Wenn man kein Physiker ist, woher weiß man das denn mit solcher Sicherheit? Es ist schließlich nicht so, dass in der Physik über alle Fragen Einigkeit herrscht. Die Idee, dass das Universum aus Grundelementen besteht, die letztlich das sind, was es wirklich gibt, ist zwar eine zweieinhalbtausend Jahre alte philosophische Idee, aber es ist nicht der Wissensstand der zeitgenössischen Physik.Schimmermatt hat geschrieben : ↑So 8. Mär 2020, 20:54Ich weiß, dass es mich eigentlich aber jetzt schon gar nicht gibt. „Ich“ ist eine Ansammlung von Molekülen, die gelernt hat, zu diesem Aggregat „Ich“ zu sagen.
In einem Vortrag habe ich vor kurzem von einem gewissen George Ellis gehört. Er hat als einer der führenden Kosmologen und Physiker gezeigt dass starke Emergenz/top-down Verursachung in der Physik auch schon bei kleinen Skalen zu finden ist. Aber das beschränkt sich nach seiner Sicht nicht auf den Bereich Physik. Ich habe ein Interview mit ihm gefunden, leider auf englisch, es ist mit deepl etwas holprig übersetzt, indem er das deutlich macht.
Damit kündigt er nach meinem Verständnis genau jene Metaphysik auf, von der ich weiter oben gesprochen habe. Unter Metaphysik verstehe ich den Bereich in der Philosophie bei dem es um das Ganze geht. In der Regel geht es dort mit Aussagen zu wie: alles ist Wasser, alles ist Geist, alles ist Atom.
Nach meinem Kenntnisstand steht diese Sichtweise nicht nur in der Philosophie, sondern anscheinend auch in der Physik auf dem Prüfstand - vorsichtig formuliert. Ich für meinen Teil sehe es wie Ellis: ich halte es für nachgerade selbstverständlich, dass diese Idee, alles ließe sich bottom-up erklären falsch ist. Wir selbst - jede/r einzelne von uns - sind real und keineswegs bloß ein Molekülhaufen. Und selbst wenn man sich der Ansicht Ellis nicht anschließen möchte, sollte man doch zumindest in Rechnung stellen, dass diese Ideen in der Physik auf keinen Fall als gesichertes Wissen gelten können. Mit anderen Worten, es ist einfach nicht richtig, dass man wissen kann, dass man eine Ansammlung von Molekülen ist.
Ellis z.b. hält den Glauben, dass die gesamte Realität physikalisch ist und mit den Mitteln der Physik vollständig verstanden werden kann für ein Hirngespinst.
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Horgan: In einigen Ihrer Schriften warnen Sie vor einem übermäßigen Determinismus in der Physik und Wissenschaft. Könnten Sie Ihre Bedenken zusammenfassen?
Ellis: Viele Wissenschaftler sind starke Reduktionisten, die glauben, dass die Physik allein die Ergebnisse in der realen Welt bestimmt. Das ist nachweislich unwahr - zum Beispiel könnte der Computer, auf dem ich dies schreibe, unmöglich allein durch die Physik entstanden sein.
Das Problem ist, dass diese Wissenschaftler sich auf einige Stränge im Netz der Kausalzusammenhänge konzentrieren, die tatsächlich existieren, und andere ignorieren, die nachweislich vorhanden sind - wie Ideen in unseren Köpfen oder Algorithmen, die in Computerprogrammen verkörpert sind. Diese handeln nachweislich von oben nach unten, um physikalische Effekte in der realen Welt zu verursachen. All diese Prozesse und tatsächlichen Ergebnisse sind kontextabhängig, und dies ermöglicht die Wirksamkeit von Prozessen wie der adaptiven Auswahl, die der Schlüssel zur Entstehung echter Komplexität sind.
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Horgan: Einstein schien im folgenden Zitat den freien Willen anzuzweifeln: "Wäre der Mond bei der Vollendung seines ewigen Weges um die Erde mit Selbstbewusstsein begabt, würde er sich zutiefst davon überzeugt fühlen, dass er seinen Weg aus eigenem Antrieb geht.... So würde ein Wesen, das mit höherer Einsicht und vollkommenerer Intelligenz ausgestattet ist, den Menschen und sein Tun beobachten und über die Illusion des Menschen lächeln, dass er nach seinem eigenen freien Willen handelt. Glauben Sie an den freien Willen?
Ellis: Ja. Einstein verewigt den Glauben, dass alle Ursachen von unten nach oben gerichtet sind. Das ist einfach nicht der Fall, wie ich an vielen Beispielen aus der Soziologie, den Neurowissenschaften, der Physiologie, der Epigenetik, den Ingenieurwissenschaften und der Physik zeigen kann. Außerdem hätte Einstein, wenn er keinen freien Willen in einem sinnvollen Sinne gehabt hätte, nicht für die Relativitätstheorie verantwortlich sein können - sie wäre ein Produkt von Prozessen auf niedrigerer Ebene gewesen, aber nicht das Ergebnis eines intelligenten Verstandes, der zwischen möglichen Optionen wählt.
Es fällt mir sehr schwer, dies zu glauben - es scheint in der Tat keinen Sinn zu ergeben. Physiker sollten die vier Formen der Kausalität des Aristoteles beachten - wenn sie den freien Willen haben, zu entscheiden, was sie tun. Wenn sie das nicht haben, warum dann Zeit mit ihnen reden?
Sie sind dann nicht verantwortlich für das, was sie sagen.
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George Francis Rayner Ellis (* 11. August 1939 in Johannesburg, Südafrika) ist Kosmologe und Professor für angewandte Mathematik an der Universität Kapstadt in Südafrika.
Neben seinen über 200 wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Kosmologie und Relativitätstheorie ist Ellis (zusammen mit Stephen Hawking) der Co-Autor des Standardwerks The Large scale Structure of Space Time. Er gilt als einer der international führenden Kosmologen.
https://blogs.scientificamerican.com/cr ... free-will/