forschung abgesegnet sein.



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Friederike
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So 15. Dez 2019, 11:24

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mo 9. Dez 2019, 15:18
Die Hauptaufgabe war die Reproduktion seiner selbst und der Familie bzw. des Stammes. Aber es gibt deutliche Hinweise auf Verehrung (Höhlen von Lascaux) und Hobbys (Schnitzereien), d.h. es lassen sich an dieser Stelle zwei natürliche Eigenschaften des Menschen ermitteln: das Bedürfnis nach Spiritualität und die Kreativität.

Das sollte m.e. in einer Human-Ethik beachtet werden: zB widerspricht Fließband- oder Schichtarbeit (nicht nur) dem Kreativitätspostulat!

*****************
zu Vereinbarung: wenn es um Ethik geht, geht es auch immer um Diskussion & Konsens. Wenn es um NW geht, geht es um Messergebnisse, über die nicht diskutiert werden kann.
Reichlich verspätet :oops: @Tangens Alpha. Wenn ich den Bogen zu unserer, d.h. der deutschen Verfassung spanne, dann könnte man die Berücksichtigung des Bedürfnisses nach Spiritualität unter das Recht auf die Freiheit der Religion- und ihrer Ausübung einordnen. Das Recht zur Entfaltung der Kreativität würde vielleicht zur Freiheit der Kunst passen ... naja, das ist schon sehr bemüht, weil es sich dabei doch eher um den abstrakten Bereich von "Kunst" handelt. Warum die Schichtarbeit der Kreativität widersprechen soll, das verstehe ich nicht. Gut, das würde dann zu den "Kleinigkeiten" gehören, über die man streiten könnte. Menschen sind ja unterschiedlich gestrickt (Nacht- oder Morgenmenschen, Menschen, die wenig festgelegt sind). Streiten können wird man eher nicht, wenn man eine Negativliste für die Bedürfnisse von Menschen angelegt, aber schöpferische Verwirklichung oder Spiritualität - jetzt lege ich nicht nur den Maßstab der realen Verhältnisse an, sondern vergleiche überdies mit Hunger oder Durst- kommen mir doch schon sehr wie Luxusbedürfnisse vor (andererseits: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein").

Grundsätzlich stimme ich Deiner Unterscheidung, wenn man sie zuspitzt, ebenfalls zu. Für die Biologie oder die Medizin, als den Wissenschaften speziell vom Menschen, würde ich Einschränkungen vornehmen wollen. Aber wie stark die NW und Humanwissenschaften von Interessen und Vorannahmen geprägt sind, das ist ein weites Feld.




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Friederike
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Mo 16. Dez 2019, 12:58

Vor einiger Zeit hatte @Alethos an anderer Stelle hier Fragebögen von M. Frisch verlinkt. In dem Fragebogen "Erhaltung des Menschengeschechts" lautet die Frage 22 so:

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, daß es dazu nie gekommen ist.

@T.A. Mich würde Deine Antwort sehr interessieren. Meine sag' ich nicht. Erst mußt Du ... :lol:




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Tangens Alpha
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Di 17. Dez 2019, 16:50

Friederike hat geschrieben :
Mo 16. Dez 2019, 12:58
Vor einiger Zeit hatte @Alethos an anderer Stelle hier Fragebögen von M. Frisch verlinkt. In dem Fragebogen "Erhaltung des Menschengeschechts" lautet die Frage 22 so:

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, daß es dazu nie gekommen ist.

@T.A. Mich würde Deine Antwort sehr interessieren. Meine sag' ich nicht. Erst mußt Du ... :lol:
Hab' ich. 12 Jahre!

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Friederike
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Di 17. Dez 2019, 17:32

Tangens Alpha hat geschrieben :
Di 17. Dez 2019, 16:50
Hab' ich. 12 Jahre!
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Du hast ... oder wie ??? Ich steh' auf dem Schlauch ... :roll:




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Jörn Budesheim
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Di 17. Dez 2019, 18:24

Vielleicht wegen der angedrohten Gefängnisstrafe von 12 Jahren?




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Friederike
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Mi 18. Dez 2019, 09:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 17. Dez 2019, 18:24
Vielleicht wegen der angedrohten Gefängnisstrafe von 12 Jahren?
Achso, ja, die Erläuterung zu der Kurzformel finde ich schlüssig.

Meine Antwort ist die, daß ich gelernt habe, daß "man so etwas unter keinen Umständen tut". Das Verbot hat die Stärke eines Tabus.




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Jörn Budesheim
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Mi 18. Dez 2019, 10:14

Friederike hat geschrieben :
Mi 18. Dez 2019, 09:07
Meine Antwort ist die, daß ich gelernt habe, daß "man so etwas unter keinen Umständen tut".
Hmmm ... aber du willst doch damit sicher nicht sagen, dass du es nicht aus Einsicht tust, oder?




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Friederike
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Mi 18. Dez 2019, 12:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 18. Dez 2019, 10:14
Hmmm ... aber du willst doch damit sicher nicht sagen, dass du es nicht aus Einsicht tust, oder?
"Einsicht" träfe nicht den Aspekt, den ich für den entscheidenden halte. Es handelt sich um ein Verbot, das so absolut ist, daß es in "Fleisch und Blut übergeht", verinnerlicht wird. Selbst der Impuls zum Töten wird gebremst durch die Tötungshemmung, die eine Folge des Verbotes ist. Letzteres ist lediglich eine Vermutung von mir, ich weiß nicht, ob es sich tatsächlich so verhält.
"Einsicht" jedenfalls würde ganz gewiß nicht zum Ergebnis haben, daß die allermeisten Menschen niemals einen anderen Menschen töten.




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Jörn Budesheim
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Mi 18. Dez 2019, 13:15

Das macht das Töten oder Nicht-töten zu etwas Zufälligem. Das Verbot könnte schließlich auch ganz anders lauten. Man kann bei einem Verbot auch fragen: warum ist das verboten? Und wenn deine Herleitung schlüssig ist, müsste die Antwort ja wieder lauten: weil es verboten ist. Ein Verbot erklärt gar nichts finde ich. Ein Verbot macht (wenn es richtig ist) nur etwas explizit, was ohnehin der Fall (also falsch) ist.

Außerdem erklärt das nicht, wieso sich jemand an das Verbot hält, es sei denn man führt auf Gewaltandrohung zurück. (Aber warum ist Gewalt eine Strafe?)

Man kommt gar nicht daran vorbei an irgendeiner Stelle, "wirkliche" Gründe einzuführen. Anderen Leid zuzufügen ist falsch, das Leid, was man zufügt ist selbst der Grund dafür. Man kommt hier nicht tiefer und der "Naturalismus" kann hier nur bedingt "helfen", weil es dieser Perspektive das Leid nicht wirklich in den Blick kommen kann.




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Friederike
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Mi 18. Dez 2019, 15:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 18. Dez 2019, 13:15
Das macht das Töten oder Nicht-töten zu etwas Zufälligem. Das Verbot könnte schließlich auch ganz anders lauten. Man kann bei einem Verbot auch fragen: warum ist das verboten? Und wenn deine Herleitung schlüssig ist, müsste die Antwort ja wieder lauten: weil es verboten ist. Ein Verbot erklärt gar nichts finde ich. Es macht (wenn es richtig ist) nur etwas explizit, was ohnehin der Fall (also falsch) ist.

Außerdem erklärt das nicht, wieso sich jemand an das Verbot hält, es sei denn man führt auf Gewaltandrohung zurück. Aber warum ist Gewalt eine Strafe?

Man kommt gar nicht daran vorbei an irgendeiner Stelle, "wirkliche" Gründe einzuführen. Anderen Leid zuzufügen ist falsch, das Leid, was man zufügt ist selbst der Grund dafür. Man kommt hier nicht tiefer und der "Naturalismus" kann hier nur bedingt "helfen", weil es dieser Perspektive das Leid nicht wirklich in den Blick kommen kann.
Das Tötungsverbot ist mE so tief in der menschlichen Gesellschaft und in der Geschichte der Menschen verwurzelt, daß man unter normalen Umständen eigentlich noch nicht einmal darauf kommt, die Frage nach dem "warum" zu stellen, und ob das Verbot richtig oder falsch ist. Die Frage von M. Frisch ist ja an Einzelne adressiert, und als Individuum habe ich auch vor (zeitlich) jeder Einsichtsfähigkeit nie das Verbot übertreten.




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Jörn Budesheim
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Mi 18. Dez 2019, 15:33

Ob das Verbot tief verwurzelt ist oder nicht, ändert nichts an meinen Argumenten.




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Jörn Budesheim
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Mi 18. Dez 2019, 18:11

Das Leben lässt sich nur vom Leben her verstehen. Stellt man sich dumm und betrachtet die ganze Schose von der Seite, also aus der Perspektive der dritten Person, muss man das, worum es geht notwendig verfehlen. Den Wert des Lebens muss man selbst erlebt haben, um ihn schätzen und verstehen zu können. Dem Lebenden zeigt er sich.

Wenn man davon abstrahiert, wie es in den Naturwissenschaften in der Regel nötig ist, um zu objektiven Ergebnissen zu kommen, hat man genau davon abstrahiert, was man in den Blick nehmen sollte. Man kann hier einfach nicht in derselben Art und Weise vorgehen und fragen, wie es die Naturwissenschaft tun.

Levinas meint, der Blick des anderen sagt mir: töte mich nicht. Aus dem Kreis des Lebens können wir nicht austreten, um diesen Wert zu erkennen und zu erfahren.

Wer den anderen nur deshalb nicht tötet, weil er einer Regel folgt, der handelt hochgradig nihilistisch und unethisch.




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Tangens Alpha
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Mi 18. Dez 2019, 21:08

Friederike hat geschrieben :
Di 17. Dez 2019, 17:32
Tangens Alpha hat geschrieben :
Di 17. Dez 2019, 16:50
Hab' ich. 12 Jahre!
Jetzt du!
Du hast ... oder wie ??? Ich steh' auf dem Schlauch ... :roll:
Nein, war ein Scherz. ;) Aber diese Frage hat mich tagelang verfolgt. Die ist irgendwie abgefahren, oder?



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Mi 18. Dez 2019, 21:36

Friederike hat geschrieben :
Mi 18. Dez 2019, 15:31
Das Tötungsverbot ist mE so tief in der menschlichen Gesellschaft und in der Geschichte der Menschen verwurzelt,...
Das kann sich innerhalb von Sekundenbruchteilen ändern! Ich hatte mal ein Erlebnis mit meiner damals 4-jährigen Tochter. Wir standen auf einem Kinder-Reiterhof als ich im Augenwinkel mitbekam, wie ein Jagdhund, so groß wie meine Tochter, plötzlich mit aufgerissenem Maul auf sie zustürzte.

Der Adrenalinstoß, den ich in dem Augenblick bekommen habe, hat mich so extrem angstfrei auf den Hund fokussiert, dass ich nur sah, wie meine Hände den Hund am Ohr und im Nacken packten. Für einen winzigen Bruchteil sah ich diese riesigen Zähne in meinem Unterarm, aber das war mir sowas von egal, ich hätte ihn auf den Boden geschlagen, den Kiefer aufgerissen, sogar selbst zugebissen! Ich wäre in dem Moment zu Allem fähig gewesen - und als ich dann ein paar Tage später hörte, dass hier in der Nähe ein 5-jähriges Mädchen brutal ....mehr schreib ich nicht... habe ich nur gedacht: Jo, Alter! In dem Moment....? Ja! Zu Allem!!!



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Jörn Budesheim
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Do 19. Dez 2019, 09:22

Ich bin reichlich gesegnet mit Kindern und Kindeskindern. Deshalb kann ich das ganz gut nachvollziehen. Ist es nicht so, dass einem in solchen Momenten der Wert des Lebens unendlich bewusst wird?




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Jörn Budesheim
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Do 19. Dez 2019, 09:43

zur Erinnerung diese berühmten Zeilen Rilkes:

Hiersein ist herrlich. Ihr wußtet es, Mädchen, ihr auch,
die ihr scheinbar entbehrtet, versankt –, ihr, in den ärgsten
Gassen der Städte, Schwärende, oder dem Abfall
Offene. Denn eine Stunde war jeder, vielleicht nicht
ganz eine Stunde, ein mit den Maßen der Zeit kaum
Meßliches zwischen zwei Weilen –, da sie ein Dasein
hatte. Alles. Die Adern voll Dasein.
Nur, wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar
uns nicht bestätigt oder beneidet. Sichtbar
wollen wirs heben, wo doch das sichtbarste Glück uns
erst zu erkennen sich giebt, wenn wir es innen verwandeln.




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Tangens Alpha
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Do 19. Dez 2019, 13:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 19. Dez 2019, 09:22
Ich bin reichlich gesegnet mit Kindern und Kindeskindern. Deshalb kann ich das ganz gut nachvollziehen. Ist es nicht so, dass einem in solchen Momenten der Wert des Lebens unendlich bewusst wird?
Ich glaube, wenn ich in dem Moment über den Wert des Lebens reflektiert hätte, wäre meine Tochter vllt. nicht mehr am Leben, oder schwer verletzt - so hatte sie nur eine kleine Schürfwunde unter dem Auge.
In solchen Momenten kannst du alle ethischen Ideale in die Tonne werfen, weil unsere biologische Organisation/Verfassung die totale Kontrolle übernimmt.

Das liegt offensichtlich wohl daran, dass für diese Situationen im sog. Zwischenhirn fest eingebrannte vererbte Verhaltensprogramme bereit stehen: Angriff, Flucht, Paralyse, ...
Andererseits werden im Großhirn die im Zuge der Sozialisation aufgenommenen ethischen Imperative abgelegt, so dass wir auch darüber sprechen, reflektieren können.

In gefährlichen Situationen wird autonom vom Zwischenhirn das Großhirn völlig mit Adrenalin geflutet, was alle Denkvorgänge jäh blockiert, und die Verhaltensprogramme "Tochter schützen" und "Angriff" gestartet. Und ich sage hier ganz ehrlich: wenn der Hund draufgegangen wäre, wenn ich ihn getötet hätte, wäre schade gewesen, hätte mir ethisch aber keine Probleme bereitet, obwohl ich Tiere sehr liebe und achte.

Etwas anderes ist die Situation mit dem 5-jährigen Mädchen in der Nachbarschaft. Hätte ich es verhindern können, ähnelt es der Rettungssituation; aber es war schon geschehen und vorbei. Trotzdem kam in mir wiederkehrend der Wunsch auf, diese Drecksau (sorry) in die Finger zu kriegen und die weiteren Phantasien erspare ich mir hier; hier hätte aber meine Ethik mich und den Perversling vor Schlimmerem bewahrt.

So sieht m.e. das Verhältnis Ethik-Wirklichkeit aus!

Ein Zwischenhirn mit Schutzfunktion haben alle höheren Tiere, ist ein uraltes Relikt und im Daseinskampf unverzichtbar: Anwendung legitim im Falle der Tochter!
Aber es ist heute auch ein Anachronismus: das Bedürfnis, den Perversling "zu vernichten" wurde nicht aus der realen Gefahrensituation gespeist, sondern aus meiner internen persönlichen Ecke: Anwendung nicht legitim!

Langer Rede kurzer Sinn: unsere Biologie ist stark, mächtig, universell, aber ein potentieller Anachronismus; genau dafür brauchen wir ein Kontrollinstrument - die Ethik. Das ist m.e. ihr Hauptfunktion.



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Do 19. Dez 2019, 15:57

Tangens Alpha hat geschrieben :
Do 19. Dez 2019, 13:48
Ich glaube, wenn ich in dem Moment über den Wert des Lebens reflektiert hätte, wäre meine Tochter vllt. nicht mehr am Leben, oder schwer verletzt - so hatte sie nur eine kleine Schürfwunde unter dem Auge. In solchen Momenten kannst du alle ethischen Ideale in die Tonne werfen, weil unsere biologische Organisation/Verfassung die totale Kontrolle übernimmt.
Trotzdem @T.A., steht doch hinter Deinem reflexhaften Reagieren das Wissen, es geht um das Leben meiner Tochter? Du reflektierst den Wert zwar nicht, aber er ist, wie ich finde, in Deinem Handeln mit eingeschlossen. Denn würde Dir das Leben Deiner Tochter nicht "alles" bedeuten, dann hättest Du doch nicht von allen Rücksichten gegenüber dem Hund abgesehen? Oder willst Du mit Deinen folgenden Ausführungen, die ich nicht zitiert habe, sagen, "Leben gegen Leben" sei ein Instinkt des Menschen? Hm, eigentlich hast Du es am Ende gesagt. Aber mir leuchtet die biologische Programmierung nicht ein. Du, Deine Tochter, Deine Frau ... der Nachbar gegenüber, der Nachbar um drei Ecken, der unbekannte Mensch auf der Straße? Gibt es für alle Nah- und Fernabstufungen ein Programm?




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Jörn Budesheim
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Do 19. Dez 2019, 16:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 19. Dez 2019, 09:22
Ist es nicht so, dass einem in solchen Momenten der Wert des Lebens unendlich bewusst wird?
Tangens Alpha hat geschrieben :
Do 19. Dez 2019, 13:48
Ich glaube, wenn ich in dem Moment über den Wert des Lebens reflektiert hätte, wäre meine Tochter vllt. nicht mehr am Leben, oder schwer verletzt
Von "reflektieren" schreibe ich jedoch gar nicht. Ich schreibe davon, dass einem in solchen Momenten der Wert des Lebens unendlich bewusst wird. Man nimmt die Gefahr für das Leben des eigenen Kindes schlagartig wahr. (Ohne das, wäre alles folgende sinnlos, weil es nichts gäbe, was in Gefahr ist.) Man könnte vielleicht sogar sagen, dass man von der Gefahr für Leib und Leben der Tochter "ergriffen" wird. Man blickt der Gefahr sozusagen ins Auge. (Du sprichst ja sogar selbst von Gefahr, nimmst das aber im Folgenden gar nicht ernst.)

So sieht meines Erachtens das "Verhältnis" Ethik-Wirklichkeit aus. Ethik ist nichts, was neben der Wirklichkeit ist oder in sonst einem "Verhältnis" zur Wirklichkeit steht. Sie ist eine Wirklichkeit und nichts, was sich bloß im Reflektieren zeigt (da natürlich auch). Aus der Philosophie der Gefühle wissen wir, dass Gefühle Wertwahrnehmungen sind. Hier erleben wir, was wirklich zählt. Das ist nichts primär abstraktes; auch wenn man natürlich abstrakte Überlegungen zur Ethik und Metaethik anstellen kann und oft auch muss.

In den ersten Zeilen der lebensweltlichen Beschreibung sprichst du ja selbst von einem Erlebnis. Dann jedoch wechselst du hin (und her) von "anonymen" "naturwissenschaftlich anmutenden" selbstentfremdeten Beschreibungen aus der Perspektive der dritten Person (Adrenalin, Gehirn) zu den Beschreibungen der wirklichen Erlebnisse aus der Perspektive des Vaters, der seine Tochter bedroht sieht. Dabei entfremdest du dich (ohne jede Begründung!) von dir selbst und dem Vorfall, wenn du schreibst, dass der Adrenalinstoß dich angstfrei gemacht hat. Aber du hast keinen Adrenalinstoß erlebt. Du hast eine Gefahrensituation erlebt. Unsere Hirnprozesse erleben wir nicht, sie sind transparent.

Ganz sicher: Ohne den Adrenalinstoß (etc) wäre das alles so nicht verlaufen. Der war notwendig. Aber notwendig ist nicht hinreichend. Also nochmal: Ohne jeden Zweifel spielen dabei auch viele biologische Prozesse eine entscheidende Rolle. Das stelle ich nicht in Abrede. Problematisch wird das jedoch, wenn du Teilaspekte für das Ganze nimmst, was auf einen mereologischen Fehlschluss hinaus läuft. Und zudem versuchst du ohne jede Begründung und Not die lebensweltliche Beschreibungsebene "herauszurechnen". Aber ohne diese bleiben nur "anonyme" biochemische Prozesse übrig, die für sich allen noch nichts erklären. Eine wirkliche Erklärung hat man jedoch, wenn man genuin normative Begriffe und unsere Erlebnisse ins Spiel bringt: Deine Tochter war in größter Gefahr und du hast sie gerettet.




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