Ich - Leiden an der aporetischen Existenz

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Jörn Budesheim
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So 15. Mär 2020, 14:26

Schimmermatt hat geschrieben :
So 15. Mär 2020, 13:49
top-down-Disintegration
Was meinst du damit?




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Friederike
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So 15. Mär 2020, 15:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Mär 2020, 18:11
Und genau in diesem Sinne heißt es bei dem Philosophen Markus Gabriel, dass es die Welt nicht gibt. Es gibt kein Fundament der Tatsachen, auf dass sich letztlich alles zurückführen lässt. Und wenn ich Ellis richtig verstehe, sieht er das genauso. Top down Kausalität heißt dann, dass die Dinge, die in der vierten oder fünften Etage geschehen nicht einfach "Epiphänomene" des Fundaments sind, sondern real wirksam sind, sie sind also sie selbst.

Mein Argument lautet jedoch jetzt nicht, dass diese Sichtweise wahr ist. (Was ich allerdings denke.) Ich will nur sagen, dass es nicht einmal in den Naturwissenschaften entschieden ist, was die Lage der Dinge ist; soweit ich sehe, gibt es einfach keine Einigkeit darüber. Und daher ist es beim Stand des jetzigen Wissens, nach meiner Einschätzung, sehr gewagt zu sagen/zu glauben, dass man mit Bestimmtheit wisse, dass man bloß eine Ansammlung von Molekülen ist.
Wenn Dein Argument nicht lautet, diese Sichtweise sei wahr und wenn Du aber denkst, sie sei wahr, ist dieses "denken" dann ein "glauben?" Oder vorsichtiger ausgedrückt: Du meinst, Du hast einige gute Gründe für die Annahme, diese Sichtweise sei wahr?




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Jörn Budesheim
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So 15. Mär 2020, 15:17

Es geht darum, für was ich an dieser Stelle argumentiere. Ich argumentiere an dieser Stelle nur dafür, dass Schimmermatt kein Wissen haben kann, dass er bloß eine Ansammlung von Molekülen ist. Das heißt, an dieser Stelle "reicht es" argumentativ, darauf hinzuweisen, dass es darüber einfach zumindest keinen wissenschaftlichen Konsens gibt.




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Schimmermatt
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So 15. Mär 2020, 18:33

Jörn, ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein. Das spielt aber hier auch keine Rolle, ich entschuldige mich, sollte ich damit zu nahe getreten sein. Meinetwegen lösche ich den Beitrag, wenn Du es möchtest. Ich, gerade ich, will sicher nicht ZU persönlich werden.

Ich meine mit der top-down-Disintegration, dass ich in einem spinozistischen System, einer Emergenz, einem Pantheismus, einem Holismus, etc. als Ich verschwinde. Wie eine Drohne im Bienenschwarm. Wie ein Rädchen im Uhrwerk. Beiden ist ihre Bedeutung nur aus dem großen Ganzen verliehen. Nicht umsonst verfolgte die katholische Kirche Pantheismus als Atheismus! Wenn man alles ist, ist man... Nichts.

Dein Einwand gegen das Wissen des Materialismus ist gut. Nur verstehe ich nicht, was an Realismus übrig bleibt, wenn man Deinen Weg wählt. Mir sieht Dein Existenzialismus wie eine Verzweiflungstat aus. Aus dem Nichterkennen (können) via Handeln ein transzendentales Subjekt zu stricken. Deine Einwände gegen Metaphysik scheinen mir Deine.Position noch schneller und dramatischer zu betreffen, als den von mir angedeuteten Materialismus, den ich auch sofort preiszugeben bereit bin. Eventuell kapiere ich auch einfach nicht, inwiefern Deine Position realistisch ist. Mir sieht Dein Existenzialismus denn auch zumindest in Teilen konstruktivistisch aus. Das Subjekt baut sich seine Bedeutung via Handeln selbst, es schafft sich eine Sinnkonstrution. In diesem Fall aus einer (nichtmetaphysischen?) Ganzheit, da stoße ich an Grenzen.



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Jörn Budesheim
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So 15. Mär 2020, 19:59

Schimmermatt hat geschrieben :
So 15. Mär 2020, 18:33
Jörn, ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein. Das spielt aber hier auch keine Rolle, ich entschuldige mich, sollte ich damit zu nahe getreten sein. Meinetwegen lösche ich den Beitrag, wenn Du es möchtest. Ich, gerade ich, will sicher nicht ZU persönlich werden.
Keine Sorge, zumal ich ja fast nichts von dem, was du vermutest, wirklich vertrete :) demnächst mehr.




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Mo 16. Mär 2020, 05:56

Schimmermatt hat geschrieben :
So 15. Mär 2020, 18:33
Nichterkennen
Ich gehe nicht von einem prinzipiellen Nichterkennen aus. Ich bin kein Skeptiker, das Gegenteil ist der Fall. Ich gehe jedoch davon aus, dass du nicht wissen kannst, eine Ansammlung von Molekülen zu sein. (Eine Begründung dafür hatte ich weiter oben gegeben.) Lebewesen sind Ganzheiten nicht einfach Ansammlungen von Molekülen.




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Mo 16. Mär 2020, 06:04

Schimmermatt hat geschrieben :
So 15. Mär 2020, 18:33
Ich meine mit der top-down-Disintegration, dass ich in einem spinozistischen System, einer Emergenz, einem Pantheismus, einem Holismus, etc. als Ich verschwinde. Wie eine Drohne im Bienenschwarm. Wie ein Rädchen im Uhrwerk. Beiden ist ihre Bedeutung nur aus dem großen Ganzen verliehen.
Metaphysik, das hatte ich weiter oben erläutert, ist nach meinem Verständnis ein Ansatz der aufs Ganze geht. Die Idee, dass es eine Basis für ALLES gibt, etwa Materie gehört dazu. Ich hatte das an dem Beispiel mit dem Haus erläutert. Das lehne ich ab. Dementsprechend lehne ich natürlich auch einen Holismus ab, in dem Sinne, dass man ALLES vom Ganzen her begreifen muss.

Wenn ich sage, dass nicht ALLES bottom-up zu erklären zu verstehen ist, sage ich ja nicht dass NICHTS bottom-up zu erklären und zu verstehen ist. Und wenn ich sage, dass Emergenz in vielen Bereichen eine Rolle spielt, dann sage ich ja nicht, dass ALLES daraus zu erklären ist.

Und die Alternative bottom-up versus top-down ist natürlich auch keine generelle. Beim Lesen von Gedichten dürfte es schon vergleichsweise schwierig sein, sie anzuwenden :)




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Schimmermatt hat geschrieben :
So 15. Mär 2020, 18:33
Das Subjekt baut sich seine Bedeutung via Handeln selbst, es schafft sich eine Sinnkonstrution.
Menschen als geistig und körperliche Lebewesen denken und handeln immer im Lichte einer Vorstellung davon, wer oder was sie sind. Wer z.b. ein Haufen Moleküle zu sein glaubt, der kann gegebenenfalls an dem Selbstbild auch leiden - allerdings fragt sich dann natürlich, warum Molekülhaufen daran leiden sollten, Molekülhaufen zu sein. (Da scheint es ja dann den Wunsch zu geben, etwas anderes zu sein. Molekülhaufen, die wünschen, etwas anderes als Molekülhaufen zu sein, scheinen mir jedoch schon relativ besondere Molekülhaufen zu sein 😎)

Selbstbilder können natürlich auch verfehlt sein. Ich könnte mich z.b. für einen großen Dichter halten und alles was ich tue nur noch im Lichte dieser Vorstellung unternehmen. Diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung (=Freiheit) haben wir. Das kann viele verschiedene Formen annehmen.

Ich verstehe nicht, warum du es als eine Form von Verzweiflung ansiehst, dass ich uns eine gewisse Freiheit zubillige??




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Schimmermatt hat geschrieben :
So 15. Mär 2020, 18:33
was an Realismus übrig bleibt
In unseren gemeinsamen Philosophie-Foren-Erfahrungen ging es oftmals um die Frage, ob wir die bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit an sich erkennen können. Das erscheint mir jedoch heute als der erste und verhängnisvolle Schritt ab vom richtigen Weg. Denn es stellt sich ja dann die Frage, wie sieht es mit dem Bewusstsein selbst aus? Das Bewusstsein ist sicherlich nicht bewusstseinunabhängig. Mit dieser Fragestellung rechnen wir uns selbst gewissermaßen aus der angeblich "eigentlichen" Realität heraus. Wirklich ist dann nur, was bewusstseinsunabhängig ist, also ist das Bewusstsein in einer gewissen Hinsicht nicht wirklich...

Mein Realismus besagt hingegen, dass wir oftmals die Wirklichkeit so erkennen können, wie sie ist. Unser Erkennen, unser Denken, Fühlen, Bewusstsein, etc geschieht immer inmitten der Wirklichkeiten, das alles ist ein Teil der Wirklichkeiten selbst. Und diese Wirklichkeit ist kein monolithischer Block, stattdessen gibt es, wie z.b. Ellis weiter oben erläutert viele verschiedene Bereiche.

Das ist so ungefähr der Grundgedanke.




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Schimmermatt
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Was Du als "verhängnisvollen ersten Schritt" bezeichnest, sehe ich als notwendig und untrennbar hiermit verbunden an:
Schimmermatt hat geschrieben :
So 8. Mär 2020, 20:54
Identität, so was sollte man formieren. Formiere ich also.
Weise ich dies zurück, gelingt es mir nicht mehr, ein transzendentales Subjekt, ein meiner selbst bewusstes Ich zu sein. Das ist die top-down-Disintegration von der ich sprach. Wenn ich "ex negativo" sage, ist dies kaum eine Kritik, es geht gar nicht anders. Ich muss mich als abgetrennt von der Welt begreifen, sonst gelingt es mir nicht, ein Ich zu formieren.



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Mo 16. Mär 2020, 10:21

Tut mir leid, das verstehe ich nicht.




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Schimmermatt hat geschrieben :
Mo 16. Mär 2020, 10:11
Was Du als "verhängnisvollen ersten Schritt" bezeichnest, sehe ich als notwendig und untrennbar hiermit verbunden an:
Es scheint mir noch ein Problem zu geben, was den Thread durchzieht. Du generalisierst vieles von dem, was ich sage zu schnell. (So mein Gefühl) Die Frage nach der bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit wird bei mir keineswegs generell verabschiedet. Lokal kann sie durchaus sinnvoll sein und viele Bereiche in den Naturwissenschaften mögen so verfahren. Fehlerhaft ist nach meiner Ansicht nur, daraus eine generelle Grundeinstellung des Realismus zu machen, sozusagen sein "Markenzeichen". Der objektive "Blick von nirgendwo" der Naturwissenschaften kann hier und da eine gute Leitidee sein, aber viele Gegenstandbereiche geraten damit sozusagen aus dem Blick.




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Schimmermatt
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Mo 16. Mär 2020, 12:14

Es tut mir leid, dass Du es so empfindest. Offenbar siehst Du einen Zwischenweg, weder top-down noch bottom-up zu verschwinden, den ich nicht erkennen kann, bzw der sich für mich nicht erschließt. Die "Generalisierung" dürfte darauf beruhen, denn ich verstehe Deine Aussagen schon, ordne sie aber jeweils zu und kann nicht erkennen, wie man meiner Konsequenz mit Deinem Weg entkommen kann. Besser kann ich es auch kaum ausdrücken.



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Jörn Budesheim
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Mo 16. Mär 2020, 12:23

Schimmermatt hat geschrieben :
Mo 16. Mär 2020, 12:14
top-down [...] verschwinden
hmmm... Was meinst du damit? Organismen (um nur ein Beispiel zu geben) verschwinden doch nicht, wenn man sie als Organismen (also Top-down) betrachtet. Ich selbst verschwinde auch nicht, wenn ich mich als ganze Person sehe. Ich sehe nicht, worauf du hinaus willst.




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Schimmermatt
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Mo 16. Mär 2020, 21:49

Wieso bist Du eine "ganze Person", Jörn? In meinen Augen ist das Wunschdenken. Du magst Dich nicht als Summe Deiner Moleküle definieren, diese Ausschließlichkeit ist für Dich Metaphysik. Du bist auch keine von Gott erschaffene ewige Seele, das ist nämlich auch Metaphysik. In der materialistischen Metaphysik verschwindet die Person bottom-up, in der idealistischen Metaphysik top-down (ich hab das mit Spinoza illustriert). Was Du genau bist, kann ich nicht erkennen, daher sehe ich Dich so aporetisch unbestimmt wie mich selbst. Du aber siehst darin Freiheit, explizierst Dein Ich daraus, dass ja jemand Urheber und Verantwortlicher all der Handlungen sein muss. Das ist für mich eine der gesunden Illusionen, die ich in meinem Text ansprach, die ich aber nicht glauben kann. Du begegnest Dir in Deinen Entscheidungen - ich begegne Zwangsläufigkeiten. Du siehst Dich als Element eines Systems (da bin ich mir nicht mal sicher, ich finde keine rechte Bestimmung bei Dir, es bleibt ungefähr), ich sehe mich selbst als System.

Ich möchte drastischere Worte wählen, aber nicht beleidigen, das hier ist also nur zu Illustrationszwecken: In der Vagheit, was eine ganze Person denn ist, in der Inkonsequenz, zwischen Materialismus und Idealismus hin und her zu pendeln, dort nur, so dünkt mir langsam, ist ein Ausweg aus der Einsicht in die Aporie möglich. Die Aporie bleibt aber da, spätestens wenn man mit einrechnet, dass man sterben wird. Der absolute Tod frisst alles, was man mal war. So schmilzt auch die Realität zu einem kurzen Augenblick - ich kann es nicht besser ausdrücken, ich hab ja nicht umsonst eine literarische Ausdrucksform versucht, da die Wissenschaftssprache meinen Versuchen, der Aporie Ausdruck zu verleihen, spottet und ich mich natürlich der Unlogik schuldig mache - Kunststück, ich will ja gar zeigen, dass das Dasein aporetisch, paradox, unlogisch ist!

Es ist wirklich schwer, nichtmetaphorisch und damit offenbar ziemlich missverständlich, Klärung einer paradoxen, aporetischen Situation zu schaffen. Ich glaube, ich bin einfach verrückt, vielleicht sollten wir es dabei bewenden lassen.



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Alethos
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Mo 16. Mär 2020, 22:25

Schimmermatt hat geschrieben :
Mo 16. Mär 2020, 12:14
Die "Generalisierung" dürfte darauf beruhen, denn ich verstehe Deine Aussagen schon, ordne sie aber jeweils zu und kann nicht erkennen, wie man meiner Konsequenz mit Deinem Weg entkommen kann.
Könntest du, wenn du Lust dazu hast, noch einmal mit anderen Worten formulieren, was diese Konsequenz für dich ausmacht?

Du sprichst in deinem Eingangsbeitrag von den Unterschieden zwischen Ich und den Anderen, anschliessend konkludierst du, dass es dich nicht gäbe resp. dass du wüsstest, dass es dich nicht gäbe ("cogito ergo nihil"). Wenn aber dem so ist, dass es dich nicht gibt, wie kannst du denn wissen, dass es die anderen gibt? Meines Erachtens lässt sich die Welt da draussen mit allen diesen wandelnden Gestalten, die wir Menschen nennen, nicht abtrennen von der Vorstellung, ein Ich zu sein. Die Anderen sind durch mich die anderen und ich bin nicht sie durch sie. Es gibt Identität durch Differenz, Differenz durch Identität, auch in Bezug auf das Ichsein oder darauf, der Andere zu sein.

Der Skeptizismus bezüglich dem Ich lässt sich kaum kohärent denken, nicht, weil sich bis zum Grund zu denken kaum bewerkstelligen liesse (ein Grund, von dem du sagst, da sei keiner), sondern weil sich im Gegenteil eine Vielzahl von Gründen zeigen, die zu denken veranlassen, dass es Vieles gibt, was mich zum Ich macht. Es gibt keine einfachen Antworten, was diese Vielen je seien, aber es gibt sehr viel gute Gründe, sie als Individuationen in eigenen ontologischen Ordnungen zu denken.

Das Ich, das ist eine plurale ontologische Ordnung: Es ist keine Entität, kein in diesem Sinne Uniformes oder ein eindeutiges Etwas, das auf einen Grund gebaut wäre, aus einem Stoff gemacht: Geist oder Körper etwa. So gesehen gibt es kein Ich. Es gibt kein Ich, das aus einem Grund heraus bestünde und sich ausdrücken liesse in der Formel: 'Ich bin x.' Es gibt das Ich immer nur als Gesamt der Perspektiven des vielfältig Konstituiertseins. Ich bin ein Molekülhaufen. Ich bin eine top-down desintegrierte Sozialkomponente. Ich bin ein intensives Gefühl. Ich bin Bewusstsein und auch ein Bewusstsein meiner. Ein Bewusstsein deiner, ein durch dich bewusst Gemachtes. Ein Redendes. Ein Hormonmix. Ein Begriffsprodukt, ein durch Performierung sich Formierendes. Aus alle dem und vielem mehr komponiert sich das Ich. Ich bin ich und ich zerfalle nicht in alle diese Komponenten (Das Ich ist nicht sinnvoll analysierbar, weil es als Ich zerfällt, wenn man es zerlegen will), sondern ich konstituiere mich aus alle diesen Komponenten und synthetisiere mich damit zu einem Wesen, das sich Ich nennen kann. Ich bin nicht die Summe meiner Widersprüche, und damit eine aporetische Existenz, sondern die Einheit als Produkt dieser Widersprüche. Nun zu sagen, dass ich nicht existiere, das halte ich dann einfach für einen Irrtum, der an der Realität scheitert. Das Ich ist real und wie der Realismus überhaupt, keine Theorie, sondern der Hintergrund, vor welchem Theorien überhaupt formuliert werden können.
Darum nochmal meine Frage: Was genau bedeutet deine Rede vom Leiden an der aporetischen Existenz?



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Schimmermatt
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Mo 16. Mär 2020, 22:59

Ich versuche es noch mal.

Mit "Cogito, ergo nihil" beziehe ich mich auf die kartesische Methode, Gewissheit zu erlangen. Bekannterweise ist das Cogito Descartes' Ausgangspunkt für eine neue erste Philosophie und er macht deutlich, dass die Unmittelbarkeit der Ich-Erfahrung von seinem methodischen Zweifel, symbolisiert durch den Täuscherdämon, nicht erschüttert werden kann. Alan Musgrave nennt es die Erkenntnis "in einem einzigen intuitiven Akt" und "selbstevident". Meine "Erkenntnis" der Anderen ist eine schiere Ironie: Sie behaupten, Sie seien existent, so wie zB Jörn, sie seien ganze Personen, während ich mir nicht mal selbst ein Fundament geben kann. Wenn ich mit Russells caveat an das kartesische Ego herantrete, so muss ich konstatieren, dass mein Ich eine Historie hat und nicht so unmittelbar aus dem Moment heraus, sondern in Abgrenzung und Erlernung entstanden ist. Du schreibst das mit der Formierung durch Performierung sehr schön griffig. Da ist kein ontologisches Ich, aber das halte ich nicht aus, daher performiere ich und das muss als Ersatz für den Verlust einer unglaubwürdig gewordenen Seele reichen. Mir reicht es nicht. Daher nannte ich Jörns Existenzialismus auch eine Verzweiflungstat.

Das Leiden an der aporetischen Existenz besteht nun in einem wesentlichen Zug darin, dass ich mein Ich nur im Augenblick konstatieren kann, aber von seiner Bedrohung durch eine es vernichtende Zukunft weiß. Es gibt keinen Ausweg und da der absolute Tod das letzte bißchen Mein (eine kulturell erlernte Illusion) fressen wird - epistemologisch ist mein Tod gleichbedeutend mit dem Weltuntergang - kann ich in jedem Moment das Nichts schon kalt spüren. Das Leiden ist auch ein Verlustgefühl: ich verstehe nicht, wie man es schafft, am Verlust der Metaphysik nicht zu leiden.

Besonders gut klingt das für mich nach wie vor nicht, sorry.



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Di 17. Mär 2020, 12:57

Jetzt verstehe ich dich besser, danke.

Nur habe ich zur Zeit kein Remedium parat, z.B. ein ganz gutes Argument oder schon allein einen saloppen Hinweis, dass man aushalten könne, als Ich ein Unvollständiges zu sein - kein Rezept, das dieses Leiden lindern würde.
Aber vielleicht können wir den Blick zusammen vom Fehlen von x auf das Haben von x schwenken: Es ist doch wahr, dass uns nicht nur ein Nichts erwartet oder dass wir allein durch Mangel definiert sind. Wir sind auch Überschusswesen und vielleicht ergibt das, das Fehlen und Haben, im Schnitt eine habitable Zone für das Gefühl, dass es gut ist, wie es ist.



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Jörn Budesheim
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Di 17. Mär 2020, 18:43

Schimmermatt hat geschrieben :
Mo 16. Mär 2020, 22:59
Sie behaupten, Sie seien existent, so wie zB Jörn, sie seien ganze Personen, während ich mir nicht mal selbst ein Fundament geben kann.
Wittgenstein hat geschrieben : Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen „Ich weiß, dass das ein Baum ist“, wobei er auf den Baum in unsrer Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage zu ihm: „Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur.“
Sicherlich können wir uns Umstände ausmalen, in denen Menschen behaupten, dass sie existieren oder ganze Personen seien. Wenn wir von Philosophen und vielleicht von manchen Neurowissenschaftlern absehen, dürfte das jedoch nicht vorkommen :)

Ich für meinen Teil habe es auch nicht einfach aus dem Blauen heraus behauptet. Ein wichtiger Teil deines Eingangsstatements war ja, dass du wüsstest, du seist eine Ansammlung von Molekülen. Nun entspricht so eine Behauptung ja nicht lebensweltlichen Erfahrungen. Wie kommt man stattdessen darauf? Nun, ich vermute, indem man meint, es entspräche dem naturwissenschaftlichen Wissen. (Mit anderen Worten: hier wird einfach ein Weltbild aufgerufen!) Ich zweifle das an und ich meine, es gibt ausreichend Quellen, die zeigen, dass Lebewesen gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen eben nicht einfach Molekülansammlung sind, sondern eben Organismen. Und das macht eben einen großen Unterschied!

Das ist also nicht einfach eine Behauptung von mir gewesen, sondern ich habe es begründet.

Wenn eine der wichtigsten Prämissen deines Textes vermutlich falsch ist, dann kann das doch für den Text nicht ohne Folgen sein? Denn, wenn sich die Prämissen ändern, sollte das einen Einfluss auf die Konklusion haben.

Das ist jetzt nur eine Teil-Antwort, ich werde auch zu anderen Aspekten deines Beitrags noch etwas sagen.




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Di 17. Mär 2020, 19:02

Schimmermatt hat geschrieben :
Mo 16. Mär 2020, 22:59
kein ontologisches Ich
Ein gewisses Problem ergibt sich meines Erachtens daraus, dass wir die Begriffe sehr verschieden verwenden. Und dann kommen noch Alethos, Friederike und Herbert hinzu ... wenn alle fünf den Begriff Metaphysik z.b. anders verstehen, dann ist die Konfusion sichergestellt :))

Ich hatte ja erläutert, wie ich selbet den Begriff (Metaphysik) verstehe. Ich fände es ganz gut, wenn du kurz dein Verständnis erläutern würdest! Denn wir müssen offenbar immer in Rechnung stellen, darfst du und ich den Begriff ganz verschieden verwenden.

Ähnliches gilt für den Begriff ontologisch, der für mich nicht synonym mit metaphysisch ist. Kannst du vielleicht erläutern, was ein ontologisches Ich sein sollte?




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