Sein, Seiendem und ...*seufz*

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Alethos
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Fr 26. Jun 2020, 23:01

Ich weiss noch nicht, ob ich dieses Tanz-Beispiel wirklich überzeugend finde, aber es lässt sich vielleicht damit etwas anfangen.

Der Tanz scheint irgendwie vorher da zu sein, damit das Tun von Individuen ein Tanzen sein kann. Die Tanzenden ergeben keinen Tanz, wenn sie auch einen Tanz tanzen, die Seienden kein Sein, auch wenn sie Sein haben. Das Sein scheint so gesehen vorgelagert, das, was das Seiende zum
Seienden macht. Es hat ein eigenes Sein - das Sein des Seins. Es wird bei den Seienden offenkundig, aber es bleibt in seinem Sein als Sein verborgen. Wir können das Sein nur durch die Seienden denken.



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Stefanie
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Fr 26. Jun 2020, 23:46

Wie kann etwas, was erst erschaffen werden muss (hier der Tanz), vor dem da sein, der es erschaffen hat?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Nauplios
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Sa 27. Jun 2020, 02:38

Stefanie hat geschrieben :
Fr 26. Jun 2020, 20:50


Können wir beim Anfang anfangen?

Es werden unbestimmte Begriffe mit unbestimmten Begriffen definiert [...]

Das ist doch keine Definition, keine Beschreibung. Um Dasein zu verstehen, muss man wissen, was Seiendes ist, und um das zu verstehen, muss man wissen, was Sein ist. Das ist irgendwie ein geschlossener Zirkel.
Stefanie hat geschrieben :
Fr 26. Jun 2020, 14:33
Mein alltägliches Verständnis ...
Definition - bei Kant heißt es in der Kritik der reinen Vernunft an einer Stelle, "daß in der Philosophie die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließe, als anfangen müsse."

Der Verstehenszug hat viele Haltestellen, sei es in Bonn oder Gunten. Die Hoffnung, daß während der Fahrt Definitionen-to-go gereicht werden, nach deren Genuß sich ein ungetrübter Blick auf den Grund der Dinge einstellt, widerspricht jeder Erfahrung mit Bordpersonal und Service. Philosophische Verstehenszüge werden häufig auf Nebengleise geleitet, um die Hochgeschwindigkeitszüge der Wissenschaften vorbeizulassen, verlieren bei Steigungen an Fahrt und haben notorisch Verspätung. Selbst in der Ersten Klasse hört man die Durchsage des Zugbegleiters aus Königsberg, daß "in der Philosophie die Definition daß Werk eher schließe als anfangen müsse." -

Der Wunsch nach Definitionen, möglichst klaren und unmissverständlichen, bleibt unerfüllt. Stattdessen droht ein Dilemma, das den Logiker das Fürchten lehrt: ein Zirkel. Der Zirkel ist der Michael Myers unter den Horrorgestalten des mit scharfer Munition bewaffneten Denkens. Seine Waffen sind Argument, Begründung, Wahrheit. Macht sich einer des Ungefähren, Vagen oder Vorläufigen verdächtig, greifen die Routinen des philosophical profiling: "Ausweiskontrolle! Bitte einmal Definition, Begründung und philosophisches Führungszeugnis!" - Ist der Zirkel auch noch ein geschlossener, regt sich der Anfangsverdacht eines Ausbruchs aus einer hermeneutischen Nervenheilanstalt.

Denn nur hier, in der Hermeneutik, gibt es Zirkel, in denen man sich zu Recht wie ein Insasse einer geschlossenen Abteilung vorkommen darf. Vor allem der hermeneutische Zirkel des Verstehens - gleichsam ein Verstehenszug, der wie eine Modelleisenbahn im Kreis fährt - ist hier von Bedeutung. Auf diesen Verstehenszug darf man nicht warten; auf ihn muß man aufspringen. Sein Tempo läßt das zu. - Hat man sein Abteil dann gefunden, sollte man sich auf eine lange Reise einstellen. Der Zug durchfährt in seiner Kreisbahn immer wieder die langsam vertrauter werdende Landschaft. Hohe fundamentalontologische Gebirgsketten mit nebelverhangenen Seins-Gipfel wechseln sich ab mit metaphysisch tiefen Schluchten. Dazwischen gelegentlich Ödnis. -

Mit jeder Durchfahrt wird die Landschaft vertrauter, gewinnt an Kontur. Nebel lichten sich. Der Zugreisende erwacht aus seiner Seinsvergessenheit. Er kennt sich aus, wird Teil des Geschehens.

"Können wir beim Anfang anfangen?" - Ja, und dieser Anfang ist Dein "alltägliches Verständnis". Der Anfang ist nicht die Definition. In ihrem Namen trägt die De-finition (finis) bereits das Ende. "Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes", sagt Goethe in seinen Maximen und Reflexionen. Das gilt auch für Definitionen. Man verspricht sich davon Klarheit und Eindeutigkeit, Verkürzung unnötigen Wartens und schließlich treffsichere Kommunikation.

Doch so wird man einem Philosophen wie Heidegger (oder auch Blumenberg) nicht beikommen. Das Verlangen nach Definitionen ist Ausdruck jenes speed-datings, das von einer Philosophie alsbald wissen will, woran man bei ihr ist. - Ich denke, daß hier vorsichtige und geduldige Annäherungsversuche a la long mehr Charme entwickeln und damit Aussicht auf Erfolg haben. Dazu gehört die Aneignung historischen Materials (wie oben schon erwähnt) und das Schärfen von Konturen und Denkfiguren vor dem Hintergrund dieses Materials. - Heideggers Philosophie in Sein und Zeit bedarf der Co-Lektüre von Platon und Aristoteles. Denn Heidegger selbst entwickelt seine Gedanken ja nahezu durchgehend vor deren Hintergrund.

Das Verstehen braucht Raum, sich zu ent-falten, will es nicht in einer Falte steckenbleiben. Es braucht Spielräume, um sich bewegen zu können. Definitionen sind da eher Einschränkungen, die das wilde Denken frühzeitig kanalisieren. Natürlich darf man nicht auf seinem "alltäglichen Verständnis" trotzig beharren; man muß der angebotenen Denkbewegung folgen. Es muß Bewegung im Spiel sein. -




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 07:57

Alethos hat geschrieben :
Fr 26. Jun 2020, 23:01
Der Tanz scheint irgendwie vorher da zu sein...
Zunächst geht es hier einfach um eine bestimmte geregelte Art und Weise, wie wir reden. Dass wir Deutsch können, darf Heidegger wohl voraussetzen :)
  • Wir haben also das Tunwort "tanzen": Adam und Eva tanzen.
  • Das kann ich umformen in das Gegenstandswort "Tanz". Damit bekomme ich jedoch auch etwas anderes in den Blick, in diesem Fall eben den Tanz.
  • Und auch das folgende ist eine ganz normale grammatische Möglichkeit, wir können schließlich von den "Tanzenden" reden, im vorliegenden Fall also von Adam und Eva.
Das gehört zu den Dingen, die wir lernen, wenn wir sprechen lernen, also zu unserem alltäglichen Reden. Dabei muss man natürlich nicht stehen bleiben und dann entstehen die wohlbekannten philosophischen Probleme, die uns ungefähr seit zweieinhalb Tausend Jahren oder länger umtreiben :)

Dieses alltägliche Reden stellt Heidegger in Rechnung. Jedoch spricht er nicht vom "tanzen" sondern vom "sein". Die Philosophie ist schließlich die Wissenschaft vom ganz Allgemeinen. "Jeder versteht: der Himmel ist blau, ich bin froh und dergleichen. Allein diese durchschnittlicher Verständlichkeit [...] macht offenbar, dass [...] wir je schon in einem Seins-Verständnis leben und der Sinn von Sein ist [...]" (Heidegger) Er fängt, wenn man so möchte, genau da an, wo wir hier gerade sind. Wir verstehen einfache Urteile "wie der Himmel ist blau", "ich bin froh" und dergleichen mehr. Wir können sicherlich auch problemlos die entsprechenden grammatikalischen Umformungen vollziehen und landen dann beim "Sein". Wenn wir aber in dieser Stelle inne halten und ins philosophischen Sinnieren kommen, stellen wir fest: einerseits haben wir ein einfaches Verständnis, wovon hier die Rede ist, aber andererseits ist es zugleich "in Dunkel gehüllt". Eine einfache Definition kommt uns nämlich nicht von den Lippen. Warum ist das so? Der Verweis darauf, dass es in der Philosophie ebenso ist, bringt uns ja nicht wirklich weiter!

Begriffsstutzigkeit ist eine der größten philosophischen Tugenden habe ich mal irgendwo gelesen. Die Begriffsstutzigkeit kann einen hier in ganz verschiedenen Richtungen führen. Man kann versucht sein, zu sagen, es handle sich hier einfach um eine grammatikalische Illusion. Entsprechend findet man dann z.b. im Lexikon: "Philosophien, in denen ein Sein als Unikat zum Gegenstand der Theoriebildung geworden ist, sind bislang nur entwickelt worden in sprachl. Kulturen, in denen die Kopula ›ist‹ für normale Aussagesätze verwendet wird und in deren Syntax auch ein Infinitiv ›sein‹ vorkommt – so in den meisten indoeuropäischen, dagegen nur in wenigen slawischen Sprachen und z. B. nicht in Sprachen semitischen Ursprungs. Die west- und mitteleuropäischen Philosophien (↑Ontologie) berufen sich dabei fast ausnahmslos auf antike und mittelalterliche Traditionen, in denen das Sein als pränumerischer Sammelbegriff für ›Seiendes‹ eingeführt worden ist."

Eine andere Möglichkeit habe ich in meinem Beitrag gestern angedeutet. Und es scheint mir ziemlich offenbar so sein, dass Heidegger auch einen anderen Weg geht. Und so wie man "tanzen" nicht durch Definition des Begriffs "tanzen" lernen kann, kann man auch auf diesem Weg nur etwas erreichen, wenn man ihn wenigstens ein kleines Stück mitgeht.

Einerseits ist die Philosophie also die schnellste Wissenschaft und andererseits die langsamste. Man kommt nämlich in wenigen Sekunden von 0 auf 100, indem man die allereinfachsten Dinge betrachtet und plötzlich beim Absoluten landet. Andererseits kommt man damit zu einer Diskussion, die auch noch zweieinhalb Tausend Jahren nicht beendet ist.

Das ist allerdings kein zufälliges Faktum, sondern es sagt uns etwas über uns selbst.




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Sa 27. Jun 2020, 09:21

Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 02:38
Der Anfang ist nicht die Definition
Man könnte ebenso gut sagen, es ist genau umgekehrt:

Der Anfang ist die Definition.

Wobei auch hier, wie sollte es auch anders sein, die Begriffe vieldeutlig sind. Wie auch immer: wir kommen in die Sprache durch Definitionen und zwar durch deiktische Definition: "Das da ist ein Baum." Wir zeigen mit dem Finger drauf: "Das da ist ein Tisch!" So lehren wir unsere Kinder die Sprache: "der Himmel ist blau." Und dieser Anfang ist Definition. In dieser Triangulation sind Sprache, Leben und Wirklichkeit ineinander eingebettet und verknüpft.

Man kann sich an dieser Stelle fragen, was für eine Art von Anfang hier eigentlich vorliegt. Ein zeitlicher Anfang? Ein logischer Anfang? Was sind die Bedingungen der Möglichkeiten dafür, dass wir so anfangen können? Und was genau fängt da eigentlich an?

Und dann kommen darüber hinaus diverse knifflige Fragen ins Spiel: auf "das Sein" können wir nicht zeigen. Aber ist es ihm zeigen nicht immer schon vorausgesetzt? Wir können jedoch problemlos auf "Seiendes" zeigen. Wir können auf Tische zeigen, wir können auch in einem weiteren Sinn auf Tanzende zeigen, aber wir können z.b. auch nicht auf "die Welt" zeigen. Dennoch können wir als Menschen den Verdacht haben, dass es da "ein Ganzes" gibt, in dass wir "eingebettet" sind ...

Was zeigt uns das, dass wir nicht auf alles zeigen können? 😬




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Sa 27. Jun 2020, 09:48

Nauplios hat geschrieben :
So 14. Jun 2020, 19:23
warten wir doch diese Wirkung einfach ab
Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 02:38
Das Verstehen braucht Raum, sich zu ent-falten, will es nicht in einer Falte steckenbleiben. Es braucht Spielräume, um sich bewegen zu können.
Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 02:38
geduldige Annäherungsversuche a la long




Nauplios
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Wir können auf dieses und jenes zeigen. Ich hab' ja auch auf etwas gezeigt, auf die Stelle A730 in der Kritik der reinen Vernunft, an der Kant schreibt, daß die Definition das Werk "eher schließe als anfangen müsse". Mit dem Zeigen verbindet sich die Hoffnung, daß der Andere auf das Gezeigte schaut, zumindest in die Richtung des Gezeigten schaut. Vielleicht sieht er ja etwas, was dem Zeigenden noch nicht aufgefallen ist. Dann kann man ins Gespräch kommen. - In eine völlig andere Richtung zu schauen, ist aber auch möglich.
Zuletzt geändert von Nauplios am Sa 27. Jun 2020, 10:58, insgesamt 1-mal geändert.




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Sa 27. Jun 2020, 10:25

Nun gibt es jedoch (anders als du suggerierst) viele verschiedene Formen von Definitionen. Darauf habe ich gezeigt. Und nach einer Definition zu fragen, das ist nicht einfach generell ein Zeichen von philosophischer Ungeduld, sondern das ist bereits ein Teil der Fragestellung.




Nauplios
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Um dem Sein und dem Seienden bei Heidegger auf die Spur zu kommen, wäre es von Vorteil - sofern man ein Forum und seine Möglichkeiten dazu nutzen will - gemeinsam auf Stellen zu schauen, an denen Heidegger über Sein und Seiendes schreibt. Wenn man, um das zu verstehen, einige Passagen aus dem aristotelischen Organon im Voraus betrachtet, kann das den Vorteil noch vergrößern. -

Auf ein solches Vorgehen kann man niemanden verpflichten. Es wäre halt eine Möglichkeit (gewesen), auf den Verstehenszug aufzuspringen und mal eine Runde mitzufahren. Man kann auch im Bahnhof bleiben und die Fahrpläne studieren. "Guck mal: wollen wir nicht mal nach Deixis fahren?" - Oder man wirft sich kurzerhand vor den Zug. Dann bleibt am Ende nur noch das titelgebende *seufz*. ;)

Ich will jetzt mal nicht länger in diesem Thread den Fahrkarten-Kontrolleur geben, wünsche Euch ein schönes Wochenende und gute Reise! :)




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Sa 27. Jun 2020, 11:18

Stefanie hat geschrieben :
Do 25. Jun 2020, 20:00
Levinas
Um auf Heideggers Sein und sein Seiendes zu kommen, ist es am besten, wenn man sich auf das Geschäft des Philosophierens einlässt. Und das tun wir hier, jeder und jede in seiner oder ihrer Art. Einige stehen dabei für das, was sie sagen ein und sind bereit, auf Einwände zu antworten, andere nicht.




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Kant hat geschrieben : [Es] können auch mangelhafte Definitionen, d. i. Sätze, die eigentlich noch nicht Definitionen, aber übrigens wahr und also Annäherungen zu ihnen sind, sehr nützlich gebraucht werden.
Wenn man die entsprechende Stelle bei Kant sucht, dann findet man folgendes: Es gibt auch Annäherungen, die sehr nützlich sein können. Wenn es also darum geht, eine Einführung in Levinas zu lesen, ist es keineswegs nötig, das Buch zur Seite zu legen und in der Philosophiegeschichte bis Aristoteles zurückzugehen, man kann sich auch auf die Suche nach Annäherung machen, die sehr nützlich gebraucht werden können. Das hat nichts mit Speeddating zu tun, sondern ist eine ganz normale Vorgehensweise.




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Sa 27. Jun 2020, 12:35

Kants Hinweis im Sinn, will ich noch einen vagen Versuch wagen:

Seiendes: Paradigmatisch konkrete Gegenstände. Der Tisch, der Baum, der Himmel et cetera. (Das muss sicherlich nicht nur Raumzeitliches sein, einfach alles, was es gibt.)

Dasein: der Mensch (der Mensch ist auch ein Seiendes, aber eben ein ganz besonderes, weil er einfach gesagt, durch Selbstbezüglichkeit ausgezeichnet ist.)

Sein: der allgemeinste philosophische Begriff, den wir überhaupt kennen. Er bezieht sich auf "das Existieren von Dingen überhaupt", so findet man es z.b. im philosophischen Handbuch.

Ziel solcher Handreichungen ist ja nicht, eine letztliche Definition anzubieten, sondern einen ersten Zugang. Damit bewaffnet kann man vielleicht die Einführung von Levinas lesen und auf bestimmte Aha-Momente hoffen, bei denen die Begriffe dann weiter verständlich werden.

Der Philosoph Donald Davidson hat für die Frage nach Definitionen mal etwas schönes bemerkt: es gibt Grundbegriffe. Ohne diese Begriffe hätten wir überhaupt keine Begriffe. Und diese Begriffe lassen sich nicht definieren, weil sie die allgemeinsten Begriffe sind, die wir überhaupt haben. Sie lassen sich dementsprechend natürlich nicht auf noch allgemeinere zurückführen. Die Philosophie hat es ja fast nur mit Begriffen zu tun, die möglicherweise Grundbegriffe sind: Wahrheit, Tatsachen, Mensch, Sein, Gründe, und so weiter und so fort ...




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Sa 27. Jun 2020, 12:44

(Poetisch ausgedrückt: das Sein gehört nicht zu dem, was es gibt, sondern es ist das Geben selbst.)




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Alethos
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Sa 27. Jun 2020, 12:59

Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 10:42
Um dem Sein und dem Seienden bei Heidegger auf die Spur zu kommen, wäre es von Vorteil - sofern man ein Forum und seine Möglichkeiten dazu nutzen will - gemeinsam auf Stellen zu schauen, an denen Heidegger über Sein und Seiendes schreibt. Wenn man, um das zu verstehen, einige Passagen aus dem aristotelischen Organon im Voraus betrachtet, kann das den Vorteil noch vergrößern. -

Auf ein solches Vorgehen kann man niemanden verpflichten. Es wäre halt eine Möglichkeit (gewesen), auf den Verstehenszug aufzuspringen und mal eine Runde mitzufahren. Man kann auch im Bahnhof bleiben und die Fahrpläne studieren. "Guck mal: wollen wir nicht mal nach Deixis fahren?" - Oder man wirft sich kurzerhand vor den Zug. Dann bleibt am Ende nur noch das titelgebende *seufz*. ;)

Ich will jetzt mal nicht länger in diesem Thread den Fahrkarten-Kontrolleur geben, wünsche Euch ein schönes Wochenende und gute Reise! :)
Ich für meinen Teil habe deinen Vorschlag zum Mitfahren im hermeneutischen Zug als sanfte Einladung verstanden, die Philosophie von einem touristischen Standpunkt her zu betrachten: Tourist nicht im Sinne eines Konsumenten auf Tagestouren, auf kurzer Visite, sondern Tourist im Sinne von jemandem, der immer wieder an die liebgewonnenen Orte zurückkehrt, weil er verstanden hat, dass er Teil von ihnen geworden ist. Und das tut er nicht, weil er im Kreis herumirrt, sondern weil er ahnt, dass es immer wieder Neues, neu Neuverknüpftes, zu entdecken gibt, obwohl er die Orte immer wieder aufsucht und gerade deswegen. Orte, bei denen er beim letzten Mal Fragen zurückliess: Souvenirs seiner erkundenden Freundschaft zum Ort, zu seinen Geschichten.

So verstandener Tourismus betreibt man nicht als teilnahmsloser Betrachter, bestückt mit Fotokamera und flüchtiger Neugier, sondern kann man nur betreiben, wenn man sich innigst zum Ort hinzurechnet, als wären beide - Mensch und Ort - auf einander angewiesen.
Einen Kontrolleur gibt es in diesem so verstandenen touristischen Treiben nicht. Es gibt ihn nicht, weil diese Fahrt erstens unbezahlbar wäre, man also gar keinen Fahrscheinpreis veranschlagen könnte, und weil zweitens ohnehin nicht mitfahren kann, wer sich nicht voll zu investieren bereit ist. Nein, ich sehe dich viel eher als Touristenführer, dem man zwischendurch einmal sagen darf, dass er ganz schöne Geschichten zu erzählen hat von den Orten, an denen er war.



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Sa 27. Jun 2020, 15:05

Bei Heidegger findet man für >Sein< auch den Begriff "Verständnishorizont".
Wenn uns der Begriff wahrscheinlich nicht weiterbringt mit Bezug auf das Verstehen von >Sein<, so zeigt er zumindest an, was Friederike andeutete, dass >Sein< als absolute Metapher begriffen werden kann.

Wenigstens wird durch diese Meraphorisierung suggeriert, dass das, was Sein ist, keine streng definitorischen Konturen hat, sondern diese Konturen sogar verwischen müssen, wenn wir ihm nachempfinden wollen. Sein wird damit als etwas nicht direkt Greifbares dargestellt, sondern als etwas, das im Vollzug des Daseins und im Vollzug der zur Welt Gerichtetheit dieses Daseins ein erlebbares Moment des Seinkönnens ist. Eine Essenzialität der Möglichkeit von Sein, mehr denn eine Eventualität des konkreten Falls von Sein.



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Sa 27. Jun 2020, 18:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 26. Jun 2020, 07:16
... Deswegen sind wir schließlich auch dieses metaphysische Lebewesen, weil sich unser Leben nicht darauf beschränkt, wie Popper sagt, Probleme zu lösen, sondern wir können z.b. darüber staunen, dass es überhaupt etwas gibt und uns fragen, in welchen ganz allgemeinen und ungreifenden Zusammenhang wir eigentlich gestellt sind.
Ich will noch mal diesen Punkt hervorheben, weil ich meine, dass das für Heidegger und die Frage nach dem Sein zentral ist. "Heideggers Auseinandersetzung mit dem Nihilismus führt zu der Frage: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«" (meiner.de)




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Stefanie
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Sa 27. Jun 2020, 18:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 12:35
Kants Hinweis im Sinn, will ich noch einen vagen Versuch wagen:

Seiendes: Paradigmatisch konkrete Gegenstände. Der Tisch, der Baum, der Himmel et cetera. (Das muss sicherlich nicht nur Raumzeitliches sein, einfach alles, was es gibt.)

Dasein: der Mensch (der Mensch ist auch ein Seiendes, aber eben ein ganz besonderes, weil er einfach gesagt, durch Selbstbezüglichkeit ausgezeichnet ist.)

Sein: der allgemeinste philosophische Begriff, den wir überhaupt kennen. Er bezieht sich auf "das Existieren von Dingen überhaupt", so findet man es z.b. im philosophischen Handbuch.
Auf der Suche nach Erklärungen für Anfänger und Anfängerinnen habe ich dieses Video zu Sein und Seiende gefunden, was man vielleicht mit den drei Punkten oben von Jörn verbinden könnte.



Das Dasein erklärt er leider nicht, deshalb kann ich nicht nachvollziehen, warum mit Dasein der Mensch gemeint ist.
Er verwendet das Beispiel laufen, Das Laufen, der Laufende.
Auf das Tanzbeispiel bezogen wäre das Verb tanzen, Der Tanz dann Das Sein, und der Tänzer das Seiende. Oder?
Aber nochmal meine Frage, wie kann es Der Tanz als Sein geben, wenn es nicht den Seienden also den Tänzer geben würde.

Ferner habe ich versucht, Alltagssätze mit Seiende zu finden, leider Fehlanzeige. Zum Verb sein nur solche Sätze wie "In 15 Jahren werde ich Rentner sein." Auch nicht gerade weiterführend.

Kaum kommt ein Lichtlein am Horizont, dann das...
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 12:44
(Poetisch ausgedrückt: das Sein gehört nicht zu dem, was es gibt, sondern es ist das Geben selbst.)
Dieser Satz lässt mich völlig ratlos zurück.



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Stefanie
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Sa 27. Jun 2020, 19:08

Zu dem Nebenthema hier.
Wen ich mich mit einem Philosophen oder einer Philosophin beschäftigte, will ich etwas über diesen wissen. Ein gutes Einführungsbuch erklärt auch, auf welche anderen Philosophen der jeweilige oder die jeweilige aufbaut. Dies ist auch vorallem bei dem Buch von Stegmaier der Fall. Ich habe noch ein weiteres Buch zu Levinas, dies ist nicht so ausführlich. Levinas baut auf Heidegger auf, übernimmt ihn aber nicht in Gänze. Dies macht Levinas auch bei Husserl, Kant, Descartes, und Nietzsche. Es wird für mich dann richtig interessant, wenn es um Levinas geht. Dies bedeutet nicht, dass die anderen Philosophen uninteressant sind. Sekundärliteratur ist zum Teil eine umfassende Darstellung auch anderer Philosophen. Bei dem Buch über Levinas gab es kleine aha Momente bei Descartes und Nietzsches und ein großer aha Moment bei Kant.
Bei Heidegger nicht.
Sekundärliteratur halte ich für wichtig und notwendig. Ohne diese verläuft man sich schnell. Man lernt Jura auch nicht, in dem man ausschließlich ins Gesetz schaut.



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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 19:13

Stefanie hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 18:45
Das Dasein erklärt er leider nicht, deshalb kann ich nicht nachvollziehen, warum mit Dasein der Mensch gemeint ist.
Der Begriff "Dasein" ist ja auch eine heideggersche Spezialität. Er wird nicht in der Metaphysik im allgemeinen so verwendet.

Ich war vor vielen vielen Jahren mal an der Uni bei einem Heidegger Vortrag. Ich kann dir leider nicht mehr sagen, wie der Name des vortragenden war, aber es war ein Philosophieprofessor. Es waren sehr viele verschiedene Philosophie-Professoren anwesend, soviel hatte ich glaube ich in meiner "Karriere" nie auf einem Haufen gesehen. Der erste Kommentar eines Professoren zu dem professoralen Votrag war: "Das war alles objektiver Unsinn!" Die Antwort: "wenn es Unsinn war, dann können wir nicht drüber reden!" So ging es hin und her und zwischendurch musste man das Gefühl haben, es könnte eskalieren.

Was Heidegger mit Dasein meint, ist sicher im Detail auch umstritten. Aber wenn man für den Anfang einfach "Mensch" nimmt, dann fährt man sicher nicht völlig falsch, und zwar im Sinne dessen, was Kant oben gesagt hat: [Es] können auch mangelhafte Definitionen, d. i. Sätze, die eigentlich noch nicht Definitionen, aber übrigens wahr und also Annäherungen zu ihnen sind, sehr nützlich gebraucht werden.

Natürlich hat Martin Heidegger seine Begrifflichkeit nicht aus Jux und dollerei so gewählt. Er will die traditionellen Begrifflichkeiten vermeiden, weil sie gleichsam automatisch auf bestimmte Problem Konstellationen zulaufen, z.b. die Subjekt-Objekt-Spaltung. Aber meines Erachtens ist die Frage ja ganz pragmatisch: wie viel Heidegger brauchst du, um die Einführung in Levinas einigermaßen verstehen zu können? Wie viel davon liefert die Einführung selbst?




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Stefanie hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 18:45
Zum Verb sein nur solche Sätze wie "In 15 Jahren werde ich Rentner sein."
Dann versuche es vielleicht einfach mal mit "ist" :) ich meine dieses Wort habe ich gelegentlich gesehen. Auch bin, bist, sind, seid sollen hier und da vorkommen.




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