Dolce Stil Novo - Von der Sprache des Begehrens

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Nauplios
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Mi 15. Jul 2020, 14:18

"Quel giorno piu nun vi leggemmo avante."
(An diesem Tag lasen wir nicht weiter.)

Generationen von Dante-Forschern haben über diesen berühmten Vers 138 aus Canto V der Commedia nachgedacht, Erklärungen hinzugedacht, Umstände bedacht. Borges, vielleicht der scharfsinnigste Leser Dantes, war der Auffassung, daß der moderne Roman hunderte von Seiten braucht, um dem Leser Einblick in die Seele einer Figur zu gewähren; Dante brauche dafür nur wenige Terzinen. Gut möglich, daß Borges dabei an Francesca da Rimini dachte, jene literarische Figur, die über Jahrhunderte die Kunst und Musik beschäftigt hat. Alexandre Cabanel, Anselm Feuerbach, Ary Scheffer, Gabriel Rossetti, Jean Auguste Dominique Ingres u.a. haben noch im 19. Jahrhundert die Szene des ehebrecherischen Kußes zwischen Francesca und dem schönen Paolo, dem Bruder ihres Ehemannes festgehalten. Mercadante hat eine Oper über das Liebespaar geschrieben, ebenso Rachmaninow, Tschaikowski eine symphonische Dichtung, Paul Heyse eine Tragödie, DˋAnnunzio ein Drama und Rodin hat den "Kuß" in einer Skulptur verewigt.

Francesca da Rimini gehört zu den dramatis personae der Gabriel´schen Fiktionen, welche die Selbstbildfähigkeit des Menschen über Jahrhunderte inspiriert haben.




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Do 16. Jul 2020, 05:28

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(Jean Auguste Dominique Ingres: Francesca da Rimini und Paolo Malatesta 1819)




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Fr 17. Jul 2020, 01:55

Wissen Sie etwas über die Nacht, Herr Graf?
(Villiers de L´Isle-Adam, Isis)

In der Anaphora der Liturgie werden die Namen der Toten und Lebenden verlesen, die in den libri libri vivorum et mortuorum verzeichnet sind. Je nach Konfession können sogenannte Diptychen von den Gläubigen verfaßt werden, auf denen besondere Anliegen formuliert werden. Lebende und Verstorbene, Mittag und Mitternacht, Sein und Nicht-Sein, Tag und Nacht ... Hier sind Kontrastierungen möglich, aber auch das Verschwinden der Gegensätze, eine coincidentia oppositorum, Vermischungen des Antithetischen. Vom "Diptychon des Tages und der Nacht" schreibt Vladimir Jankelevitch in Zauber, Improvisation, Virtuosität. "Antithese und Berceuse sind die zwei nächtlichen Aspekte" eines Manichäismus von Licht und Finsternis.

Gegenüber den Hellsichtigen sind die Nachtsichtigen die "Seher" im Reich der mortuorum. Francesca und Paolo, ein "Taubenpaar", "wie Sommerfäden, leicht vom Wind getragen" (e paion si al vento esser leggieri) schweben im schwarzen Sturmwind der Wollüstigen (Antithese) auf Dante und Vergil zu, Nachtwandler des Jenseits und als solche trotz des Sturmwindes leicht vom Wind getragen (Berceuse). Im Gemälde von Ingres sieht man, daß Francesca das Buch aus den Händen geglitten ist. Das Paar ist bei der gemeinsamen Lektüre an die Stelle gekommen, wo Ginevra und Lanzelot sich küssen - eine Präfiguration des Kußes, den Ingres ins Bild setzt. Der "Nordwind der Vernunft" (Jankelevitch) - er klingt ab und das magische Raunen der Nacht setzt ein. "Hinunter in der Erde Schoos / Weg aus des Lichtes Reichen!" (Novalis; Hymnen an die Nacht) -




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Fr 17. Jul 2020, 02:14

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(Aert van der Neer - Landschaft im Mondschein)




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Fr 17. Jul 2020, 02:45



Joseph Jongen - op. 33 (nur in tiefer Nacht zu hören)




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Fr 17. Jul 2020, 13:28

In Boccaccios Esposizioni liegt eine erste, wenn man das so sagen darf, Dekonstruktion von Canto V der Commedia vor. Ein selbstbewußter und stolzer Geist sei Francesca gewesen (ell´ e dˋaltiero animo) derweil Dante sie im zweiten Kreis des Inferno vorfindet, bei den fleischlichen Sündern, die ihre Vernunft der Gier unterwerfen:

Intesi ch´a cosi fatto tormento
enno dannati i peccator carnali,
que la ragion sommettono al talento.


("Ich hörte, daß verdammt zu solchen Plagen
Die werden, die - verlockt vom Sinnentruge -
In Wollust frönend der Vernunft entsagen.")

Boccaccios Exkulpierung zielt auf eine Umkehr der Schuldverhältnisse. Francescas Eheschließung mit Gianciotto sei ohnehin ein politisch motivierter Akt gewesen. Und da Habgier bekanntlich häßlich macht, erscheint Gianciotto als der Hüftlahme, dem die hübsche Francesca schon aus Gründen der Ästhetik nicht zusteht. Mit behendem Schritt kommt demnach der hübsche Paolo ins Spiel, dessen Gelenkigkeit die Kußszene von Ingres erahnen läßt. Er steht seiner Schwägerin aus hermeneutischem Anlaß zur Seite, denn Francesca interessiert sich brennend, wie bei lebenszugewandten jungen Ehefrauen nicht anders zu erwarten, für Ritter-Romane. Paolo beläßt es nicht bei der Explikation, sondern schreitet ritterlich zur Demonstration. Das hat Folgen. Neuer jugendlicher Schwung erfaßt den hüftsteifen Gatten, dessen Schwert dem Kuß ein Ende bereitet, indem es beide Küssenden treffsicher durchbohrt. Auch das hat Folgen. Beide Romanleser sind auf der Stelle tot. Ob es überhaupt zu einem Kuß gekommen ist oder nur zur Vorbereitung und im Falle der Durchführung zu einem vollständigen, darüber weiß auch Boccaccios Bericht nichts zu berichten, kommt doch beim Küssen die definitorische Unschärfe ins Spiel. Wann fängt es an - wo hört es auf? Das Libretto von D´ Annunzio jedenfalls spricht von einem "langen und innigen Kuß aufs Mäulchen". Doch wie innig muß ein Kuß sein, damit begründeterweise von einem Anfangsverdacht auf Ehebruch ausgegangen werden kann? - Hier kommen drei Pünktchen ins Spiel, die es in einigen Dante-Ausgaben gibt, nämlich am Ende des Verses "An diesem Tag lasen wir nicht weiter." - Weil es aber auch heißt: "An diesem Tag lasen wir nicht weiter ..." darf hier trefflich räsoniert werden, inwieweit ein eifersüchtiger Gatte der pünktchenweisen Leerstelle den Anlaß zur Doppeltat entnimmt; denn die Pünktchen konnte er - ein Höchstmaß an hermeneutischer Mantik vorausgesetzt - im hingebungsvollen Entgleitenlassen des Ritter-Romans erblicken. -

So hat uns die pünktchenbasierte Unbegrifflichkeit nicht nur zwei Leichen beschert, sondern auch eine Moralverhandlung zwischen den beiden Advokaten der "fleischlichen Sünderin" und der "selbstbewußt-stolzen" Küsserin. Gibt es etwas im nächtlichen Sturm des Inferno, das mehr Trost spenden könnte als die siebenhundert Jahre Wirkungsgeschichte dieses Kußes? -




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Fr 17. Jul 2020, 17:38

Eine Meontologie des Obskuren, der "verborgene Reichtum des Nicht-Seins" (Jankelevitch), eine Hymne an die Dämmerung ist in Dantes Canto 5 des Infernos am Werk, wenn es heißt: "Wo Nacht herrscht ... " ... von der "Schmerzensnacht" ist die Rede, dort, wo "alle Lichter schwiegen" ... dort, wo der "düstere Orkan" wütet .. , wo "purpurdunkle Nacht" herrscht ... dort "berichten Schatten" ...

Schon die berühmte Inschrift an der Pforte des Infernos im Canto 2 ist "dunkelfarbig" (colore oscuro), auf der es bedrohlich heißt:

Lasciate ogne speranza voi ch´intrate´.

"Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden!" -

Canto 5 ist eine Hommage an den Zustand der Dämmerung, in dem sich auch die körperlosen Seelen von Francesca und Paolo befinden. Solche Huldigungen an die Nacht wird es später in der Romantik geben, etwa in den Hymnen an die Nacht bei Novalis oder auch im englischen Schauerroman bei Walpole oder in den bezaubernden Chants du crepuscule von Victor Hugo. Doch ist dieser Dämmerzustand auch ein Zustand, in dem es nicht nur Drohendes gibt; er ist auch ein Zustand der Schwebe. Verzaubert ist die Welt, ein privilegierter Moment für die Melancholie, die das Dunkle bereits in ihrem Namen trägt. (Wolf Lepenies ist ihm in Melancholie und Gesellschaft nachgegangen.) Nicht Schlaf. Schlafwandeln. -




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Fr 17. Jul 2020, 18:17





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Fr 17. Jul 2020, 18:41

Das Verschmelzen von Fiktion und Realität, Träumen und Wachen: Fellini hat in seinem letzten Film Die Stimme des Mondes den "Verrückten" und "Spinnern" ein Denkmal gesetzt. Gonella und Salvini streifen durch die Nacht und am Ende wird der Mond vom Himmel geholt. Die Melancholie des Films mit der Musik von Nicola Piovani besteht in einer Rhetorik des Abschieds, die in lunaren Nachtszenen inszeniert wird. Es ist Fellinis Vermächtnis, ein letzter wehmütiger Blick zurück ins Vergangene. -




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Sa 18. Jul 2020, 17:32

Für Dante, der noch ohne Ägide Vergils ist, ist der Wald Hort des grauenvollen Dunkels.

Ahi quanto a dir qual era e cosa dura
esta selva selvaggia e aspra e forte
que ne pensier rinova la paura!


(Wie hart ist doch die Schildrung dieses rauen,
Verwachsenen wilden Waldes, voll von Schrecken;
Noch heute schafft Erinnrung mir Grauen)

Das ist die Antithese zur lichten Taghelle, die Nietzsche später das Apollinische nennen wird. Im Wald gleiten die Konturen ins Unklare. Festumrissenes löst sich auf. In Klingsors Zaubergarten wird Parsifal "welthellsichtig" und wieder ist es ein Kuß, der dazu Veranlassung gibt. Diesmal ist es kein gewiefter Paolo, sondern die liebeskundige Kundry ("Du weißt, wo du mich wiederfinden kannst!"), welche die Initiative ergreift. Parsifal widersteht und wird seiner eigenen Bestimmung gewiß.

Schelling dagegen läßt seine Clara sagen: "Wenn in der Nacht selbst [..] ein Licht aufginge, daß Ein nächtlicher Tag und Eine tagende Nacht uns alle umfinge, da wäre erst aller Wünsche letztes Ziel." (Clara oder Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Ein Gespräch; S. 18f.) - Hier ist die Vermischung, die Abbildung des Tages in der Nacht und umgekehrt, hortophil und nachtzugewandt, welche den Wald, vornehmlich den nächtlichen als eines Knaben Wunderhorn vorstellt, Inspirationsquelle für Dichtung in funkelnden Amethysten; ein Traumland für Nocturnes, gleich Shakespeares "So good night, with Lullaby" (Sommernachtstraum, II,2) -




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Sa 18. Jul 2020, 18:18

Leichtigkeit und Eleganz zeichnen die vier valses op. 38 von Gabriel Faure aus und natürlich Virtuosität. Die zweite valse caprice in Des-Dur schäumt in ihren Fiorituren und Arpeggien vor Brillanz und Grandezza. Die Musik, schreibt Jankelevitch, "ist die dionysischste aller Künste; sie, der Ort der träumerischen, unausdrückbaren und dämmerhaften Gedanken, das Stelldichein der larvenhaften Intuitionen im Schweigen des Logos und in der Einsamkeit der Seele." (Zauber, Improvisation, Virtuosität; S. 27) -

Unausdrückbare, dämmerhafte Gedanken - geschrieben ist das 1942, eine Unbegrifflichkeit avant la lettre.





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Sa 18. Jul 2020, 19:04

Ab 1905 entstehen Debussys Images pour orchestre. Unter dem Titel Iberia hat auch Debussy sich darin den Parfumes de la nuit, den Düften der Nacht zugewandt. Debussy verstand das Komponieren als Zeichnen in Musik. Solche Übertragungen finden sich schon bei Jean Paul, wenn es in der Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule im § 7 heißt: "Keine Farbe ist so romantisch als ein Ton." (Werke Bd. V; S. 466). Klänge und Düfte - Modulationen dieses romantischen Topos finden sich bei Baudelaire und Rimbaud wieder, etwa in Baudelaires Le crepuscule de soir. Und wer denkt hier nicht an die Düfte des Weißdorns bei Marcel Proust! - Vom "magischen Farbenspiel" spricht Novalis. - Simultaneität -





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So 19. Jul 2020, 14:35

"So giebt der Anblick eines bestirnten Himmels bei einer heitern Nacht
eine Art des Vergnügens, welches nur edle Seelen empfinden."
(Kant; Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels
in: Werkausgabe I; S. 396)

Könnte es sein, daß der kopernikanische Mensch beim Anblick des nächtlichen Sternenhimmels eine Art Wiedergutmachung für den Verlust seiner Illusionen erfährt? "Toutes les etoiles tombent" heißt es im vierten Akt von Pelleas et Melisande; "alle Sterne fallen herab". Die kopernikanische Welt hat die Statik des menschlichen Weltverhältnisses neu vermessen und der Romantik die Nachtseiten der Seele zugespielt. Die nächtliche Philosophie waltet über das Opake der Seele, Victor Hugo entziffert das "Zauberbuch der Gestirne", Heinrich v. Schubert beerbt nyktophile Techniken, die an Paracelsus erinnern. "Gelobt sei uns die ewige Nacht" schreibt Novalis in seinen Hymnen. Pascals stumme und trostlose Räume sind domestiziert durch Anverwandlung. Gabriel Dupont hört das Rauschen des Meeres. "Le bruissement de la mer la nuit" (Meeresrauschen in der Nacht). Die Nacht ist niemals stumm. -




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Mo 20. Jul 2020, 14:48

Das Meer - die Sterne - die Nacht - die Sehnsucht - die Melancholie

In Amarcord hat Fellini diesem Quartett eine filmische Szene gewidmet von zeitloser Schönheit, unterlegt mit der Musik von Nino Rota. - Die Bewohner der Stadt sind auf´s Meer hinausgefahren, um den Ozeanriesen "Rex" zu sehen:



"Millionen über Millionen über Millionen von Sternen. Jesus Christus, ich möchte ja wissen, wie die alle da oben bleiben [...] dort oben, wo setzt man dort das Fundament? ..."




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Di 21. Jul 2020, 01:15

Nightwood von Djuna Barnes entsteht in den 30er Jahren in der Villa von Peggy Guggenheim in Paris. (Den mit dem Untergang der Titanic Vertrauten ist der Name Guggenheim bekannt; Peggys Vater Benjamin Guggenheim war im April 1912 mit seiner französischen Geliebten Leontine Aubart auf der Titanic; nachdem er seiner Geliebten beim Einsteigen in ein Rettungsboot behilflich gewesen war, legte er zusammen mit seinem Butler seine feinste Abendgarderobe an. Nach der Überlieferung sagte er zu einem Mitglied der Crew: "We´ve dressed up in our best and are prepared to go down like gentlemen." Leontine Aubart überlebte den Untergang der Titanic und starb 1964. Die Leiche von Benjamin Guggenheim wurde nie gefunden.) -

Jeanette Winterson schreibt im Nachwort zur deutschen Übersetzung von Nightwood: "Nachtgewächs stellt Ansprüche. Man wird in die Prosa hineingezogen, weil sie narkotisiert, aber man kann nicht über sie hinweglesen. Diese Sprache will nicht informieren, sie will Bedeutungen entfalten." -

Zur Unschärfe des zu Bestimmenden gibt es einen überraschenden Fund an anderer Stelle, der das Bild der Dämmerung wieder aufgreift: "Dämmerlicht ... wo jeder Umriß, jede Andeutung dem Verstehen hilfreich werden kann." (Hans Blumenberg; Die Vollzähligkeit der Sterne; S. 376) - An anderer Stelle ist von "dialogtheoretischen Einführungszwängen für Begriffe" die Rede; immer wieder erweise sich "als eine der Illusionen im Umgang mit Theorien aller Art, daß vom Bestimmungsgrad der Begriffe, die sie einführen und verwenden, ihre Qualität schlechthin abhinge," dabei zeige sich doch oft, "daß die Strenge bei der Bildung oder Zulassung von Begriffen eher Sterilität begünstigt als präzisen Fortgang bewirkt." (Hans Blumenberg; Theorie der Lebenswelt; S. 10) - Bedeutungen zu entfalten, die immer Nachtseiten haben anstelle tagheller Sterilität. -




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Di 21. Jul 2020, 17:32

"Come, gentle night, come, loving, black-brow´d night."
(Romeo und Julia; III, 2) -

Im nächtlichen Garten der Capulets in Verona wird die Nacht zu einem konspirativen Teilhaber am Liebesgeschehen. Die Liebe verträgt keine Taghelle. Sie ist parteiisch und schlägt sich auf die Seite der Liebenden. Die noumenale Wahrheit der Nacht ist die Wahrheit der Poesie. Sie findet ihre Ausdrucksmöglichkeiten nicht in jener phänomenalen Wahrheit des Tages, dessen Lichtzwänge die Wahrheit in der Lichtung erscheinen lassen. Es gehört zu den Seltsamkeiten, daß die Philosophie nach Heidegger der Frage kaum nachgegangen ist, ob es eine ungelichtete Wahrheit im Schutz der Wälder gibt, eine Nachtseite der Wahrheit, nimmt man die Metapher beim Wort. Ist nicht nach der Erzählung Diotimas Eros ein Schlafwandler, ein "auf dem Boden umherliegender" Vagabund ohne festen Wohnsitz, der Protolunatiker jener Spezies, die als Nachtschwärmer das Flatterhafte und das Begehren im Namen tragen? -




Nauplios
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Mi 22. Jul 2020, 00:45

Wie der gute alte Kater Murr sich autodidaktisch zum homme de lettres ausbildete, so ist auch sein nachtstreifender Nachfahre Murphy von erwiesenem Bildungshunger, gefördert durch vereinzelte Leckerlis, versteckt zwischen den Buchseiten. Seiten, die sich zudem noch mit dem Pfötchen bewegen lassen und dabei eine eigenwillige Meta- und Antikinetik an den Tag legen, sind jedenfalls eine eingehende Untersuchung wert. Fällt die Lesbarkeit der Welt dann mit der Freßbarkeit des Geliebten zusammen, ist die Sprache des Begehrens ein zufriedenes Schnurren aus den Tiefen des Katzeninneren. -

Nachteilig für den Erhalt von Buchseiten wirkt sich solch' katzengerechte Herausforderung allerdings für den Fall aus, daß Bücher frei sind vom begehrten Naschzeug und aus der eingehenden Untersuchung eine verbissene Suchaktion wird mit Neigung zur Wut angesichts des vermeintlich Vorenthaltenen. Diese Art Irreführung erfährt von unserem homme de lettres jedenfalls hörbar Mißbilligung. So hat es jüngst Robert Walsers Mikrogramme erwischt, dessen rotes Lesebändchen ohnehin eine Provokation für den Spieltrieb einer Katze ist. -

Die Synchronisation unserer Schlafgewohnheiten war zwischen Nachtmensch und Nachttier kaum der Rede wert. Sobald es Mitternacht ist, machen Murphy und ich uns auf und durchstreifen die nächtliche Umgebung. In mond-beschienenen Nächten liegen die Felder in fahlem Licht, gegenüber der schwarze Wald. Oben im Blätterwerk rauscht es bei herbstlichem Sturm, unten hier und da ein geheimnisvolles Rascheln, ein Knacken im Unterholz. Der Wind trägt die Schläge der Glocke vom Kirchturm an unser Ohr. In der Ferne sieht man kleine rote Lämpchen. Es sind die Lichter des kleinen Friedhofs. Einmal - es war Murphys erster Winter - setzte gerade Schneefall ein. Die weißen Flocken wirbelten durch die Luft und die anfängliche Begeisterung im Haschen nach den Flocken wich schnell der Entrüstung über ihre nässende Wirkung. Das Katerchen maunzte kläglich und schmiegte sich an meine Beine. Da nahm ich ihn und öffnete den Reißverschluss meiner Winterjacke. Bald schon schaute aus dem warmen Logenplatz nur noch sein kleines Köpfchen heraus und ein vorwitziges weißes Pfötchen. Von der Wärme des Wollschals eingehüllt, ließ er sich die letzte Wegstrecke tragen.

Überhaupt braucht Murphy wie alle Katzen viel Körperkontakt. Nichts ist ihm behaglicher als in einer Armbeuge oder an den Hals geschmiegt einzuschlafen, natürlich auf seiner Lieblingsdecke - idealerweise mit dem Hinterteil vor meinem Gesicht. Während ich versuche, unserer Innigkeit noch eine Leseposition abzutrotzen, nimmt er so viel Fläche von mir in Beschlag, wie sein kleiner Katzenkörper durch Anschmiegen nur fähig ist. Er kann sehr besitzergreifend sein.

Murphy ist mein kongenialer Partner in der Nacht. Aus unerfindlichen Gründen zieht meine Lebensgefährtin zu dieser Zeit den Schlaf vor. Unsere nächtlichen Eskapaden lösen bei ihr gelegentlich eine Kombination von ungläubigem Entsetzen und fürsorgendem Tadel aus - Murphy und ich bleiben nicht immer auf den für Fußgänger vorgesehenen Wegen - was wohl daran liegt, daß man aus der Perspektive fast noch jugendlicher Jahre einen 66-jährigen Nachtwandler vor sich selbst schützen zu müssen meint. (Ich glaube, sie hat ernsthaft Sorge, daß mich eines nachts eine wohlmeinende Streife als Fall von Verwirrung nach Hause eskortiert, Murphy inbegriffen.) -

Die Welt hält nur bei Nacht, was sie verspricht. -
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Mi 22. Jul 2020, 18:03

Das Rascheln und Knacken im Unterholz beim nächtlichen Spaziergang, das Blätterrauschen in den Bäumen, Geräusche eines Insekts ... Der Gang in die Nacht gehört zu den bevorzugten Klang-Bildern des musikalischen Impressionismus, etwa bei Debussy, Faure, Dukas u.a. - Wie die zahlreichen Spiegelungen und Reflexionen im Wasser bei Claude Monet, so gibt es auch in der impressionistischen Musik ta hydrasi phantasmata, Spiegelbilder der Wasseroberfläche (Platon; Pol.; 516a). Das nächtliche Plätschern eines Brunnens, die Wellenspiele am Strand, das Murmeln einer Quelle im Wald - als wollte uns die Musik feinsinniger machen für das Geräusch, die Aufmerksamkeit auf die von Luther beargwöhnten fascinatio nugacitatis, jenem Zauber der Eitelkeit, der uns vom Guten ablenkt. -

In Leibniz´ Nouveaux essais heißt es in der Vorrede: "Um diese kleinen Perzeptionen, die wir in der Menge nicht unterscheiden können, noch besser zu fassen, bediene ich mich gewöhnlich des Beispiels vom Getöse oder Geräusch des Meeres, welches man vom Ufer aus wahrnimmt. Um dieses Geräusch, wie tatsächlich geschieht, zu hören, muß man sicherlich die Teile, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, d.h. das Geräusch einer jeden Welle hören, obgleich jedes dieser geringen Geräusche nur in der verworrenen Gemeinschaft mit allen übrigen zusammen, d.h. eben im Meeresbrausen selbst, erfaßbar ist und man es nicht bemerken würde, wenn die Welle, von der es herrührt, die einzige wäre." (S. 10) -

Im Grunde hat Leibniz hier metaphorisch eine Art Unbegrifflichkeit avant la lettre skizziert. Das nicht Faßbare, die Flüsterlaute unterhalb der Schwelle dessen, was nur als Getöse des Meeres an unser Ohr dringt wäre Gegenstand einer Meontologie des Hörbaren. Die Nacht schärft die Sinne.




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Mi 22. Jul 2020, 19:05

Utopos / Uchronos -

Die musikalischen Klang-Bilder sind ohne Chronotopoi (Bachtin), sie schweben gleichsam, sind Landschaften im Nirgendwo und Überall. "La pittura e cosa mentale" (Leonardo da Vinci), die Malerei ist geistig (Marcel Proust).




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Mi 22. Jul 2020, 23:19

In das Sinnfeld der Nacht, des Dunklen, Schemenhaften, lassen sich die dunklen Triebe und Erinnerungen ebenso eingliedern wie alle Tiefen der Brunnen der Vergangenheit. "Tief hinunter reichende Erinnerungen erfreuen, ja erheben den bodenlosen Menschen, der sich in diesem Wellendasein überall festklammern will [...] vielleicht aus den zwei Gründen, daß er durch dieses Rückentsinnen sich näher an die von Nächten und Geistern bewachten Pforten seines Lebens zurückzudrängen meint und daß er zweitens in der geistigen Kraft eines frühen Bewußtseins gleichsam eine Unabhängigkeit vom verächtlichen kleinen Menschenkörperchen zu finden glaubt." (Jean Paul; Konjektural-Biographie; S. 14)

Katakomben, unterirdische Labyrinthe, Höhlen, Blasen, das daimonion, Fuchsbauten, Fliegengläser bis hin zum Gehirn im Tank ... immer sind es Welten, die der Entdeckung harren, innere, vergangene, die aus dem Duft einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine wiedererinnert werden, äußere, geheimnisvolle, denen der Einstieg in den Snaefellsjökull vorausgeht und die bis zum Mittelpunkt der Erde führen. Und nicht selten sind es Führungskräfte, die in die Höhlen hinein und hinaus geleiten, Fachkundige für die "von Nächten und Geistern bewachten Pforten" des Lebens, Schlüsseldienste am Versperrten und Verschlossenen, darunter Fachkräfte für alle Arten des Irrealen wie des Realen. - Aus dem Genre des Kriminalfilms weiß man, daß zu den besten Verstecken die Oberfläche gehört. "In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt." (Wittgenstein; Vortrag über Ethik; S. 38)




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