Teamwork / kollektive Intentionalität

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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Alethos
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Do 16. Jan 2020, 20:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 15. Jan 2020, 06:19
Der Grund, warum man jemand rettet, ist dass die Person in Not ist, und nicht die Regel. Die Tatsache, dass das Leben der Person in Gefahr ist, liefert uns direkt ein Grund, ihr zu helfen. Wir helfen nicht, weil es eine Regel ist, zu helfen. Es ist vielmehr umgekehrt: weil es richtig ist, Personen in Not zu retten, kann man diese Regel aufstellen.
Es ist doch nicht so, dass wir an einer in Not geratenen Person nicht zugleich die Regel erkannten, die uns zum Helfen anleitet.

Vielleicht ist 'anleiten' genau das falsche Wort, weil das Befolgen einer Regel eben genau so ausgelegt werden kann: Als leite sie uns an, dabei ist es ja gerade nicht sie, die uns anleitet. Es ist das Richtige, das Gute, das für sie spricht.

Ich habe den Eindruck, dass du "Regelhaftigkeit" so genau nicht empfindest. Du scheinst zu sagen, dass nach der Regel zu handeln, ein vom konkreten Moment abstrahiertes Handeln zeige, der blossen Regel folgend. Dabei habe ich ein ganz anderes Empfinden: Die Regel stellt kein Rezept dar, sie ist auch nicht das 'Musterbeispiel' einer Anleitung zum rechtschaffenen Tun für Situation A, B und C, sie impliziert eben keinen 'substanzlosen Schluss', sondern ist ganz konkret verwoben mit dem Umstand, durch den sie in uns handlungsanleitend wird.

Sie denke ich nicht als schematisches Konstrukt, das sich auf Situationen anwenden lässt, wie sich eine Handlungsempfehlung in einem Ratgeber auf x-beliebige Situationen anwenden lässt. Ich denke sie mir in einem moralischen Sinn verwoben mit der Wirklichkeit der Situation: Es ist eine moralisch relevante Tatsache, dass jemand leidet und mit dieser Tatsache geht einher die objektive Richtigkeit des Helfensollens in der Form der Regel. Regeln sind, so gedacht, nichts Lebloses, sondern vom Gefühl der lebendigen Fürsorge füreinander durchdrungene Einsicht in die Richtigkeit.



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Jörn Budesheim
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Do 16. Jan 2020, 21:16

Ich formuliere es mal übertrieben, um zu zeigen was ich meine. Wenn ich jemanden frage, warum hast du dem Verletzten geholfen und er antwortet: weil es die Regel ist, Verletzten zu helfen, dann weiß ich, dass er nicht verstanden hat, worum es geht. Weil das nicht der Grund ist, warum man helfen muss.




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Jörn Budesheim
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Do 16. Jan 2020, 21:31

Wer eine Person nach dem Grund fragt, aus dem sie etwas getan hat, der erwartet eine Weil-Antwort, die in dieser Weise nachvollziehbar ist. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob der Akteur vorm Handeln eine Überlegung angestellt hat, die so aussieht wie ein Syllogismus:

Ich will reich werden.
Wer reich werden will, sollte X tun.
_____________________
Also sollte ich X tun.
Wenn das wahr wäre, würden wir alle unser Leben blind führen! Wir wüssten nie, worum es geht und alle anderen würden es auch nicht merken.

Nur in Karikaturen gibt es so etwas: warum isst du? Weil ich immer um 12 Uhr esse.

Schatz, warum hast du mir die Blumen mitgebracht, wie schön! Ja, ist eine Empfehlung aus dem Buch wie führe ich eine schöne Ehe.




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Alethos
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Do 16. Jan 2020, 23:00

Das ist aber jetzt auch eine karikierende Darstellung. :)

Wenn ich dich frage: "Jörn, warum schenkst du deiner Frau Blumen ?" Dann wirst du nur mit Mühen darum herum kommen, ein Weil zu nennen: "Weil es sie glücklich macht.", "Weil ich meine Liebe zeigen will." etc. Aber nicht, dass du mittels etwas ein Ziel erreichst, wird die Regel anzeigen, sondern dass dein Handeln einen Grund hat: Das Glück deiner Frau, die Liebe zu ihr usw. Dabei steht nicht die Regel im Vordergrund "wenn ich sie glücklich machen will, dann muss ich x", vielmehr ist es die Überlegung, dass zu ihrem Glück dein Zutun nur unter gewissen Umständen hilfreich ist, nämlich unter den Umständen, die mit ihrem Glück einhergehen.



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Alethos
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Do 16. Jan 2020, 23:07

Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen "in der Regel."? Wir drücken aus, dass eine Absicht zu haben auf der Überzeugung aufbauen können muss, dass bestimmte Handlungen zum Erfolg führen.



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Jörn Budesheim
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Fr 17. Jan 2020, 05:10

Das Problem ist folgendes. Die Regel selbst hat (in dem obigen Beispiel) einen Grund oder sie hat keinen Sinn. Wenn jemand auf die Frage nach dem Warum die Regeln angibt, dann steht zu vermuten, dass er zwar die Regel kennt, aber den Grund nicht (verstanden hat).

Ähnlich ist folgendes: wenn jemand im Notfall hilft, weil er befürchtet ansonsten wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden, dann tut er zwar das Richtige aber nicht aus den richtigen Gründen.




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Alethos
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Fr 17. Jan 2020, 06:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 17. Jan 2020, 05:10
Das Problem ist folgendes. Die Regel selbst hat (in dem obigen Beispiel) einen Grund oder sie hat keinen Sinn. Wenn jemand auf die Frage nach dem Warum die Regeln angibt, dann steht zu vermuten, dass er zwar die Regel kennt, aber den Grund nicht (verstanden hat).

Ähnlich ist folgendes: wenn jemand im Notfall hilft, weil er befürchtet ansonsten wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden, dann tut er zwar das Richtige aber nicht aus den richtigen Gründen.
Ja, sehe ich auch so. Wenn man nach einer Regel handelt in schierem Gehorsam der Regel, nicht wegen des Grundes, der ihr Gehalt und Sinn gibt, dann handelt er blind für den Grund.

Aber wenn jemand sagt:

"Ich esse gerne gesund. Blumenkohl ist gesund, darum esse ich Blumenkohl."

, dann handelt er ja nicht stur nach einer Regel, sondern in Konsequenz zu seinem Vorhaben.



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Jörn Budesheim
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Wenn jemand angibt, warum er sich etwas zur Regel gemacht hat, dann gibt er ja den Grund an und nicht einfach nur die Regel.




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Paradox
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Sa 18. Jan 2020, 10:30

... oder er hat eine Regel dafür, was er alles als Begründung anzuerkennen bereit ist.



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Paradox
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Jan 2020, 21:31
Nur in Karikaturen gibt es so etwas: warum isst du? Weil ich immer um 12 Uhr esse.
Das glaube ich nicht! Meine Erfahrung sagt das genaue Gegenteil. Nur in seltenen Ausnahmefällen wird jemand gute Gründe haben, warum er immer pünktlich um 12 Uhr isst. (Vielleicht weil seine Arbeitszeiten nichts anderes zulassen oder weil er auf seinen Insulinspiegel achten muss oder dergleichen). Der Normalfall dürfte aber sein: Solange mich niemand nach dem Grund gefragt hat, brauche ich auch keinen. Frägt man mich aber, sauge ich mir schnell was aus den Fingern oder gebe zu, dass ich keinen Grund dafür brauche. Ein achselzuckendes 'ist halt so' reicht hier als Begründung.

Auf die Frage: warum isst du? antwortet einer vielleicht auch: weil ich Hunger habe. Aber ist das denn eine Antwort, gar eine vernünftige Begründung? Das geht doch eher in die Richtung: frag nicht so blöd.
Zuletzt geändert von Paradox am Sa 18. Jan 2020, 12:39, insgesamt 1-mal geändert.



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Jörn Budesheim
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Ja, sicher: manchmal ist unser Leben tatsächlich wie eine Karikatur. Beide Zeiger springen auf die Zwölf und man packt seine Brote aus und isst. Doch in solchen Momenten kann man natürlich auch innehalten und sich fragen, aus welchen Gründen man eigentlich isst :) denn wir essen zwar regelmäßig um 12 Uhr, aber nicht weil es 12 Uhr ist, auch wenn es manchmal den Eindruck macht.




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Jörn Budesheim
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Paradox hat geschrieben : Auf die Frage: warum isst du? antwortet einer vielleicht auch: weil ich Hunger habe. Aber ist das denn eine Antwort, gar eine vernünftige Begründung? Das geht doch eher in die Richtung: frag nicht so blöd.
"Frag nicht so blöd" - das kann ja heißen, dass die Gründe offen zu Tage treten, und niemand einen Grund hat, zu fragen :)




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Jörn Budesheim
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Wikipedia hat geschrieben : Als Münchhausen-Trilemma wird ein von Hans Albert formuliertes philosophisches Problem bezeichnet. Es geht um die Frage, ob es möglich sei, einen „letzten Grund“ (im Sinne einer letzten Ursache bzw. eines unhintergehbaren ersten Anfangs) zu finden bzw. wissenschaftlich zu beweisen.

Hans Albert behauptet, dass jegliche Versuche für eine Letztbegründung scheitern müssen bzw. ins Münchhausen-Trilemma führen. Das Münchhausen-Trilemma bedeutet, dass jeder Versuch des Beweises eines letzten Grundes zu einem von drei möglichen Ergebnissen führt:
  1. zu einem Zirkelschluss, (die Conclusio soll die Prämisse beweisen, benötigt diese aber, um die Conclusio zu formulieren)
  2. zu einem infiniten Regress (es wird immer wieder eine neue Hypothese über die Begründbarkeit eines letzten Grundes formuliert, die sich jedoch wiederum als unzureichend erweist oder wieder in einen Zirkel führt)
  3. zum Abbruch des Verfahrens an einer Stelle und der Dogmatisierung der dortigen Begründung
Wikipedia hat geschrieben : Mit Blick auf seine Diskurstheorie kommentierte Jürgen Habermas das Münchhausen-Trilemma: „Dieses Trilemma hat freilich einen problematischen Stellenwert. Es ergibt sich nur unter der Voraussetzung eines semantischen Begründungskonzepts, das sich an der deduktiven Beziehung zwischen Sätzen orientiert und allein auf den Begriff der logischen Folgerung stützt. Diese deduktivistische Begründungsvorstellung ist offensichtlich zu selektiv für die Darstellung der pragmatischen Beziehungen zwischen argumentativen Sprechhandlungen: Induktions- und Universalisierungsgrundsätze werden als Argumentationsregeln nur eingeführt, um die logische Kluft in nicht-deduktiven Beziehungen zu überbrücken. Man wird deshalb für diese Brückenprinzipien selbst eine deduktive Begründung, wie sie im Münchhausentrilemma allein zugelassen wird, nicht erwarten dürfen.“




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Jörn Budesheim
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Mit anderen Worten: wäre es tatsächlich so, dass jemand, der nach einem Grund fragt, immer nach einer Deduktion fragt, dann hinge praktisch unser ganzes Leben im Nichts. Einem Verletzten zu helfen, wäre dann unbegründet und nichts als eine dogmatische Setzung.




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