Übertragen wir das, was Haverkamp sagt, einmal auf einen Kunstgegenstand. Sagen wir mal eine Zeichnung von dir, Jörn.
Diese Zeichnung sei nicht abgeschlossen..
Nun handelt es sich also bei der Zeichnung um ein Werk - ein Kunstwerk. Nun wollten wir sagen, diese Zeichnung 'propagiere die Wahrheit der Verantwortung ihrer Nichtabgeschlossenheit'. Was um
Himmelswillen soll das denn heissen? Wem gegenüber hat es denn eine Verantwortung? Wahrscheinlich dem Betrachter gegenüber, oder? Okay, aber wofür?
Das Werk ist abgeschlossen oder nicht, das macht das Werk ja aus: Die Zeichnung ist schön oder nicht, abgeschlossen oder nicht, gelb oder nicht gelb, aber sie trägt doch keine Verantwortung dafür, schön oder nicht schön zu sein oder gelb oder nicht gelb zu sein? Das ergibt einfach keinen Sinn, einem
Attribut des Werks, durch das es dieses Werk ist, Verantwortung zuzuschreiben für dieses Attribut.
Nun also kann ein Werk die Wahrheit seiner Verantwortung gar nicht propagieren, weil es diese nicht hat. Wenn man sie ihr aber zuschreibt, dann weil man an es eine Forderung stellt: "Werk, erkläre dich!" oder "Werk, erfülle diese Erwartung!" Wenn man so an ein Werk herantritt, dann mit einer Erwartungshaltung, es möge sich um mich kümmern resp. seine Verantwortung wahrnehmen (mit Bezug darauf, dass es die Wahrheit sagt, mit Bezug darauf, dass es Fragen klärt etc). Sagt man von einem
Werk, es propagiere die Wahrheit seiner Verantwortung nicht, dann unterstellt man ihm, dass es diese Verantwortung hat. Und sagt man von einem Werk, dass es die Wahrheit seiner Verantwortung nicht propagiere, dann sagt man im Grunde: Das Werk macht geltend, dass die Wahrheit dieser Verantwortung in Zweifel steht. Das Werk entbindet sich von der Wahrheit seiner Verantwortung, es verselbständigt sich und immunisiert sich sozusagen gegenüber der Frage, ob es wahr sei, dass es Verantwortung trägt. Das Werk ist dann sozusagen nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Die Frage, ob es verantwortlich sei ist immer schon bejaht mit Blick auf sich selbst - gleichzeitig fällt
die Frage nach der Verantwortung für andere nicht unter die Kategorie von wahr oder falsch. Es ist mit Blick auf die Verantwortung für Andere völlig wahrheitsneutral. Es ist weder wahr nich falsch, dass es eine Verantwortung trägt. Und das scheint mir Haverkamp hier Blumenberg vorwerfen zu wollen, dass er sein Werk seinem Werk widmet und es für sich selbst verantwortlich macht - niemandem Rechenschaft schuldig ausser der Wahrheit (in einem nicht abschliessenden Sinne von >wahr<)