Allgemeiner Austausch und Smalltalk zu Blumenberg

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 18:55

Nein, das Vergangene lebt nicht, es ist nämlich vergangen. Was lebt, ist unser Verständnis des Vergangen. Und da unser Selbstverständnis an unserem Wissen von dieser Vergangenheit hängt, ist es auch wichtig, wer auf den Statuen steht und wer nicht. Vielen davon sind schlicht und ergreifend Monumente der Lüge. Und wir sollten unser Selbstverständnis nicht auf Lügen aufbauen.




Nauplios
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Vielleicht sind Dir die Anführungszeichen bei "lebt" entgangen.

Was die Lügen angeht: Mir graust vor den Bereinigungs- und Säuberungsaktionen, die sich womöglich anschicken, nach der politischen Geschichte auch die philosophische Ideengeschichte mit der Unterscheidung Wahrheit/Lüge zu beobachten. Eine unerbittliche Insistenz, die Pilatus-Frage ein für allemal beantwortet zu haben, wäre damit verbunden, eine morale definitive. Aber wie das mit dem Definitiven so geht, das ist eine andere Geschichte. ;)




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 19:41

Alles kommt auf den Prüfstand und das ist gut so, ich freue mich darauf!




Nauplios
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Sa 27. Jun 2020, 20:26

Alles - also auch die Prüfer. ;)




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 21:09

Genau, die Prüfer müssen Rede und Antwort stehen und auf Argumente mit Argumenten antworten.

Im Moment wird z.b. viel über die Geschichte der documenta nachgedacht. Die Prüfer verfahren so, dass sie ihre Quellen und Argumentationen offenlegen, so dass es jeder nachvollziehen kann, man kann ihnen über die Schulter schauen. Dabei stellt sich heraus, dass viele Mythen vorliegen und einiges einer "Neubewertung" bedarf. Die Anführungszeichen stehen da, weil die Dinge, die aufgedeckt werden, teilweise hanebüchen sind.




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 21:58

Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 20:26
Alles - also auch die Prüfer. ;)
Da sind im übrigen auch eine ganze Reihe von Prüferinnen dabei.

Nebenbei geht es natürlich keineswegs nur um "Säuberungen" (was für ein Ausdruck?) Es geht auch um viele Entdeckungen: in der Kunst bekommen z.b. viele Frauen, die bisher randständig waren oder sogar völlig unbekannt, jetzt die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt.




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Friederike
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So 28. Jun 2020, 10:35

Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 15:25
Am 10. Oktober letzten Jahres hat Lukas Held in Berlin beim Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung einen Vortrag gehalten über "Blumenbergs Philosophie des Raums". Darin behandelt er u.a. auch den Topos von der "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen". Der Vortrag ist als pdf-Datei im Netz verfügbar:

https://www.academia.edu/40689246/Spiel ... _des_Raums
Das ist gemein :mrgreen: - man kann aus dem Text nicht kopieren, weil das Ergebnis in einer Fülle von aneinandergereihten Zeichen besteht. Ich hab' einen längeren Abschnitt zitieren wollen, in dem Held auf Blumenbergs Arbeitsweise mit Zettelkästen eingeht und diesen Umstand, einen "medientechnischen", wie er es nennt, heranzieht, um einsichtig zu machen, daß Blumenbergs Geschichtsschreibung "räumlich" zu lesen sich anbietet (die Zettelkasten-Wirtschaft führt Held als einen -und nicht den maßgeblichen- unter mehreren Gründen an).

Mir hat der Vortrag geholfen, Blumenbergs Methode, Historie zu betreiben, besser zu verstehen. Ich habe mich an mehrere Situationen erinnert, in denen ich sehr irritiert gewesen bin, wie Blumenberg bestimmte (Geistes-) Ereignisse vernetzt - und jetzt, auf diese Situationen zurückblickend, ist mir bewußt geworden, daß meine Irritationen auf der gedanklichen Voraussetzung beruhten, er würde Geschichte, zeitlich strukturiert, erzählen. Unter der Annahme, Blumenberg figuriere in Räumen, wären mir die Gleichzeitigkeiten in seinen Verknüpfungen verständlich geworden.




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Jörn Budesheim
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So 28. Jun 2020, 10:41

Ich kann aus dem Text kopieren: "Nun ist es so dass Blumenberg räumliche Metaphorik an Stellen im Werk anführt, in denen er seine Geschichtsphilosophie methodologisch reflektiert, wie eben in der OD und in den Methodologischen Bemerkungen zu einer Geistesgeschichte der Technik. Derlei Reflexionen zu Spielräumen im speziellen und zum Verhältnis zwischen Raum und Geschichte im Allgemeinen sind in Blumenbergs Werk dennoch verhältnismäßig dünn gesät, weshalb die Untersuchung hier einigermaßen spekulativ verfahren muss. Die Beschäftigung mit dem Werk poststruktural..."

Man kann ihn herunterladen und dann auch kopieren.




Nauplios
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Mo 29. Jun 2020, 17:10

Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 11:40
Auf Seite 5 dieses Threads zu lesen, aus dem Beitrag von @Nauplios vom 11. Oktober:
N hat geschrieben : Nicht nur, daß dieser Text überholt ist - nach einem Vierteljahrhundert! - , er ist auch schlecht." (Hans Blumenberg an Robert Wallace, 2. Mai 1985 - DLA Marbach, A. Blumenberg bzw. Nachwort zu Die nackte Wahrheit; S. 189) -
An Max Kommerell schreibt Heidegger 1942: "Sein und Zeit war eine Verunglückung." (Max Kommerell; Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944; S. 405)

Bekanntlich hat Heidegger an der Seinsfrage festgehalten, Blumenberg an der Frage der Metaphern und Mythen. Blumenberg fand 25 Jahre später den Text seiner Paradigmen "überholt" und "schlecht", Heidegger sah nach 15 Jahren in Sein und Zeit eine "Verunglückung".

Dennoch haben beide späteren Neuauflagen zugestimmt, Blumenberg nach einigem Zögern, Heidegger ohne Zögern. Das legt natürlich die Frage nahe, warum wir uns nach wie vor mit philosophischen Werken beschäftigen, deren Verfasser noch zu Lebzeiten auf Distanz zu dem gingen, was mit "Frühwerk" gern umschrieben wird. Ein "Spätwerk" kennen wir dann auch bei Husserl oder Wittgenstein, dessen Philosophie gern mit römischen Zahlen nummeriert wird oder Carl Schmitt, der dies Verfahren explizit anwendet und seiner Politischen Theologie von 1922 eine Politische Theologie II (1970) folgen läßt. Nicht immer ist das wie bei Heidegger mit einer Kehre verbunden oder vernichtenden Urteilen, womöglich aber mit der Überlegung, die Wahrheit eines Werks "für seine Wirkung offen" zu halten. ;)

Vielleicht lesen wir in den Einführungen zu solchen Werken deshalb auch oft von deren großer Bedeutung, nie von deren unumstößlicher Wahrheit. -




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Jörn Budesheim
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Mo 29. Jun 2020, 18:31

Meinst du, Heidegger war gar nicht im ernst der Ansicht, dass die Seinsfrage vergessen wurde und dass sie zu stellen wichtig sei? Oder sollen wir uns vorstellen, dass Blumenberg gar nicht wirklich glaubt, dass es absolute Metaphern gibt?




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Friederike
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Di 30. Jun 2020, 09:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Jun 2020, 18:31
Meinst du, Heidegger war gar nicht im ernst der Ansicht, dass die Seinsfrage vergessen wurde und dass sie zu stellen wichtig sei? Oder sollen wir uns vorstellen, dass Blumenberg gar nicht wirklich glaubt, dass es absolute Metaphern gibt?
Ich komme mit Deinem Einwurf nicht klar @Jörn. Worauf willst Du hinaus? Heidegger lasse ich unbeachtet, aber zu Blumenberg würde ich sagen, daß man sein Gesamtwerk untersuchen müßte, um die Frage beantworten zu können, ob er im Laufe seiner philosophischen Entwicklung den Begriff der absoluten Metapher preisgegeben (haha, eine starke Bewertung von mir) hat. An der Arbeit von L. Held hat mir so gut gefallen, daß er u.a. beispielsweise dem Begriff "Metakinetik" in den Texten von Blumenberg nachgeht. Welche Fragen bleiben für einen Autor zentral, welche Fragen interessieren ihn später nicht mehr ... usw. Klar komme ich aber besonders deswegen nicht mit Deiner Einrede, weil mich die Formulierung "dass es absolute Metaphern gibt" irritiert. Es gibt Wörter, von denen man viel Erkenntnisgewinn erwarten darf, wenn man sie als absolute Metaphern versteht, so würde ich es ausdrücken.




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jun 2020, 09:59

Friederike hat geschrieben :
Di 30. Jun 2020, 09:50
Worauf willst Du hinaus?
Philosophen erheben Wahrheitsansprüche. Wer von absoluten Metaphern spricht, behauptet zugleich, dass es sie gibt.
Friederike hat geschrieben :
Di 30. Jun 2020, 09:50
Es gibt Wörter, von denen man viel Erkenntnisgewinn erwarten darf, wenn man sie als absolute Metaphern versteht, so würde ich es ausdrücken.
Auch das erhebt einen Wahrheitsanspruch, nämlich den, dass es Wörter gibt, von denen man viel Erkenntnisgewinn erwarten darf, wenn man sie als absolute Metaphern versteht.




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Friederike
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Di 30. Jun 2020, 13:41

Nauplios hat geschrieben :
Mo 29. Jun 2020, 17:10
An Max Kommerell schreibt Heidegger 1942: "Sein und Zeit war eine Verunglückung." (Max Kommerell; Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944; S. 405)

Bekanntlich hat Heidegger an der Seinsfrage festgehalten, Blumenberg an der Frage der Metaphern und Mythen. Blumenberg fand 25 Jahre später den Text seiner Paradigmen "überholt" und "schlecht", Heidegger sah nach 15 Jahren in Sein und Zeit eine "Verunglückung".

Dennoch haben beide späteren Neuauflagen zugestimmt, Blumenberg nach einigem Zögern, Heidegger ohne Zögern. Das legt natürlich die Frage nahe, warum wir uns nach wie vor mit philosophischen Werken beschäftigen, deren Verfasser noch zu Lebzeiten auf Distanz zu dem gingen, was mit "Frühwerk" gern umschrieben wird. Ein "Spätwerk" kennen wir dann auch bei Husserl oder Wittgenstein, dessen Philosophie gern mit römischen Zahlen nummeriert wird oder Carl Schmitt, der dies Verfahren explizit anwendet und seiner Politischen Theologie von 1922 eine Politische Theologie II (1970) folgen läßt. Nicht immer ist das wie bei Heidegger mit einer Kehre verbunden oder vernichtenden Urteilen, womöglich aber mit der Überlegung, die Wahrheit eines Werks "für seine Wirkung offen" zu halten. ;)
Der Wirkungsgeschichte ... vielleicht müßte man in diesem Fall besser von der Rezeptionsgeschichte sprechen, der von Blumenbergs Werk zumindest, bleibt es denn auch vorbehalten, Erklärungen dafür zu suchen und zu finden, was sich hinter dem Urteil "schlecht" und "überholt" verbirgt. In der Tat, es ist eine vernichtende Kritik am selbst geschriebenen Werk, nur überläßt Blumenberg es den Leser*innen, sich Gründe für die Beurteilung auszudenken. Du meine Güte, es könnten einigermaßen randläufige Gründe sein (schlechter Schreibstil, chaotische Strukturierung, fehlende Fußnoten, Argumente gegen Positionen, die eh schon kein Mensch mehr vertritt ...). Dein letzter Satz bezieht sich zweifellos? auf die Entscheidung der genannten Autoren, ihre Werke -trotz negativen Befundes-neu auflegen zu lassen.




Nauplios
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Di 30. Jun 2020, 17:43

Ja, die Paradimen waren ja im Grunde nur noch im Rothacker' schen Archiv für Begriffsgeschichte von 1960 zugänglich, also an recht entlegenem Ort. In dem besagten Brief an seinen amerikanischen Übersetzer Robert Wallace schreibt Blumenberg übrigens auch von einem "Rückstand" der Paradigmen, der "peinlich spürbar wird". - Die Gründe dafür können vielfältig sein. Die Paradigmen sind ja das Werk eines Philosophen, der zum Zeitpunkt ihres Erscheinens 40 Jahre alt ist und in Studium Generale zwar schon in den 50er Jahren durch insgesamt 10 Aufsätze die akademische Öffentlichkeit auf sich aufmerksam gemacht hat, der aber noch kein Buch veröffentlicht hat; das wird dann erst ab Mitte der 60er Jahre kommen.

Die "absolute Metapher" ist ja dann später in die "Theorie der Unbegrifflichkeit" eingegangen, die das Konzept der Metaphorologie von 1960 noch einmal in einem sehr viel allgemeineren Sinn behandelt. Hinzu kommt spätestens in den 70er Jahren das anthropologische Interesse, das sich mit der Metaphorologie verbindet. An Harald Weinrich schreibt Blumenberg 1967, daß er, sobald die Paradigmen vergriffen seien, eine Neubearbeitung anstrebe.

Man muß sich bei all dem immer vor Augen halten, daß Blumenbergs Philosophie nicht "abgeschlossen" ist, sondern auf eine Weiterführung und Weiterentwicklung setzt. Darauf hat er gehofft und diese Hoffnung ist ja dann auch in Erfüllung gegangen. Das ist auch ein Gedanke, den sich die Blumenberg-Gesellschaft zu eigen macht. Es geht zwar auch darum, den Nachlaß Blumenbergs in den nächsten Jahren weiter zu edieren und weitere Konvolute zu veröffentlichen. Es sollen aber auch durch Kongresse und Tagungen Anregungen gegeben werden für das Weiterdenken und Weiterphilosophieren, für's Symphilosophieren. ;)

Blumenberg selbst steht ja in so einer Tradition des Weiterarbeitens, in der Phänomenologie Husserls, der nicht nur ein "Autor" war, sondern auch ein Anreger und Schulgründer. Die erste Generation der Blumenberg-Schüler (Fellmann, Hossenfelder, Niehues-Pröbsting, Sommer, Konersmann ...) ist inzwischen emeritiert, bzw. schon verstorben und die zweite Generation (Zill, Goldstein, Heidenreich, Merker, Weidner, Waldow, Krusche u.a.), die oft schon Blumenberg gar nicht mehr gekannt haben, gehen nun in ihrer Rezeption eigene Wege.

"Wege, nicht Werke" - das hat ja auch Heidegger der Gesamtausgabe seiner Schriften als Motto vorangestellt. Man hat es bei Heidegger und Blumenberg also mit einer Denklandschaft zu tun, in der sich Wanderungen unternehmen lassen - wobei wir wieder beim Räumlichen angekommen wären. ;)




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jun 2020, 18:37

Heute kommt die Information Philosophie. Franz-Josef Wetz schreibt dort über Hans Blumenberg. Er hätte sich spät immer wieder mit Edmund Husserl auseinandergesetzt. Ziel Blumenbergs sei neben anderem der Nachweis von Ungereimtheiten in dessen transzendentaler Phänomenologie gewesen. Ist das nicht erstaunlich?




Nauplios
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Wie beweglich übrigens die Position der "Sichtweisen" im Hinblick auf ihre Metakinetik ist, sieht man am Beispiel Kants auch an der bereitwilligen Inanspruchnahme seiner Schrift Zum ewigen Frieden, die vor fünf Jahren auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise gern zitiert wurde, um das "Hospitalitätsrecht" der Flüchtlinge in Europa und insbesondere in Deutschland zu betonen. Mit Immanuel Kant hatte man damit eine gewichtige philosophische Stimme der Vernunft und Humanität im gesellschaftlichen Diskurs um Asyl, Flucht, Migration, Grenzschließungen u.ä. auf seiner Seite. Nach Kant bedeutet:

"Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, die sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“ (Kant [AA. Bd II, S.213 ff.)

Im gesellschaftlichen Diskurs der Jahre 2015/2016 wurde auf dieses "Besuchsrecht" von Flüchtlingen unter Bezugnahme auf Kant mit Genugtuung hingewiesen. Kant erschien als Philosoph einer Migrationsethik avant la lettre. - Seine Standfestigkeit auf dem Sockel war gesichert.

Fünf Jahre später hat sich im Zuge der Rassismusdebatte die Sichtweise auf Kant geändert. Nun erscheint er als Mitbegründer des europäischen Rassismus. Kants Statik auf dem Sockel wird neu berechnet.

Dieter Thomä sagte gestern im Deutschlandfunk, wenn man Geschichte von allem säubere, was verdächtig ist, bleibe nicht mehr viel übrig. Von einer Art "Reinlichkeitswahn" und einer "Reinlichkeitspolizei" spricht Thomä, der eigentlich eher die Kunst und die Auseinandersetzung mit der Geschichte im Blick hat. "Man will praktisch die Geschichte säubern von allem, was da vielleicht verdächtig ist."

https://www.deutschlandfunk.de/philosop ... _id=479504

Aus Anlaß der Rassismusdebatte läßt sich gut auf den ikonoklastischen Zug aufspringen. Das bietet sich ohnehin immer bei Zügen an, bei denen erst nach Erreichung der Höchstgeschwindigkeit das Reiseziel durchgesagt wird. ;)




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 30. Jun 2020, 18:37
Heute kommt die Information Philosophie. Franz-Josef Wetz schreibt dort über Hans Blumenberg. Er hätte sich spät immer wieder mit Edmund Husserl auseinandergesetzt. Ziel Blumenbergs sei neben anderem der Nachweis von Ungereimtheiten in dessen transzendentaler Phänomenologie gewesen. Ist das nicht erstaunlich?
Insbesondere die Theorie der Lebenswelt hat Blumenberg einer Rekonstruktion unterzogen. Und der mutwillige Verstoß gegen das Anthropologie-Verbot der Phänomenologie wäre hier zu nennen. Ohnehin ist die Wendung Blumenbergs, der zu Beginn seines philosophischen Arbeitens eher zu Heidegger als zu Husserl neigt, zum Schulgründer ein langwieriger Prozeß, der mit der Verführbarkeit des Philosophen zu einer Abrechnung mit Heidegger wird.




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jun 2020, 20:21

Aber dass Blumenberg nach Ungereimtheiten bei Edmund Husserl sucht, was bedeutet das? Er muss doch irgendeinen Grund haben, warum er das tut?!




Nauplios
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Mi 1. Jul 2020, 03:04

"Im Medium der Metaphorik ist das moderne Leben permanent mit seiner Selbstdarstellung beschäftigt. Darin liegt eine mediale Vervielfältigung des Lebens, die der realen Reproduktion an Produktivität überlegen ist. Leben heißt metaphorisieren und in der Zirkulation der Zeichen werden Form und Materie eins. Damit gewinnt das Philosophieren eine neue Stufe der Reflexion: 'Metaphorologie' statt Metaphysik. Darin liegt der epochale Stilwandel des modernen Denkens: Beschreibung statt Begründung, Geschichten statt System, Stil statt Wahrheit. In diesem Sinne hat das Leben die Theorie eingeholt." (Ferdinand Fellmann; Artikel Leben, in: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts; S. 205) -

Die Metaphorologie wird mißverstanden, wenn man sie auf ein erkenntniskritisches Traktat (etwa in Form der Paradigmen oder als Theorie der Unbegrifflichkeit) reduziert. Hier geht es zwar auch, aber eben nicht nur um die Dienstbarkeit der Metaphorologie für das Programm einer Begriffsgeschichte. Schon bei Rothacker war damit das Projekt einer Kulturanthropologie verbunden. Bei Blumenberg kommt die Ausrichtung an Ernst Cassirer (Philosophie der symbolischen Formen und insbesondere Substanzbegriff und Funktionsbegriff) sowie an Arnold Gehlens Anthropologie und auch an der Lebensphilosophie Georg Simmels hinzu.

Ahlrich Meyer war in den 70er Jahren Assistent bei Blumenberg. Im Nachwort zu Rigorismus der Wahrheit schreibt er: "Blumenberg setzt den Mythos, den religiösen und den politischen, in seiner humanen Dimension höher an als Wahrheitsansprüche jedweder Art, weil Mythen, anders als die Wahrheit, das Bedürfnis des Menschen nach Trost erfüllen." (S. 106f.) -

Fellmann, auch er Assistent bei Blumenberg, skizziert die Metaphorologie: "Beschreibung statt Begründung, Geschichten statt System, Stil statt Wahrheit". -

Mit einem Wort: die Metaphorologie - verstanden als früher Arbeitstitel der Philosophie Blumenbergs - ist das ziemlich genaue Gegenteil einer auf Begründungen, Definitionen, Beweisen, Argumenten fußenden philosophischen Systematik in logischer Stringenz und mit dem Anspruch einer an der Wirklichkeit überprüfbaren Wahrheit, abgefaßt in klarer und deutlicher Diktion. Blumenberg "setzt den Mythos ... in seiner humanen Dimension höher an als Wahrheitsansprüche jedweder Art". (Meyer) - Fellmann schreibt in dem besagten Artikel von einer "Befreiung von überzogenen epistemischen Geltungsansprüchen". (S. 205) -

"Philosophie ist der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen ..." schreibt Blumenberg.

All das fügt sich natürlich überhaupt nicht ein in eine Vorstellung von Philosophie, die in ihr eine Produktionsstätte von "Aussagen" sieht, deren Begriffe klar definiert sein sollen und deren Wahrheit vor der Wirklichkeit bestehen muß. Wahr sind dann Aussagen, wenn das darin Ausgesagte mit der Realität übereinstimmt. So ist der Satz "In London regnet es" genau dann wahr, wenn es in London regnet. -

Was nun?

Wie soll das jetzt weitergehen? - Blumenbergs Philosophie ist nun mal nicht von dieser Art. Die Wahrheit ist bei ihm ein zentrales Thema, genauso die Wirklichkeit(en). Und dennoch haben wir hier keine "Aussagen", zumal keine wie "In London regnet es". Er denkt bei dem Thema Wahrheit etwa an den "Rigorismus" jener Wahrheit, bei der es im Eichmann-Prozeß und in der Berichterstattung darüber durch Hannah Arendt ging.

Friederike hat schon darauf hingewiesen, daß es hier um Plausibilität geht, auch um eine konjekturale, vermutende Philosophie, um eine skeptische Grundhaltung, um Möglichkeitssinn. Es sind dann immer wieder zwei Vorbehalte im Spiel: erstens sei damit dennoch ein Wahrheitsanspruch verbunden, zweitens beinhalte Skepsis einen Selbstwiderspruch, weil die Skepsis ja auch skeptisch gegenüber der Skepsis sein müsse.

Solche und ähnliche Argumentationsformen werden seit Jahren in Stellung gebracht. Dazu gehört auch der Verdacht auf Beliebigkeit. Ohne Verpflichtung auf Wahrheit unterlägen ja die Aussagen der Beliebigkeit. Man kann sich offenbar nicht vorstellen, daß es zwischen einem überprüfbaren Wahrheitsanspruch und beliebigen Sätzen noch etwas gibt, das Blumenberg das "Prinzip des unzureichenden Grundes" nannte, das weite Feld des Einleuchtenden, der Meinung, des nur Plausiblen.

Unter diesen Umständen muß das Denken Blumenbergs, sein umwegiges, gelegentlich auch zögerndes Denken, das gerade nicht auf Begründungsketten basiert, das nicht argumentativ verfährt, wie es vielleicht ein Einführungsbuch in die Logik präferiert, das sich nicht methodisch organisiert hat, das sich nicht zu einem philosophischen System fügt, daß nicht in "Aussagen" daherkommt, das den Mythos in seiner humanen Dimension höher ansetzt als Wahrheitsansprüche jedweder Art ... ein solches Denken, dazu noch vorgetragen in gelehrtem Stil, mal als vielhundertseitiger Studie, mal als Anekdote, mal als Glosse ... ein solches Denken als "Nachdenklichkeit", Philosophie und Literatur umfassend, habe ich in meiner Einfalt immer als eine Bereicherung für ein Forum angesehen - besonders für eines wie dieses.

Das kann man getrost auch anders sehen. Damit bin ich einverstanden. Was uns nur nicht weiterbringen wird, ist die Konfrontation des Blumenberg'schen Werks mit Anforderungen, Erwartungen und Haltungen, die sich etabliert und eingespielt haben, die aber die Sache des Verstehens nicht befördern. Wenn wir schon wissen, daß das Blumenberg' sche Denken ein einziger Unsinn ist oder es gar immer schon gewußt haben, kann die Akte Blumenberg von mir aus geschlossen werden. Denn es ist ja sinnlos, diese Philosophie immer wieder dafür in Haft zu nehmen, daß sie nicht ist wie sie doch sein sollte. Wenn ich mir die Heidegger-Diskussion der letzten Tage anschaue, dann werden dort geduldig Textfragmente aus Sein und Zeit zitiert; es ist ein Verstehensversuch im Gange. Ähnlich bei Markus Gabriel. Versuche gab es jüngst zu Gadamer, zur Wirkungsgeschichte , letztes Jahr zu Benjamin u.a. - Einzig Blumenberg spaltet. Wie kommt das?




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Jörn Budesheim
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Mi 1. Jul 2020, 10:06

Blumenberg hat geschrieben : "Philosophie ist der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen ..."
Nauplios hat geschrieben : Wie soll das jetzt weitergehen? - Blumenbergs Philosophie ist nun mal nicht von dieser Art. Die Wahrheit ist bei ihm ein zentrales Thema, genauso die Wirklichkeit(en). Und dennoch haben wir hier keine "Aussagen", zumal keine wie "In London regnet es".
Die Philosophie ist keine Meteorologie. Sie untersucht daher weder den Regen in London noch den Regen sonst wo. Ich kenne das Beispiel "In London regnet es" aus einem Vortrag von Markus Gabriel. In der fraglichen Passage geht es um den Wahrheits-Begriff und natürlich weder um London noch um Regen. Ziel war an der Stelle zu erläutern, dass Gabriel Wahrheit gerade eben nicht streng mit Aussagen verknüpft, sondern einen "ontischen Wahrheitsbegriff" vertritt. Er beschäftigt sich an dieser Stelle also keineswegs mit dem, was du nahelegst, sondern mit ganz anderen Gegenständen.

Wenn in der Philosophie Gedanken, Propositionen, Tatsachen und Aussagen untersucht werden, dann werden dafür in der Regel Beispiele wie "der Schnee ist weiß", "In London regnet es" etc. verwendet. Der Grund dafür ist unter anderem, dass man es nicht auf den Gehalt einer bestimmten Aussage abgesehen hat, sondern auf Aussagen schlechthin. Man will mit der Wahl der Beispiele gewissermaßen nicht vom eigentlichen Thema ablenken. Es dann so dazustellen, als würde es bei solchen Fragestellungen eigentlich nur um Trivialitäten, nämlich den Regen in London oder weißen Schnee gehen, ist der Sache nicht angemessen. Das ist allerdings etwas, was du wieder und wieder tust. Heidegger verfährt zu Beginn von Sein und Zeit im übrigen genau so: "Der Himmel ist blau" ist eins seiner Alltagsbeispiele. Solche Beispiele zu verwenden, heißt keineswegs sich bloß mit Trivialitäten zu beschäftigen.

Du behauptest: "Die Wahrheit ist bei [Blumenberg] ein zentrales Thema, genauso die Wirklichkeit(en). Und dennoch haben wir hier keine "Aussagen"..." Gleichzeitig bringst du von ihm unentwegt Zitate, die das komplette Gegenteil zeigen: ""Philosophie ist der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen ..." Was bitteschön sollte das anders sein als eine Aussage? Es ist eine Aussage, da beißt die Maus keinen Faden ab. Hier wie da gibt es einen Gegenstand (London/Philosophie) und hier wie da wird über diesen Gegenstand etwas ausgesagt. Und zudem: Behauptungen (von denen Blumenberg ja selbst spricht) sind schließlich Aussagen.

""Philosophie ist der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen ..." sagt Blumenberg also. Dennoch begibt er sich laut Franz-Josef Wetz bei Edmund Husserl auf die Suche nach "Ungereimtheiten". Warum? Auf die Frage antwortest du nicht, also kommen wir auch nicht weiter. Wer nach Ungereimtheiten sucht, untersucht Texte im Hinblick auf die Wahrheit. Ist nämlich eine Ungereimtheit gefunden, hat man womöglich eine Widerlegung gefunden. Wie passt das zusammen mit der Idee Philosophie sei der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen?

Man kann es "passend machen". Man kann nämlich auch sagen: "Die Geometrie ist der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen ..." schließlich basiert sie auf Axiomen. Es gibt viele Bereiche, die in einem ungegründeten Grund gründen. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass man in diesen Bereichen generell nichts beweisen oder widerlegen kann.

Du zitierst Ahlrich Meyer: "Blumenberg setzt den Mythos, den religiösen und den politischen, in seiner humanen Dimension höher an als Wahrheitsansprüche jedweder Art, weil Mythen, anders als die Wahrheit, das Bedürfnis des Menschen nach Trost erfüllen." Hervorhebung von mir. "Weil" heißt, dass die Behauptung, die man aufgestellt hat, begründet wird. Was Meyer damit letztlich sagen will, lässt sich ohne Zusammenhang nicht klären. Einen Einspruch gegen Begründen und Wahrheit muss man darin keineswegs sehen. Naheliegender ist dieses: Blumenberg untersucht nicht den Wahrheitsgehalt der Mythen, sondern ihre "Funktion" - sie trösten. Indem er behauptet, dass Mythen das Bedürfnis des Menschen nach Trost erfüllen, erhebt er jedoch ganz selbstverständlich auch einen Wahrheitsanspruch. Es steht ja die Aussage im Raum, dass Mythen das Bedürfnis des Menschen nach Trost erfüllen. Diese Aussage wird sicherlich auch begründet, nämlich indem Blumenberg Beispiele dafür beibringt und erklärt, warum sie die These stützen. Solche Begründungen und Argumente können sehr vielfältig sein. Ein Ruf nach strenger deduktiver Logik ist damit keineswegs automatisch verbunden, denn die Möglichkeiten zu begründen und zu argumentieren sind bunt.

Wir hatten hier schon lange Threads zu Logik, Gründen und Argumenten. Das sind drei verschiedene Bereiche nach meinem Dafürhalten, die mal enger man weiter miteinander verknüpft sind. Sie in eine Schublade zu packen und Zettel "Logik" darauf zu heften, wird der Sache nicht gerecht. Selbst manche Gedichte kann man als Argumente lesen, auch wenn sie keine formale deduktive Logik darstellen ...




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