Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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Nauplios
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Fr 31. Jul 2020, 19:54

Lor corso in questa valle si diroccia;
fanno Acheronte, Stige e flegetonta;
poi sen van giu per questa stretta doccia;

infin la dove piu non si dismonta,
fanno Cocito;


("Um ihren Lauf nach diesem Thal zu kehren,
Als Acheron, als Styx, als Phlegethon,
Und bilden, wenn sie zu den tiefsten Sphären

Durch diesen engen Graben hingeflohn,
Dort den Cocyt;")

Dante - Inferno - XIV Canto - 115ff -

Dante erwähnt zu diesen drei Flüssen der Unterwelt noch Lethe, den Fluß des Vergessens ("Sprich noch, wo Phlegethon, wo Lethe fließt?"), doch Pausanias erwähnt auch Mnemosyne als einen Unterweltsfluß (9, 39, 8). Geführt wird Mnemosyne bei Hesiod hingegen als Mutter der neun Musen. Als unterirdisch fließend gibt Mnemosyne den Hinweis auf ihr Dunkles, Geheimnisvolles, Unverfügbares. Von einer "kulturellen Mnemotechnik" spricht Jan Assmann als dem kulturellen Gedächtnis.

Bekanntlich hat Aby Warburg seinen berühmten Bilderatlas Mnemosyne genannt. Es ist die Summe dessen, was Warburg über das "bewegte Beiwerk", den "Pathosformeln" bis hin zum "Nachleben" an kunst- und kulturgeschichtlichen Überlegungen entwickelt hat und was entgegen der Tradition von Vasari und Winckelmann die Zeit als "unreine" und nicht in ihrem linearen Verlauf als Abfolge von Epochen und Kunststilen denkt. -




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Sa 1. Aug 2020, 17:39

In der zweiten Szene des ersten Aufzugs von Shakespear´s Der Sturm singt der Luftgeist Ariel:

"Full fathom five thy father lies,
Of his bones are coral made:
Those are pearls that doth fade,
But doth suffer a sea-change
Into something rich and strange ..."

"Fünf Faden tief liegt Vater dein.
Sein Gebein wird zu Korallen,
Perlen sind die Augen sein.
Nichts an ihm, das soll verfallen,
Das nicht wandelt Meereshut
In ein reich und seltnes Gut"

Luftgeister sind dafür bekannt, daß sie ihre Formen ändern können; insbesondere gilt das für Ariel. In Sylvia Plaths Gedichtsammlung Ariel, geht es um diese Form- und Gestaltänderung, um Transformationen und Erneuerungen. Im Titelgedicht verschmelzen Reiterin und Pferd und werden zu einem reinen Flug dem Morgen entgegen ("Und ich / Bin der Pfeil / Der Tau, der verfliegt.") - So nutzt auch Prospero die Künste Ariels auf seiner einsamen Insel, um die Konstellation Schiffbruch mit Zuschauer zu inszenieren, anders als bei Lukrez jedoch in Verbindung mit einer Intrige. Das Meer und seine (Ob-)hut treibt die Metamorphosen an, nichts verfällt, alles wird gewandelt und als "ein reich und seltnes Gut" zurückgegeben. - Die Zeit spült das Vergangene wieder an den Strand der Erinnerung. Ohne Mnemosyne gäbe es keine Geschichte im Sinne eines Integrals von Erinnertem. Die Geschichte als ein Gewebe, das die Gegenwart trägt, ist jenem Verständnis entgegengesetzt, das Winckelmann so umschreibt:

"Die Geschichte der Kunst soll den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall derselben ... lehren." (Geschichte der Kunst des Altertums, S. 9) -




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Sa 1. Aug 2020, 19:38

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Aby Warburg zitiert in seiner Dissertation über Botticellis Geburt der Venus und Frühling Leon Battista Alberti:

"Es bereitet Vergnügen, in Haaren, Mähnen, Zweigen, Laubwerk und Kleidern irgendwelche Bewegung zu sehen." (Alberti; Kleinere kunsttheoretische Schriften; S. 129ff) - Die Geburt der Venus ist auch die Geburt des bewegten Beiwerks von Warburg, dessen kunsttheoretisches Interesse sich u.a. auch Gedanken Hermann Useners verdankt und dessen Annäherung von Anthropologie und Kunstgeschichte. Eine auf Blumenberg zulaufende Vorgeschichte der Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte wird hier auf Fundstellen stoßen: Usener, Burckhardt, Warburg, Wölfflin ...




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So 2. Aug 2020, 18:16

Vasari über die Geburt der Venus und Frühling:

"In Castello, dem Landhaus des Herzogs Cosimo, sind heute noch zwei besonders liebliche Gemälde dieser Art zu sehen: das eine zeigt die Geburt der Venus, umspielt von den zarten Lüften und Winden, die sie mitsamt ihrem Gefolge von Amoretten ins Leben rufen, das andere Venus, die von den Grazien mit Frühlingsblumen bekränzt wird." (zit. n. Aby Warburg; Werke; S. 40) -

Die literarische Vorlage der Geburt der Venus dürfte der zweite Homerische Hymnus sein:

"Aphrodite die schöne, die züchtige will ich besingen,
Sie mit dem goldenen Kranz, die der meerumflossenen Kypros
Zinnen beherrscht, wohin sie des Zephyros schwellender Windhauch
Sanft hintrug auf der Woge des vielaufrauschenden Meeres,
Im weichflockigen Schaum; und die Horen mit Golddiademen
Nahmen mit Freuden sie auf, und thaten ihr göttliche Kleider
An, und setzten ihr ferner den schön aus Golde gemachten
Kranz aufs heilige Haupt, und hangten ihr dann in die Ohren
Blumengeschmeide aus Erz und gepriesenem Golde verfertigt.
Aber den zierlichen Hals und den schneeweiss strahlenden Busen
Schmückten mit goldener Ketten Geschmeide sie, welche die Horen
Selber geschmückt, die mit Gold umkränzeten, wenn zu der Götter
Anmuthseeligem Reihn und dem Vaterpalaste sie gingen."

Auf diesem Homerischen Hymnus basiert auch Polizianos Stanze per la giostra (Der Triumph Cupidos). Poliziano war der Hofpoet der Medici und hat Botticelli bei Primavera und der Geburt der Venus beraten. Links sieht man Zephyr und Chloris/Flora, rechts eine der Horen, die Venus einen Umhang reicht. Entscheidend ist das Wehen, das Flattern - der Wind, der mit den Gewändern und den herabwallenden Haaren spielt ... das bewegte Beiwerk, wie Warburg es nennt. -




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So 2. Aug 2020, 19:04

Zwei Jahre vor seinem Tod hat Aby Warburg 1927 eine Lehrveranstaltung mit dem Titel "Seminarübungen über Jacob Burckhardt" (wiederabgedruckt in: Werke in einem Band; S. 698ff). Darin ist bezogen auf Nietzsche und Burckhardt von "Subjekten einer implizierten Zeit" die Rede. Beide seien "Auffänger" des "geschichtlichen Lebens" gewesen; dabei stellt er sich dieses geschichtliche Leben als "mnemische Wellen" vor. Burckhardt selbst spricht vom "Grundakkord" der überlebenden Dinge. In geologischer Metaphorik schreibt Warburg:

"Wir müssen Burckhardt und Nietzsche als Auffänger der mnemischen Wellen erkennen und sehen, daß das, was sie als Weltbewußtsein, sie beide in ganz anderer Weise ergreift. Wir müssen sie sich gegenseitig beleuchten lassen, und diese Betrachtung muß uns dazu verhelfen, Burckhardt als Erleider seines Berufes zu verstehen. Beide sind sehr empfindliche Seismographen, die in ihren Grundfesten beben, wenn sie die [Schock-, Erinnerungs-]Wellen empfangen und weitergeben müssen."

Das "geschichtliche Leben" ist immer auch "Nachleben". Der Seismograph (Historiker) hat es ja gerade nicht mit dem sichtbaren, sondern mit den unsichtbaren Ausschlägen [Bewegungen] dieses geschichtlichen Lebens zu tun - sofern er Historiker und nicht bloßer Chronist sein will. Hier deutet sich so etwas wie Metakinetik an, eine Bewegung im Hintergrund, vor dem sich das bloße geschichtliche Faktum ereignet. -




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Di 4. Aug 2020, 23:57

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Mi 5. Aug 2020, 00:22

Primavera von Botticelli wird oft als Allegorie auf den Frühling gedeutet. Venus in der Mitte. Darüber der schwebende Amor. Links die drei Grazien, außen Merkur, der mit seinem Heroldsstab die Wolken/Nebel in den Wipfeln der Bäume zerstreut. Ganz rechts außen wieder Zephyr, der die Nymphe Chloris anweht und umfängt. Aus ihrem Mund quellen Rosenknospen und gleiten auf das Gewand von Flora. -

Aby Warburg hat vorgeschlagen, Primavera nicht als Allegorie des Frühlings zu sehen, sondern als den Augenblick, welcher der Geburt der Venus folgt. Das Bild müßte eigentlich Il regno di Venere (Das Reich der Venus) heißen. Die literarische Quelle ist natürlich Ovid (Metamorphosen, Fasti) sowie, was die drei Grazien betrifft, Hesiod.




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Mi 5. Aug 2020, 01:50

https://zkm.de/de/person/claudia-wedepohl

Der Link führt zu einer Seite, auf der ein Vortrag von Claudia Wedepohl zu hören ist, in dem es u.a. auch um Warburgs Dissertation über Die Geburt der Venus und Primavera geht.




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Mi 5. Aug 2020, 17:20

In Polizianos Stanze per la giostra gibt es eine Stelle, in der Giuliano dei Medici seine Geliebte, die schöne Simonetta (die Frau des Florentiners Marco Vespucci) überrascht. Auf dem Grase sitzend, windet sie einen Kranz. Als sie Giuliano erblickt, rafft sie "mit anmuthiger Bewegung" den Saum ihres Kleides, welches voll mit gepflückten Blumen ist. Indem sie fortschreitet spriessen unter ihren Füßen Blumen: "Ma erba l´erba verde sotto i dolci passi / Bianca gialla vermiglia azzurra fassi." [Die grüne Wiese unter holdem Tritt / Wird weiß und gelb und blau und scharlachrot.] - se Giuliano schaut ihr versonnen nach. "Fra se lodando il dolce andar celeste / E´l ventilar dell´ angelica veste." [Und preist für sich ihr himmlisch-zartes Schreiten / Und ihres engel-gleichen Kleides Wehn.] -

Warburg hält in seiner Dissertation die Frühlingshore auf La nascita di Venere und Primavera für Simonetta Cattaneo Vespucci. (Gombrich verwirft diese These.) Die schönste Frau von Florenz und "Königin der Schönheit", regina della bellezza, starb mit 23 Jahren an der Schwindsucht. - Ob man hier die Parallele zu Dantes Beatrice ziehen kann? -




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Do 6. Aug 2020, 17:25

Der Tod Simonettas hat Lorenzo de´ Medici zu vier Sonetten veranlaßt. Im ersten dieser Sonette glaubt er, Simonetta in einem Stern zu erkennen, den er am nächtlichen Himmel erblickt. Bernardo Pulci, ein Freund Lorenzos, dichtet:

Nympha, che in terra un freddo saxo copre
Benigna Stella hor su nel ciel gradita
Quando la luce tua vie si scopre
Torna a veder la tua patria smarrita.


"Nymphe, die auf Erden ein kalter Stein bedeckt,
Gütiger Stern, der nun dem Himmel lieb ist,
Wenn dein Licht sich dort enthüllt,
Kehre zurück, dein verlorenes Vaterland zu sehen."

Simonetta Vespucci - Beatrice Portinari - Francesca da Polenta / Stern - Führerin durch das paradiso - Die unglücklich Verliebte

Nachleben




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Do 6. Aug 2020, 18:43

Nachleben / Überleben

"Neben allem Wissensstoff der Erde behauptet sich, wie ein Grundakkord, der immer wieder hindurchtönt, die Geschichte der alten Welt, das heißt aller derjenigen Völker, deren Leben in das unsrige eingemündet ist." (Jacob Burckhardt; Historische Fragmente; S. 6) -

Burckhardt spricht dabei von einer "Wirbel-Zeit" der "lebensfähigen Reste". Das ist ein wenig gegen "Ankunft einer neuen Kunst" gerichtet, eine Formel die im Zusammenhang mit der Renaissance Jules Michelet vertrat. Es ist nicht nur eine "Wiedergeburt" der Antike, es ist das "Nachleben der Antike", welches Warburg den Gedanken des geschichtlichen "Grundakkords" von Jacob Burckhardt aufnehmen läßt. Während Vasari gleichsam Verwandtschaftsbeziehungen auseinander legt und Winckelmann das Hohelied antiken Ideals anstimmt, entwickelt Burckhardt ein anderes Zeitmodell, das die Geschichte als eine Grundierung für das, was jeweils Gegenwart ist, denkt. Die Kunstgeschichte wird nicht mehr als Entwicklungsmodell von Perioden und Stilen gedacht, als geradliniger Verlauf, sondern als ein Ineinander von Zeiten. Bilder werden zu Symptomen. Das ist die Intention, wenn Warburg in großen Buchstaben "MNEMOSYNE" über den Eingang zu seiner Bibliothek setzte. Die Zeit ist unrein.




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Do 6. Aug 2020, 23:57

Die Renaissance als eine Wiederkehr des Alten bzw. als eine "Rückkehr zur unveräußerlichen Form" (Die Legitimität der Neuzeit; S. 137) zu verstehen mündet bei Eric Voegelin in den Verdacht, die Neuzeit sei eigentlich das gnostische Zeitalter. Bekanntlich hat Hans Blumenberg dem widersprochen und die Neuzeit die "zweite Überwindung der Gnosis" genannt. Mir scheint, daß Warburg und Blumenberg sich darin einig sind, daß die Geschichtlichkeit der Geschichte keine linear verlaufende Abfolge von Episoden ist, weder in der Philosophie noch in der Kunstgeschichte. Blumenbergs Metakinetik und Warburgs Nachleben haben es mit Epochenschwellen zu tun, deren theoretische Beschreibung nicht möglich ist durch Festhalten an einem linearen Zeitverständnis. Die Unreinheit der Zeit führt zur Frage nach dem Möglichkeitssinn. Welche Optionen hat es für Theoriewechsel gegeben - warum etwa wurde ein Kopernikus im 16. Jahrhundert möglich (und damit später die "kopernikanische Welt") und nicht schon in der Antike, hatte doch Aristarch im dritten Jahrhundert v. Chr. bereits gelehrt, daß die Erde um die Sonne läuft. - Mit verfeinerten Beobachtungen, besseren Aufzeichnungen allein ist das nicht zu erklären. Es ist der geschichtliche Hintergrund, die historische "Konstellation", welche Möglichkeiten eröffnet. - Denn es sind ja keineswegs die "Weiterentwicklung" oder der "Erkenntnisfortschritt", welche Spielräume gewähren. Was Wirklichkeit ist, Objektivität, Subjektivität usw. ereignet sich immer vor einem geschichtlichen Hintergrund. Deswegen sind Überlegungen, die die Wirkungsweise geschichtlicher Konstellationen ausblenden, stets unproduktiv, weil die Wirklichkeit, das Subjekt, die Wahrheit u.a. verwoben sind mit dem geschichtlichen Hintergrund, vor dem sie auftreten, sich modifizieren u.ä. Verstehen bedeutet hier ein geschichtlich angeleitetes Verstehen.




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Fr 7. Aug 2020, 18:29

Wenn bei Hans Blumenberg von einer "Geistesgeschichte der Technik" die Rede ist, dann ist das keineswegs mit einer Geschichte der Technik, Technikgeschichte oder einem Kaleidoskop von Erfindungen zu verwechseln. Die zentrale Frage einer Geistesgeschichte der Technik war für Blumenberg, "ob und wie aus einem bestimmten Verständnis der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen innerhalb dieser Wirklichkeit technischer Wille entsteht". - Analog dazu hätte es eine "Geistesgeschichte der Kunst" mit einem Verständnis der Wirklichkeit zu tun, zu dem Nietzsche (auch Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance in Italien) bereits Anstöße gegeben hat - etwa in der Geburt der Tragödie. Aby Warburg käme ebenfalls als Pionier einer solchen "Geistesgeschichte der Kunst" in Betracht. -




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Sa 8. Aug 2020, 18:21

Denn für Nietzsche ist ja die griechische Tragödie das Zentrum der Kunst schlechthin. In einem der späten Fragmente aus dem Willen zur Macht heißt es, die Tragödie sei eine Art Kindheit, die in uns überlebt "und dieses Überleben gebiert uns immer wieder". Dies ist noch nicht die "ewige Wiederkunft des Gleichen"; aber es ist ziemlich genau jene Zeitstruktur des Warburg' schen Nachlebens, die grundsätzlich etwas anderes ist als Winckelmanns "Nachahmung". Die Nachahmung läuft auf ein ästhetisches Regelwerk hinaus, exemplarisch etwa in der Gottsched' schen Regelpoetik, das Nachleben auf eine Geburt, die Nietzsche in der Phase seiner Tragödienschrift in den Musikdramen Wagners sah. -




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So 9. Aug 2020, 17:29

"Im Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein ˋDas´ spiegeln." (Nietzsche; Menschliches, Allzumenschliches; S. 387) - Erinnern und Vergessen sind die Parameter ständiger Veränderung, die "das Bild des Lebens" als Inbegriff eines solchen Werdenden prägen. Geschichte ist keine Ansammlung von Fakten, die etwa einem historischen Wissen verfügbar sind. Nicht Fakten, sondern Leben - so könnte man Nietzsches Kritik am Historismus des 19. Jahhrunderts auf eine Formel bringen. Ähnliches hatte bereits Goethe im Sinn, der an Schiller schreibt: "Übrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben." (19. Dezember 1798) -

Geschichte ist Bewegung, ist (für Nietzsche insbesondere) ein Spiel von Kräften (Erinnerung / Vergessen). In seiner Nietzsche-Studie bringt Gilles Deleuze das so auf den Punkt: "Die Geschichte eines Dings besteht ganz allgemein in der Aufeinanderfolge der Kräfte, die sich seiner bemächtigen, so wie im gleichzeitigen Vorhandensein der Kräfte, die um seine Überwältigung ringen. Ein und dasselbe Ding ... ändert jeweils entsprechend den Kräften, von denen es angeeignet wird, seinen Sinn." (Gilles Deleuze; Nietzsche und die Philosophie; S. 45) -




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So 9. Aug 2020, 18:43

Bei all dem muß man sich vergegenwärtigen, daß Begriffe ihrerseits ebenso der geschichtlichen Wandlung unterliegen. Begriffe wandern, gehen fremd. Wenn hier von Kräften die Rede war, so kennt etwa die aristotelische Physik den Begriff einer inhärenten Kraft gar nicht. Das ist denn auch einer der Gründe, warum die scholastische Naturtheorie sich so schwer getan hat mit der Frage, wie etwas an einer Stelle wirken kann, wo es selbst nicht ist. Die aristotelische Physik kannte das Newton´sche Trägheitsprinzip nicht. Für sie mußte für eine Veränderung immer auch ein Veränderer her, der diese aktiv bewirkt - im nicht seltenen Fall Gott. Bei dem Versuch, Aristoteles in die christliche Theologie zu integrieren, handelte man sich Folgeprobleme ein, deren hauptsächlichstes darin bestand, daß der christliche Gott seine Allmacht auf die Bedingungen des antiken Kosmos und einer bestimmten Physik eingeschränkte - sofern ja beides miteinander vereinbar sein mußte. Wenn Gott aber den physikalischen Bedingungen "seines" Kosmos unterworfen war, wie konnte er dann allmächtig sein? - Wäre es nicht gerade ein Zeichen seiner Allmacht, wenn er Welt(en) schaffen könnte, die dieser Physik widersprechen würden? -

Man sieht schon, in welche Schwierigkeiten die antike Philosophie des Aristoteles, die Thomas von Aquin mit der christlichen Offenbarung kompatibel halten wollte, die Theologie des Mittelalters brachte. Denn aus dem Begriff der Kraft heraus stellte sich sofort das Problem, wie Gott in einer Welt wirken konnte, in der seine Anwesenheit zwar geglaubt, aber nicht gewußt werden konnte. Was war mit der Kraft Gottes? - Wie wirkte sie? - Die Scholastik behalf sich mit der Denkfigur der actio per distans, eine Formel, die Blumenberg-Lesern bestens vertraut ist. Noch im Mittelalter war der Begriff der actio per distans der göttlichen Kraft vorbehalten, aus der göttlichen Transzendenz heraus in die irdische Immanenz zu wirken.

Begriffe unterliegen Transformationen wie man an diesem Beispiel sehen kann, sie haben einen Migrationshintergrund. Das gilt natürlich für Begriffe wie Wahrheit oder auch Schönheit ebenso.




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So 9. Aug 2020, 19:04

Will man darauf die Probe machen, stelle man sich die Frage, ob die Antike die impressionistische Malerei Monets in ihren Kanon des Schönen aufgenommen hätte oder ob die Musik Faures und Debussys die Herzen antiker oder mittelalterlicher Zuhörer hätte erobern können. In Matthäuspassion beschreibt Blumenberg die Transformationen theologischer Gehalte am Beispiel des modernen Hörers der Bach´schen Passionsmusik. Ohne die Hineinnahme historisch bedingter Verständnisse wird kein philosophischer Totalitäts- und Orientierungsbegriff wie Wahrheit, Schönheit, Wirklichkeit ... zum Sprechen gebracht werden können. Was an Definitionen diesbezüglich offeriert wird, überschreitet das Limit "karger Ausbeute" nicht. -




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Mo 10. Aug 2020, 17:17

In Nietzsches zweiter Unzeitgemäßen Betrachtung wird einem Verständnis von Geschichte der Prozeß gemacht, für welches diese Geschichte ein toter Gegenstand ist, der zwar bewahrt werden müßte, doch ist dieses Bewahren nicht mehr als ein Mumifizieren. Nietzsche spricht auch vom unbeweglichen "Steinhaufen" von angehäuften Fakten. Bei Nietzsche (und Warburg) geht es hingegen um "Kräfte", um Spannungen, um Brüche ... um das Nachleben und um die Metamorphosen dieses Nachlebens. Etwas Totes hat kein Nachleben. Dieses Verständnis der Geschichte sieht in ihr nicht mehr als ein "Alter der Menschheit" oder wie Nietzsche sagt, in einer solchen Kultur werden die Menschen "sogleich grauhaarig geboren". Auf diese Weise wird die Geschichte zu einer, welche "die Vergangenheit tötet"; zwar hält sich dieser Begriff von Geschichte für "wissenschaftlich" und "objektiv", aber was Nietzsche hier interessiert, ist die "Geschichte, in der die Vergangenheit lebt und überlebt". Das Objekt einer solchen Geschichte ist die nachlebende "Kraft". -

Nietzsche charakterisiert diese Geschichte als eine "künstlerische Potenz". Die Geschichte solle es ertragen, "zum Kunstwerk umgebildet" zu werden. Denn nach Nietzsches Auffassung beginnt "mit dem Organischen auch das Künstlerische". -

Geschichte als "Steinhaufen" bloßer Fakten / Geschichte als "künstlerische Potenz", als nachlebende Kraft.




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Jörn Budesheim
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Mo 10. Aug 2020, 19:07

Es gibt ja dieses schöne Zitat, das sagt, Geschichte sei nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitertragen des Feuers. Dieses Zitat ist natürlich den Asche-Bewahrern zu Ohren bekommen. Und heute sagen sie ist beim Bewahren der Asche immer auf.




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Mo 10. Aug 2020, 20:23

Bekanntlich war Hans Blumenberg wie Ernst Jünger ein Sammler letzter Worte - realer wie fiktiver. Blumenbergs "Wetteinsatz" im Wettbewerb um mögliche Vorschläge an die Tradition waren im Fall Heideggers bekanntlich: "Kein Grund mehr zur Sorge." - Die Faktenlage bei Aby Warburg ist zumindest im Hinblick auf seine letzten geschriebenen Worte belastbarer. Sein letzter Aufsatz Mnemosyne, Grundbegriffe endet mit "und zurück". - Warburg ist zu diesem Zeitpunkt mit der "Wiederbelebung antiker Dynamogramme" beschäftigt, mit Polaritäten und "Schwingungsdiagrammen," mit dem, was er gern die "ewige Wippe" nennt, eine Art "energetisches Engramm", also eine auf Wirkkräften beruhende Inscription, die sich in einer oszillierenden Bewegung, einer "Lebensenergie" zeigt, in einer endlosen Bewegung des "Ein- und Ausströmens". Das Bild stellt nicht nur etwas dar; es bildet nicht nur etwas ab. Es atmet. Warburg meint diese Atmung, wenn es heißt, das Bild "schlägt". Das Bild schlägt gleichsam im Rhythmus von Diastole und Systole. Es schwingt. Es schwingt vor - "und zurück". -

Die Heidegger-Biographie weiß zu berichten, am Morgen des 26. Mai 1976 habe Heidegger zu seiner Frau Elfriede gesagt: "Ich bleibe noch liegen." -




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