Andreas Weber hat geschrieben :
...
1. Menschen sind sterblich.
2. Sokrates ist ein Mensch.
3. Sokrates ist sterblich.
Der von Bateson ins Feld geführte »poetische Syllogismus« im »Modus Gras« macht dagegen eine Erfahrung möglich, die in den Prämissen nicht enthalten ist. Sie beruht auf der geteilten empirischen Subjektivität und befähigt zu einer mitteilbaren Einsicht, für die sich gleichwohl schwer argumentieren lässt. Sie enthält das, was Bateson das »Muster, das verbindet« genannt hat, nämlich eine »poetische Objektivität«:
1. Menschen sind sterblich.
2. Gras ist sterblich.
3. Menschen sind Gras.
Diese Folgerung ist nicht im Wortsinne wahr. Genau darauf beruht ihre welterschließende Kraft. Sie ist wahr als eine auf Erfahrung beruhende oder poetische Einsicht, die nur teilen kann, wer als ein Körper begehrt.
Die poetische Dimension ist die Dimension unserer organischen Existenz, die wir verleugnen. Es ist die Welt unserer Gefühle, unserer sozialen Bindungen und von allem, was wir als bedeutsam und sinnvoll erleben. Das Poetische ist deshalb untrennbar mit der alltäglichen sozialen Kommunikation, mit Austausch und Interaktionen verbunden, mit Lachen und Betroffenheit, mit unserem Fleisch.
...
Gründe und Argumente
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Ich habe diesen Text auch bei Facebook gepostet und dort hat jemand die Erläuterung eines bekannten in zugefügt:
Erklärt von Richard Zanier
„Es hat sehr viel mit Leidenschaft, Fleischlichkeit und Sinnlichkeit zu tun. Es ist sprachwissenschaftlich.
Der Syllogismus ist im Grunde ein mathematisches Phänomen, das auf die sprachliche Kommunikation übertragen wird. Wie in einer mathematischen Gleichung werden zwei Vorgaben (Prämissen) gemacht, aus denen sich eine Schlussfolgerung (Konklusion) ergibt. Diese Schlussfolgerung wir zu einem gültigen (deduktiven) Argument.
Mensch=sterblich
Sokrates=Mensch
daraus folgt: Sokrates=sterblich ( es ist also argumentativ belegt, dass Sokrates sterblich ist)
Der Syllogismus bedarf „nur“ des Kopfes, beansprucht also rein das kognitive Zentrum, das Denkvermögen.
Der POETISCHE SYLLOGISMUS bedarf einer weiteren Fähigkeit aus dem Unterbewussten, die syllogistische Gleichungen aufstellt, welche eigentlich nicht zulässig oder wahrhaftig sind und also falsche Schlüsse und Aussagen zu wahrgenommener Wirklichkeit verwandelt (poetische Objektivität).
Du=schön
Blume=schön
daraus folgt: Du=Blume
Das ist ein poetisches Bild. Nur so wird das Poetische möglich. Es wird sozusagen zu einer sinnlichen Wahrheit, indem ein sprachliches Bild ohne gültiges (deduktives) Argument dennoch zu einer „gefühlten“ Wirklichkeit wird. Heißt also, dass das Fleisch aus mehr gemacht ist als nur dem Verstand und der Kognition und folglich auch MEHR versteht.
Wie wunderschön 🌈🙏
Na ja, das wäre es in Kürze.
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Den Suchbegriff "poetischer Syllogismus" bringt im Netz auch einiges ... Wäre vielleicht auch im Thread über die Metaphern interessant gewesen.
Das erinnert mich an die Debatte über substanzielle Schlüsse. Sehr interessanter Ansatz.
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Verstehe zwar kaum mehr als Bahnhof, aber mal sehen was noch kommt ... :)Wikipedia hat geschrieben : Bateson, der Biologe, konzentriert sich in seiner Suche nach Mustern in der Welt gängiger Erkenntnisse auf die Phylogenese. So existieren Muster im Körperaufbau eines Phänotyps, innerhalb des Körperaufbaus: eines Taxons – und schließlich zwischen Taxa. Hierbei wird zwischen phylogenetischer Homologie und serieller Homologie unterschieden: Phylogenetische Homologie ist interspezifische Ähnlichkeit und Ähnlichkeit zwischen Taxa, serielle Homologie ist Wiederholung von Mustern innerhalb eines Lebewesens.
Bateson ergänzt die Begriffe: Serielle Homologie ist Verbindung erster Ordnung, phylogenetische Homologie Verbindung zweiter Ordnung und letztlich ist der Vergleich des phylogenetisch-homologischen Vergleichs Verbindung dritter Ordnung. Über diesen Weg findet Bateson zum formal-abstrakten Gedanken, dass das entscheidende Muster ein Metamuster sein müsse, demnach eine Verbindung hoher Ordnung.[3]
Die Logik des Metamusters veranschaulicht Bateson mit Hilfe der Gegenüberstellung zweier Syllogismen:
Modus Barbara:
Alle Griechen sind Menschen.
Alle Menschen sind sterblich.
Also gilt: Alle Griechen sind sterblich.
Modus Gras:
Menschen sterben.
Gras stirbt.
Menschen sind Gras.[4]
Während Bateson Sachverhalte in der unbelebten Welt durch den Modus Barbara erklärt, seien Sachverhalte in der belebten Welt in der Logik des Modus Gras zu verstehen. Da im Belebten Muster und Relationen entscheidend sind, ist eine Logik, die sich auf scheinbar autonome Dinge konzentriert, wie es im Modus Barbara geschieht, fehl am Platz. Bateson formuliert hier also den Gedanken, dass das Belebte und dessen Sachverhalte in einer metaphorischen oder poetischen Sprache begriffen werden müssen. Was aber ist Bedingung für das evolutionäre Metamuster? Es ist der geistige Prozess.[5]
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Ich meine aber Andreas Weber geht es weniger um den poetischen Syllogismus schlechthin, sondern um diesen speziellen von Gregory Bateson.1. Menschen sind sterblich.
2. Gras ist sterblich.
3. Menschen sind Gras.
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Habe gerade dieses Zitat gefunden: „To argue is inherently to risk failure“ (Henry W. Johnstone Jr.)
Wenn man das plausibel findet, was bedeutet es für das berühmte Sokrates ist sterblich Argument? Nichts Gutes, befürchte ich.
„An argument we are guaranteed to win is no more a real argument than a game we are guaranteed to win is a real game“ (Johnstone).
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Aus demselben Buch:
Kati Hannken-Illjes, in 'Argumentation', 'Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation' hat geschrieben : ... Dabei ist ein Argument nicht das Gleiche wie ein Grund, auch wenn beide Begriffe alltagssprachlich oft synonym verwendet werden. Das Argument bezieht sich immer schon auf eine Streitfrage und beinhaltet Aussagen, die den Übergang vom Grund zur Konklusion legitimieren. Ein Grund ist also eine Aussage innerhalb eines Arguments. Ein Argument beinhaltet demnach drei Aussagen mit unterschiedlichen Funktionen. Diese Grundeinheit wird seit den Anfängen der Rhetorik als dreiteiliges Modell dargestellt.
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Und noch ein fundstück dazu ...
8 51 Ein Grieche sagt: Alle Griechen lügen. Sagt er die Wahrheit? Die Antwort gemäß der aristotelischen Logik: Ja-Nein-Ja-Nein. Ein Paradoxon, das zirkulär oszilliert, das zwar in Wirklichkeit zu beantworten wäre, aber nicht im logischen Kontext Hier stoßen wir nun allmählich in die Bereiche der Kybernetik und der Systemtheorie vor, wo von Feedback-Schleifen die Rede ist und davon, wie Systeme miteinander verbunden sind, eine Annahme die wir auch in buddhistischen Anschauung finden, deren logische Struktur den vier Zustands-Möglichkeiten, dem vollständigen Paradigma der strukturalen Linguistik entspricht:»das ist A. Das ist nicht A. Das ist zugleich A und nicht A. Das ist weder A noch nicht A.«(10) Kurz gesagt: das Lineare wird durch das Zirkuläre ersetzt, die ausschließende Kausalität durch die Oszillation.»Pántha rhei«,»alles fließt«, wir können tatsächlich nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Logik wird zum Paradigma erweitert. Dies wird schön in einem»systemtheoretischen Syllogismus«des Anthropologen, Biologen und Kybernetiker Gregory Bateson, von dem wir eingangs schon gehört haben, veranschaulicht: Menschen sterben. Gras stirbt. Menschen sind Gras. (11) Zwar ist dieser Syllogismus im klassischen Denken ungültig, weil die Subjekte und Prädikate nicht in der vorgeschriebenen Ordnung erscheinen, aber hier haben wir ein Paradigma der Zusammenhänge, wohingegen in der klassischen Logik, ein System der Ausschließung gesetzt wird. Menschen sterben. Gras stirbt. Menschen sind Gras.
9 52 Wer erkennt hier noch den Unterschied zwischen Philosophie und Poesie? Gibt es eine poetische Logik oder gar eine logische Poesie? Haben wir es mit einem Epigramm oder vielleicht sogar mit einem Haiku zu tun? Eine wissentliche oder unwissentliche Anspielung an das so bekannte»sommergras«-haiku von Matsuo Bashô? natsugusa ya tsuwamono-domo ga yume no ato Gräser des Sommers Sommergras von all den stolzen Kriegern ist alles, was geblieben ist die Reste des Traums (12) vom Traum des Kriegers. (13) Man mag auch an ein anderes Haiku von Bashô erinnert werden: tomokakumo narade ya yuki no kareobana somehow, in some way, it has managed to survive pampas grass in the snow (14) irgendwie hat es geschafft zu überleben dürres Gras im Schnee Ich weiß es nicht, nehme aber Zusammenhänge und Andeutungen wahr und die Auflösung von Grenzen. Nehme wahr, wie sich Denkordnungen in erweiterte Wahrnehmungsmöglichkeiten verwandeln, wie aus dem Tatsachensinn ein Möglichkeitssinn wird, um zwei Begriffe von Robert Musil aufzugreifen.
Das Thema finde ich äusserst spannend. Dem streng logischen (formalen) Syllogismus wird ein feinfühliger, die Sinn- und Bedeutungszusammenhänge würdigender Syllogismus zur Seite gestellt. Und das stimmt nach Jahrhunderten der klassischen Logik und der formalen Logik doch recht hoffnungsvoll.
Wo es der Logik um Analyse geht, also dem Deduzieren von diesem aus jenem, scheint es bei der "poetischen Logik" eher darum zu gehen, in einer synthetisierenden Bewegung dieses mit jenem zu verbinden. Das "System der Ausschliessung" wird erweitert um ein inklusives System der Zusammenhänge: das Tertium non datur - der Inbegriff des Entwederoder - wird aufgebrochen und ergänzt durch ein Sowohl-als-auch.
Die bereits angesprochene Nähe zur Metaphorologie zeigt sich deutlich in der Möglichkeit, Bedeutung von den eigentlichen Begriffen zu lösen und sie in der Atmosphäre der Zusammenhänge aufblühen zu lassen, d.h. Begriffe, Aussagen, Urteile gewinnen ihre Kraft nicht durch das Konventionelle, durch die Rigidität formalistischer Verwendung, sondern durch die feingliedrige, zarte Kontextualität, die sie miteinander ausbilden.
Die Begriffe <Schiff> und <Ufer> in "Das Schiff geht unter" oder "Hinauf zu neuen Ufern" stehen - metaphorologisch verwendet - für etwas anderes als Schiffe und Ufer im eigentlichen Wortsinn. Sie stehen für etwas anderes, d.h. das, was diese Begriffe bedeuten, zeigt sich in der Übertragung von einer Begriffsbedeutung auf die andere. Aber diese Übertragung liesse sich nicht leisten, wenn die Begriffe nicht in einen Zusammenhang gebracht würden, in welchem sie einander diese Bedeutung gäben. Ein "Schiff" kann stehen für eine Unternehmung oder die Volkswirtschaft im Allgemeinen, das "Ufer" für das Neue, aber sie können eine metaphorologische Erweiterung nur erfahren, wenn sie poetisch (oder eidetisch) verknüpft sind, nicht nur (begriffs)logisch.
Ein Schiff ist ein System.
Die Wirtschaft ist ein System.
Die Wirtschaft ist ein Schiff.
Das Schiff kann untergehen.
Die Wirtschaft auch.
Dieses quasi-syllogistische Verfahren des Verknüpfens zeigt, dass es bei der Metaphorogie oder der Poesie gerade nicht darum geht, das eine aus dem anderen abzuleiten und so in Zusammenhang zu stellen, dass ein Drittes nicht möglich wird: Das Dritte und Vierte - ja- das indefinit Viele soll möglich sein und möglich ist es für die, die den entsprechenden Sinn aktivieren: den Sinn für das Verbindende, das Atmosphärische. Aber es bedarf auch eines empathischen Sinns, denn wo sich das andere nicht stringent aus dem anderen ergibt, so muss mit Mitgefühl an die Sache herangegangen werden, um jene Zusammenhänge erkennen zu wollen, die da hergestellt werden können. Die poetische Logik ist eine mitfühlende.
Wo es der Logik um Analyse geht, also dem Deduzieren von diesem aus jenem, scheint es bei der "poetischen Logik" eher darum zu gehen, in einer synthetisierenden Bewegung dieses mit jenem zu verbinden. Das "System der Ausschliessung" wird erweitert um ein inklusives System der Zusammenhänge: das Tertium non datur - der Inbegriff des Entwederoder - wird aufgebrochen und ergänzt durch ein Sowohl-als-auch.
Die bereits angesprochene Nähe zur Metaphorologie zeigt sich deutlich in der Möglichkeit, Bedeutung von den eigentlichen Begriffen zu lösen und sie in der Atmosphäre der Zusammenhänge aufblühen zu lassen, d.h. Begriffe, Aussagen, Urteile gewinnen ihre Kraft nicht durch das Konventionelle, durch die Rigidität formalistischer Verwendung, sondern durch die feingliedrige, zarte Kontextualität, die sie miteinander ausbilden.
Die Begriffe <Schiff> und <Ufer> in "Das Schiff geht unter" oder "Hinauf zu neuen Ufern" stehen - metaphorologisch verwendet - für etwas anderes als Schiffe und Ufer im eigentlichen Wortsinn. Sie stehen für etwas anderes, d.h. das, was diese Begriffe bedeuten, zeigt sich in der Übertragung von einer Begriffsbedeutung auf die andere. Aber diese Übertragung liesse sich nicht leisten, wenn die Begriffe nicht in einen Zusammenhang gebracht würden, in welchem sie einander diese Bedeutung gäben. Ein "Schiff" kann stehen für eine Unternehmung oder die Volkswirtschaft im Allgemeinen, das "Ufer" für das Neue, aber sie können eine metaphorologische Erweiterung nur erfahren, wenn sie poetisch (oder eidetisch) verknüpft sind, nicht nur (begriffs)logisch.
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Die Wirtschaft ist ein Schiff.
Das Schiff kann untergehen.
Die Wirtschaft auch.
Dieses quasi-syllogistische Verfahren des Verknüpfens zeigt, dass es bei der Metaphorogie oder der Poesie gerade nicht darum geht, das eine aus dem anderen abzuleiten und so in Zusammenhang zu stellen, dass ein Drittes nicht möglich wird: Das Dritte und Vierte - ja- das indefinit Viele soll möglich sein und möglich ist es für die, die den entsprechenden Sinn aktivieren: den Sinn für das Verbindende, das Atmosphärische. Aber es bedarf auch eines empathischen Sinns, denn wo sich das andere nicht stringent aus dem anderen ergibt, so muss mit Mitgefühl an die Sache herangegangen werden, um jene Zusammenhänge erkennen zu wollen, die da hergestellt werden können. Die poetische Logik ist eine mitfühlende.
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Ich kann dazu noch nicht viel sagen, außer dass ich gestern ein paar Zeilen dazu gelesen hab und da kamen diverse arabische Denker sowie Aristoteles vor! Auf jeden Fall ist die Art und Weise, wie wir unsere Ansichten begründen ziemlich vielfältig, gelinde gesagt :)
Zu dem Rest deines Beitrages hoffe ich in den nächsten Tagen etwas sagen zu können.
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David Lauer über John McDowell hat geschrieben : Die Welt der Gründe ist nicht die Innenwelt, sondern die wirkliche Welt. Die Gründe, welche die Wahrnehmung uns für unsere Überzeugungen und unser Handeln präsentiert, sind keine satzförmigen Vorkommnisse im Geiste, sondern die Verfasstheit der Welt selbst: „Erfahrung ermächtigt die Beschaffenheit der Realität selbst, einen rationalen Einfluß auf das Denken eines Subjekts auszuüben“
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Oliver R. Scholz, Grundbegriffe der Philosophie hat geschrieben : Rechtfertigung
Es kennzeichnet Personen, dass sie – zumindest gelegentlich – in ihren Überzeugungen und Handlungen gerechtfertigt sind. Oft sind sie auch in der Lage zu rechtfertigen, was sie glauben und tun. Obwohl beides häufig miteinander einhergeht, ist es auch möglich, gerechtfertigt zu sein, ohne rechtfertigen zu können. Bezeichnet man etwas als gerechtfertigt, schreibt man ihm einen Wert (gemessen an bestimmten Standards) zu. Man rechtfertigt etwas, indem man Gründe für es angibt. Nach der Natur der Maßstäbe bzw. Gründe unterscheidet man Klugheitsgründe, moralische Gründe und Erkenntnisgründe.
...
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Da ich gestern hier vorbeigekommen bin, habe ich diesen Beitrag noch einmal oder zweimal gelesen. Mir scheint, deine Betrachtung von Logik im Unterschied zur poetischen Logik ist eher an dem orientiert, was du selbst unter Logik verstehst. Du schreibst zwar am Anfang, dass die poetische Logik der Logik zur Seite gestellt wird, aber letztlich läuft alles, was du ausführst, auf einem ziemlich scharfen Gegensatz hinaus: wo das eine streng und regide ist, ist das andere feinfühlig, zart und mitfühlend. Wo das eine analytisch ist, also zergliedern und trennend, ist das andere synthetisch also zusammenfügend.Alethos hat geschrieben : ↑So 24. Mai 2020, 14:33Das Thema finde ich äusserst spannend. Dem streng logischen (formalen) Syllogismus wird ein feinfühliger, die Sinn- und Bedeutungszusammenhänge würdigender Syllogismus zur Seite gestellt. Und das stimmt nach Jahrhunderten der klassischen Logik und der formalen Logik doch recht hoffnungsvoll.
Wo es der Logik um Analyse geht, also dem Deduzieren von diesem aus jenem, scheint es bei der "poetischen Logik" eher darum zu gehen, in einer synthetisierenden Bewegung dieses mit jenem zu verbinden. Das "System der Ausschliessung" wird erweitert um ein inklusives System der Zusammenhänge: das Tertium non datur - der Inbegriff des Entwederoder - wird aufgebrochen und ergänzt durch ein Sowohl-als-auch.
Die bereits angesprochene Nähe zur Metaphorologie zeigt sich deutlich in der Möglichkeit, Bedeutung von den eigentlichen Begriffen zu lösen und sie in der Atmosphäre der Zusammenhänge aufblühen zu lassen, d.h. Begriffe, Aussagen, Urteile gewinnen ihre Kraft nicht durch das Konventionelle, durch die Rigidität formalistischer Verwendung, sondern durch die feingliedrige, zarte Kontextualität, die sie miteinander ausbilden.
Die Begriffe <Schiff> und <Ufer> in "Das Schiff geht unter" oder "Hinauf zu neuen Ufern" stehen - metaphorologisch verwendet - für etwas anderes als Schiffe und Ufer im eigentlichen Wortsinn. Sie stehen für etwas anderes, d.h. das, was diese Begriffe bedeuten, zeigt sich in der Übertragung von einer Begriffsbedeutung auf die andere. Aber diese Übertragung liesse sich nicht leisten, wenn die Begriffe nicht in einen Zusammenhang gebracht würden, in welchem sie einander diese Bedeutung gäben. Ein "Schiff" kann stehen für eine Unternehmung oder die Volkswirtschaft im Allgemeinen, das "Ufer" für das Neue, aber sie können eine metaphorologische Erweiterung nur erfahren, wenn sie poetisch (oder eidetisch) verknüpft sind, nicht nur (begriffs)logisch.
Ein Schiff ist ein System.
Die Wirtschaft ist ein System.
Die Wirtschaft ist ein Schiff.
Das Schiff kann untergehen.
Die Wirtschaft auch.
Dieses quasi-syllogistische Verfahren des Verknüpfens zeigt, dass es bei der Metaphorogie oder der Poesie gerade nicht darum geht, das eine aus dem anderen abzuleiten und so in Zusammenhang zu stellen, dass ein Drittes nicht möglich wird: Das Dritte und Vierte - ja- das indefinit Viele soll möglich sein und möglich ist es für die, die den entsprechenden Sinn aktivieren: den Sinn für das Verbindende, das Atmosphärische. Aber es bedarf auch eines empathischen Sinns, denn wo sich das andere nicht stringent aus dem anderen ergibt, so muss mit Mitgefühl an die Sache herangegangen werden, um jene Zusammenhänge erkennen zu wollen, die da hergestellt werden können. Die poetische Logik ist eine mitfühlende.
Du setzt deine Hoffnung auf die "poetische Logik", aber die Hand geführt hat dir dabei die "rigide Logik", wie mir scheint :)
Ich auch :) ich frage mich allerdings immer noch, was ich mir unter einer poetischen Logik ausmalen soll, obwohl ich durchaus das Gefühl habe, dass diese Redeweise sehr angemessen ist, bzw sein kann. Der Begriff ist mir schließlich schon öfter in den Sinn gekommen, und anderen anscheinend ebenso.
Nehmen wir ein sehr berühmtes Beispiel:
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
Die Nähe zur "rigiden Logik" sehe ich hier darin, dass die Verse von Rilke auf eine Konklusion hinauslaufen: du musst dein Leben ändern. Ganz ähnlich ist es bei dem Gedicht von Brinkmann:
Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich
mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden, Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem
Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?
Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
Auch dieses läuft auf einen "Schluss" hinaus. Ähnlich wie Rilke stellt Brinkmann dem "Ist" eine zukünftige Möglichkeiten entgegen: das andere Blau bzw das andere Leben. Das ist in Poesie und Kunst oft ein Thema: alles könnte anders sein.
Die Sache mit dem "Schluss" finde ich wichtig und bemerkenswert. Bei meinen Recherchen zur Poesie im Verhältnis zur Logik habe ich gefunden (leider nicht gespeichert) dass es in den Anfängen der Poesie oftmals Lehrgedichte gab - manchmal in moralischer Absicht. Sowohl bei Rilke als auch bei Brinkmann scheint mir das noch etwas durchzuschmecken. Zudem erinnert mich der Ausdruck "Schluss" an ein Hegel Zitat von Byung-Chul Han: "alles denken ist ein Schluss" (Leider aus der Erinnerung zitiert, ich werde gleich mal nachschauen, ob ich es finde.)
...
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Auf die Schnelle noch etwas anderes, eine weitere Überlappung. Manche klassische logische Formen und manche klassische "Gedichtformen" sind sich formal ähnlich:
Auf einem blattlosen Ast
Eine Krähe kommt zur Ruhe -
Herbstnachtfall
--------
Alle Menschen sind sterblich
Sokrates ist ein Mensch
Sokrates ist sterblich
Nichts auf der Welt kann mich daran hindern, diesen berühmtesten aller Syllogismen im Modus der ästhetischen Erfahrung als ein Klagegedicht zu lesen. Noch deutlicher wird das, wenn man den Vers eine Überschrift gibt, z.b. Sokrates is alive - dann ist es praktisch nicht mehr möglich, an dem philosophisch poetischen Gehalt der drei Zeilen vorbeizukommen.
:)
Auf einem blattlosen Ast
Eine Krähe kommt zur Ruhe -
Herbstnachtfall
--------
Alle Menschen sind sterblich
Sokrates ist ein Mensch
Sokrates ist sterblich
Nichts auf der Welt kann mich daran hindern, diesen berühmtesten aller Syllogismen im Modus der ästhetischen Erfahrung als ein Klagegedicht zu lesen. Noch deutlicher wird das, wenn man den Vers eine Überschrift gibt, z.b. Sokrates is alive - dann ist es praktisch nicht mehr möglich, an dem philosophisch poetischen Gehalt der drei Zeilen vorbeizukommen.
:)
Es müsste uns erstaunen, wenn sich Logik und Poesie nicht überlappten. Ein Gedicht hat ebenso argumentative Form. Auch ein Gedicht will begünstigen, dass wir die Wirklichkeit erfahren und sei es auch die Wirklichkeit der Gefühlswelt, die es anzusprechen vermag.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 6. Nov 2020, 07:23Nichts auf der Welt kann mich daran hindern, diesen berühmtesten aller Syllogismen im Modus der ästhetischen Erfahrung als ein Klagegedicht zu lesen.
Aber wo das logische Argument auf apodiktische oder assetorische Schlüsse setzt, setzt das poetische Argument auf die Kraft empatischer Produktivität. Es ist eine um existenzielle Dimensionen erweiterte Logik. Das eine schliesst das andere ein, meine ich.
Es ist schwierig sich vorzustellen, dass wir von uns sagen können, wir hätten ein Gedicht verstanden, wenn wir bloss sein metaphorisch dargebotenes begriffslogische Argument verstehen. Wir meinen mit „ein Gedicht verstehen“ nicht nur, dass wir wissen, was es uns sagen will, sondern wir meinen damit, dass wir fühlen gemacht worden sind durch ihn auf eine Weise. Dass wir mit ihm in Einklang sind, in Zwietracht liegen, dass wir verängstigt, verstört, erfreut, entzückt usw. worden sind. Dass wir hineingezogen wurden in eine völlig reale emotionale Dimension. Sie ist eine substanzielle, eine „saftige“, eine lebendige, weil in ihr alles das zum Tragen kommt, was Wert hat: Verletzlichkeit, Lebensfreude, Angst, Trauer, Schauer und Hoffnung. Und natürlich vieles mehr.
Ein Gedicht also öffnet uns ein Fenster hinein in die Wirklichkeit aus der Optik der Gefühle, die sie bewirkt. Und das hat argumentative Form, weil jedes Argument eines für die Wahrheit ist. Auch für die Wahrheit der Gefühle und Empfindungen.
Das folgende Beispiel von Heinrich Heine:
Sie erlischt
Der Vorhang fällt, das Stück ist aus,
Und Herrn und Damen gehn nach Haus.
Ob ihnen auch das Stück gefallen?
Ich glaub, ich hörte Beifall schallen.
Ein hochverehrtes Publikum
Beklatschte dankbar seinen Dichter.
Jetzt aber ist das Haus so stumm,
Und sind verschwunden Lust und Lichter.
Doch horch! ein schollernd schnöder Klang
Ertönt unfern der öden Bühne;
Vielleicht, daß eine Seite sprang
An einer alten Violine.
Verdrießlich rascheln im Parterr
Etwelche Ratten hin und her,
Und alles riecht nach ranzgem Öle.
Die letzte Lampe ächzt und zischt
Verzweiflungsvoll und sie erlischt.
Das arme Licht war meine Seele.
Es wird für mich an diesem Gedicht vieles deutlich: Wir können in diesen Theatersaal eintreten, wir können die Melancholie, wir können die aufmerksame Stille spüren. Aber wir können nicht sagen, dass es uns kalt lässt, wenn wir die Bühne des Lebens betreten oder verlassen.
Das Leben als Bühne zu beschreiben, das ist etwas logisch Stringentes. Es ist als Metapher eine rhetorische Hinwendung zur Wirklichkeit, dass das Leben (auch) eine Bühne ist: mit festgelegten Rollen, mit Kritikern, Zuschauern, Zuhörern. Mit einsamen Abenden und mit geselligen Höhepunkten. Die „Struktur der Wirklichkeit des Lebens“ ist die, dass sie der Struktur des Treibens in einem Theatersaal gleicht. Das ist logisch, das eine aus dem anderen zu schliessen, weil beides strukturähnlich ist. Hier nähert sich mit logischen Mitteln dieser Wirklichkeit, wer sie metaphorisch beschreibt. Und darum haben wir es hier nicht mit einer reinen begrifflichen Logik zu tun, also einer mengentheoretischen Logik, sondern mit einer, in der das Existenzielle thematisch wird: die lebendige Wirklichkeit. Die Kraft der Poesie liegt deshalb nicht allein darin, dass sie z.B. mit Metaphern eine Übertragung von Begriffen auf andere leistet und dadurch Sinnpotenziale schafft, sondern dass sie fühlen macht und uns dadurch an unser Wesentlichstes heranführt: dass wir empfindsame, mitfühlende Wesen sind.
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Alle lächeln in derselben Sprache.
Alle lächeln in derselben Sprache.
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Zunächst erst einmal will ich das Zitat korrekt nachliefern. Hier die fragliche Stelle, zuzüglich Hans "Auslegung" des Zitats.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 6. Nov 2020, 06:47Zudem erinnert mich der Ausdruck "Schluss" an ein Hegel Zitat von Byung-Chul Han: "alles denken ist ein Schluss" (Leider aus der Erinnerung zitiert, ich werde gleich mal nachschauen, ob ich es finde.)
Byung-Chul Han, Bitte Augen schließen, Auf der Suche nach einer anderen Zeit, Die Zeit der Stille hat geschrieben : In der Wissenschaft der Logik‹ schreibt Hegel: »Alles Vernünftige ist ein Schluss.« Für Hegel ist der Schluss keine formallogische Kategorie. Ein Schluss ergibt sich, wenn der Anfang und das Ende eines Prozesses einen sinnvollen Zusammenhang, eine sinnvolle Einheit bilden, wenn sie ineinander greifen. So ist die Narration ein Schluss. Aufgrund ihres Schlusses bringt sie einen Sinn hervor. Auch Rituale und Zeremonien sind Schlussformen. So haben sie ihre Eigenzeit, ihren eigenen Rhythmus und Takt. Sie stellen narrative Prozesse dar, die sich der Beschleunigung entziehen. Es wäre ein Sakrileg, eine Opferhandlung zu beschleunigen. Endlos beschleunigen lässt sich dagegen der Prozessor, weil er nicht narrativ, sondern bloß additiv arbeitet. Narrationen lassen sich nicht beliebig beschleunigen. Die Beschleunigung zerstört ihre eigenwüchsige Sinn- und Zeitstruktur. Beunruhigend an der heutigen Zeiterfahrung ist nicht die Beschleunigung als solche, sondern der fehlende Schluss, d.h. der fehlende Takt und Rhythmus der Dinge.
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Hier sieht man ganz schön unseren Dissens. Ich habe eine ganz andere Vorstellung davon, was Gefühle sind. Nach dieser Vorstellung passt in diesen Satz das Wörtchen "sondern" nicht hinein. In erster Annäherung würde ich es so umformulieren, damit es für mein Verständnis von Gefühlen passt: Wir meinen mit „ein Gedicht verstehen“, dass wir wissen, was es uns sagen will, indem wir fühlen gemacht worden sind durch ihn auf eine Weise.
Gefühle sind Wahrnehmungen. Es geht bei Ihnen also auch um Wahrheit. Die Gesetze des Wahrseins (=Logik) sind hier nicht außer Kraft.