Dolce Stil Novo - Von der Sprache des Begehrens

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Nauplios
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Do 23. Jul 2020, 14:57

Die Nacht E.T.A. Hoffmanns mit ihren obskuren Delirien und ihrem Personal an Hexen und Kobolden ist eine andere Nacht als die von Paul Verlaine oder Charles van Lerberghe. Das ist die flüsternde Nacht der kleinen Geräusche vor dem Hintergrund tiefer Stille. "Ein Stimmlein bebt / aus jedem Zweig" heißt es in Verlaines La lune blanche (Nr. 6). Faure steht paradigmatisch für die Verlaine´sche Nacht, für die ozeanische Nacht, die "leise schreitet" und der Nacht Baudelaires ähnelt ("die sanfte Nacht, die naht"). - "Les lignes, les couleurs, les sons deviennent vagues" ("Die Linien, Farben, Töne werden ungewiß") heißt es in der lyrischen Vorlage zu Soir von Albert Samain. Faure hat es vertont:





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Do 23. Jul 2020, 16:02

"Nacht ist wie ein stilles Meer" dichtet Eichendorff. Der Titel im Zyklus der Eichendorff-Lieder ist bei Hugo Wolf Die Nacht, bei Eichendorff Die Nachtblume.

Nacht ist wie ein stilles Meer,
Lust und Leid und Liebesklagen
Kommen so verworren her
In dem linden Wellenschlagen.

Wünsche wie die Wolken sind,
Schiffen durch die stillen Räume,
Wer erkennt im lauen Wind,
Ob´s Gedanken oder Träume? -

Schließ ich nun auch Herz und Mund,
Die so gern den Sternen klagen:
Leise doch im Herzensgrund
bleibt das linde Wellenschlagen


1834 entstanden, wurde das Gedicht 1837 veröffentlicht und u.a. vertont nicht nur von Hugo Wolf, sondern auch von Fanny Mendelssohn-Hensel. Der Titel Nachtblume ist bei Eichendorff natürlich nicht beiläufig gewählt. Es ist eine Art Selbstzitat jener schwarzgelockten Liebeszauberin, die als "Lockennacht" aus Der Schiffer bekannt ist. Das Meer als Metapher der Nacht mit seinem "linden Wellenschlagen" - "Gedanken oder Träume", eine Nyktopoetik könnte hier behutsam Schätze heben. -




Nauplios
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Do 23. Jul 2020, 17:29

Hat man je eine filmische Sequenz gesehen, die das Märchenhafte der Nacht, ihre Gefahren und ihre Surrealität auf eine nahezu scherenschnittartige und perfekte Weise so in Szene setzen wie in Charles Laughton einzigartigem Film The Night of the hunter von 1955! - Es ist Charles Laughtons einzige Regiearbeit, deren große Kunst lange Zeit weder vom Publikum noch von der Filmkritik anerkannt wurde. Charles Laughton hat bis zu seinem Tod 1962 aus Enttäuschung über dieses Unverständnis nie wieder die Regie eines Films übernommen. - 2008 wurde The night of the hunter vom französischen Filmmagazin Cahiers du cinema zum zweitbesten Film aller Zeiten gelistet.





Nauplios
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Fr 24. Jul 2020, 02:11

In Charles Laughtons Die Nacht des Jägers schützt die Dunkelheit die kleine Pearl und ihren Bruder John vor dem Zugriff des Wanderpredigers Harry Powell. - Mit Harry Lime nutzt ebenso ein übler Schieber die Vorzüge der Nacht. Die finale Verfolgungsjagd in der Kanalisation des kriegszerstörten Wien ist ein Meisterwerk filmischer Schatteninszenierung kombiniert mit akustischen Effekten. Hier hat Orson Welles seine erste Szene in Der dritte Mann, wortlos mit mokantem Lächeln und: Katze.





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Fr 24. Jul 2020, 03:02

Da wir schon dabei sind - selten hat eine Schlußszene mit solch kargen Mitteln ein Höchstmaß an Expressivität erzielt, ein Vorgriff auf das, was als Lebensgefühl schon bald Existentialismus heißen sollte. Hier kommt es auf jedes Detail an. Wiederum gegen Ende sprachlos. Anna Schmidt und Holly Martins - zwei unglücklich Verliebte, sie in den ruchlosen Harry Lime, der gerade beerdigt worden ist, er in sie. Der Höhepunkt dieser Szene, sozusagen ihr Schlußsatz ist die resignative Geste, mit der Martins das Streichholz fortwirft, synchron mit der allerletzten Tonika der unvergeßlichen Zithermusik von Anton Karas:





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Fr 24. Jul 2020, 15:36

Die sanfte, einhüllende Dunkelheit ist das Opium nächtlicher Luftreisen durch dahingleitenden Wolken. Das musikalische Format solcher Luftreisen im wiegenden Metrum ist die Berceuse. Chopin, Debussy, Albeniz, Ravel, Faure ... haben die Wellenbewegungen auf dem nächtlichen Ozean vertont. - Es wäre eine Untersuchung wert, inwiefern das Nocture, die Berceuse und andere musikalische Nachtformate zu Re-Importen in die Poesie geworden sind. Eine Typologie des philosophischen Denkens könnte in diesem Gelände fündig werden. -




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So 26. Jul 2020, 18:37

Der Nacht beheimatet ist der Schlaf, der Raum der Träume und seiner obersten Instanz, seit Freud das "Unbewußte". Als den kleinen Bruder des Todes hat Schopenhauer den Schlaf bezeichnet. Schon im Mythos sind ja Thanatos und Hypnos verbrüdert und Morpheus ist wiederum der Sohn des Hypnos. - Mörike war als Absolvent des Tübinger Stifts mit den griechischen Klasikern und dem Mythos bestens vertraut und keineswegs nur ein literarischer Vertreter des Biedermeier. Davon zeugen seine Übersetzungen der Homerischen Hymnen, der Anakreontischen Lieder und anderer griechischer und lateinischer Lyrik. Übersetzt hat er auch einige poetische Werke des heute vergessenen poeta laureatus Heinrich Meibom (1555-1625):

Somne levis! quanquam certissima mortis imago;
Consortem cupio te tarnen esse tori.
Alma quies, optata, veni! nam sic sine vita
Vivere, quam suave est, sic sine morte mori!


"Schlaf! Sanfter Schlaf! obwohl dem Tod wie du Nichts
gleicht:
Komm! theilen wir dies Lager brüderlich!
So ohne Leben, ach wie lieblich lebt es sich!
So ohne Tod, wie stirbt es sich so leicht!"

Einverständnis ist die Voraussetzung aller Ruhe, auch der ewigen. Hugo Wolf wird diese Verse vertonen (Mörike-Lieder, III, 29).

"Trag in dein Nichts mich fort! [...]
In dich, o Tod, möcht´ ich mich breiten,
Erlöschen und mich lösen,
Nach dir sich meine Seele sehnt! [...]
Lass meine Seele sich ergießen
In deine Tiefen, auf dass mit ihrem Wohlgeruch
Die dunkle Erde sie erfüllt und auch der Toten Odem."

(Charles van Lerbergh; O mort poussiere d´ etoiles, vertont von Gabriel Faure)




Nauplios
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So 26. Jul 2020, 19:01

1739443.jpg
1739443.jpg (28.9 KiB) 13070 mal betrachtet
(Carl Adolf Senff - Die Nacht mit ihren Kindern Tod und Schlaf - 1822)




Nauplios
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Mo 27. Jul 2020, 17:04

In the beginning God created the heaven and the earth ...


Es ist vielleicht das berühmteste Dunkel, das wir kennen: der dunkle Weltraum als Hintergrund der blau-weißen Erde, aufgenommen während der Apollo-8-Mission. "Earthrise" ist der ikonische Beleg für die - wenn man das noch sagen darf - Schönheit der Erde. Am 21. Dezember 1968 startet die Weltraum-Mission mit Frank Borman, Bill Anders und James Lovell an Bord. An Heiligabend erreichen sie ihr Ziel, den Mond. Zum ersten Mal können Mensch zurückschauen zur Erde. Der Mond erscheint wüst und leer. Vor dem dunklen Hintergrund des Weltraums hebt sich die Erde ab wie eine "blaue Murmel".





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Alethos
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Mo 27. Jul 2020, 17:33

Nauplios hat geschrieben :
Mo 27. Jul 2020, 17:04
wenn man das noch sagen darf
Feindosierte Ironie fühlt sich ein bisschen an wie eine kühle Brise in der sonst schwülen Nacht.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

Nauplios
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Mo 27. Jul 2020, 18:08

Alethos hat geschrieben :
Mo 27. Jul 2020, 17:33
Nauplios hat geschrieben :
Mo 27. Jul 2020, 17:04
wenn man das noch sagen darf
Feindosierte Ironie fühlt sich ein bisschen an wie eine kühle Brise in der sonst schwülen Nacht.
Um die Dosierung noch mit einer Prise Klassizismus zu würzen: In seiner Winckelmann-Schrift schreibt Goethe:

"Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?" (Hamburger Ausgabe; Bd. XXII; S. 98) -

Nun hat Goethe an dieser Stelle wohl das Possessivpronomen auf den "Aufwand an Sonnen und Planeten ... " bezogen wissen wollen; immerhin schreibt Goethe hier über Winckelmann; man kann es allerdings auch (heideggerisch) im Hinblick auf das Dasein eines "glücklichen Menschen" lesen und macht damit kaum etwas falsch, denn es ist das Glück des Menschen ebenso wie das vor Glück aufjauchzende Weltall in einer möglichen Selbstbeziehung. Goethe belebt hier noch mal den antiken kosmos-Gedanken und changiert damit die kopernikanische Wende und ihre Transformationen im Welt- und Selbstverhältnis des Menschen. Goethes Gedanke läßt die Musik der Sphärenharmonie wieder anklingen.




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Mo 27. Jul 2020, 18:25

Im Zusammenhang mit dem "freien Entzücken" des Menschen und dem "Aufjauchzen" des Weltalls hat Hartmut Böhme von einem erotischen Responsorium zwischen diesen Instanzen gesprochen. Filmisch inszeniert hat dieses Responsorium Monty Python. - Modalität: Very British.





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Di 28. Jul 2020, 18:02

Das Dunkel des Weltalls ist oft in den Science-Fiction-Filmen ein unauffälliger Hintergrund für Bombastisches im Vordergrund. Anders in Kubricks 2001: A Space Odyssey - ebenfalls aus dem Jahr 1968. Nach dem vielleicht berühmtesten Filmschnitt wird am Umkehrpunkt aus dem in die Luft geschleuderten Knochen ein Erdsatellit. Das dunkle Weltall und seine drückende Stille erfassen den Zuschauer. - Gegenüber diesem Dunkel interstellarer Weite und Unermeßlichkeit nimmt sich ein anderes Dunkel als geradezu schützend und bergend aus, das Dunkel der Höhle. Das erotische Responsorium hat sich hier zum Schoß der Erde verwandelt, ein Ort der Zuflucht zur "Entlastung vomˋRealismus´ der freien Landschaft" (Blumenberg).




Nauplios
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Di 28. Jul 2020, 19:05

Kosmos und Höhle - Die Gnosis hat beides zu kombinieren gewußt. Danach wird der Kosmos selbst zu einer Höhle, aber nicht zur bergenden, sondern zur einschließenden, welche nichts anderes als Gefangenschaft bedeutet. Auf-Klärung als Dienst an der Erleuchtung des Dunklen heißt hier, das troglodyte Geschehen als ein soteriologisches zu entwerfen, bei dem noch der gestirnte Himmel zur Kulisse trügerischer Vorgänge wird. Das Verlassen der Höhle ist jetzt nur noch in Form des Todes möglich. Aufklärung wird Erlösung. Dafür ist das Licht dieser Erlösung dann auch ewig. -




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Di 28. Jul 2020, 19:35

"Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es unerbittlich zu wiederholen." (Ludwig Wittgenstein; Philosophische Untersuchungen, § 115) -




Nauplios
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Do 30. Jul 2020, 18:22

Die Höhle als der eingrenzende, einschließende, aber auch bergende und schützende, chthonische Bereich findet ihre Gegenrichtung im Offenen, Sylphiden des blauen Himmels, der Heimat der leggierezza, des Luftigen und Zauberhaften. Von der "aufsteigenden Arabeske" spricht Jankelevitch im Hinblick auf Kompositionen wie C´est l´extase (op. 58/5) oder La rose (op. 51/4) von Faure, von einem "blauen Aufstieg". Dem azurfarbenen Himmel, dessen Blau ein Sinnfeld voller Assoziationen anregt, hat der Blumenberg-Biograph Jürgen Goldstein ein faszinierendes Buch gewidmet: Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen. -




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Friederike
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Fr 31. Jul 2020, 12:28

Lieber Nauplios, wenn Du einen "Dolce Stil Novo" Part 2 o.ä. einrichten würdest, so tätest Du mir einen großen Gefallen. Mein Laptop gibt eindeutig zu erkennen, daß er sehr demnächst seinen Dienst nicht mehr wird tun können wegen der Bilder und der zahlreichen verlinkten Videos. Dasselbe Problem, nur zu Deiner Information, hatte bzw. habe ich beim Musik-Thread ... dort ist der schlimmste :mrgreen: Fall bereits eingetreten: Jeder Versuch, den Thread zu öffnen, endet mit dem "Sich-Aufhängen" des PC's. Ich tät jedoch gerne weiter mitlesen, was Du über die Begehrnisse schreibst.Bild




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