Spaemanns Gottesbeweis: Warum wir, wenn es Gott nicht gibt, überhaupt nichts denken können

Glaube und Wissen, Wesen und Formen von Religionen, ihre Bedeutung für das menschliche Leben, Grundfiguren religiösen Denkens u.ä. - Darauf wirft die Religionsphilosophie ihren Blick.
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Jörn Budesheim
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Fr 22. Sep 2017, 09:48

Das Gerücht von Gott liegt überall, wo Menschen sind, in wie deformierter Gestalt auch immer, in der Luft. In der griechischen Philosophie wird es erstmals begrifflich gedacht, in Israel verliert es erstmals seinen Charakter als Gerücht und wird zu einer gemeinschaftlichen Glaubenserfahrung, bis dann innerhalb Israels Jesus von Nazareth auftritt und sagt: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen."

Aber die Frage bleibt: Entspricht diesem Gerücht etwas in der Realität? Wir wissen, was wir meinen, wenn wir "Gott" sagen. Wir haben, wie Kant sagt, ein fehlerfreies Ideal von diesem höchsten Wesen, einen "Begriff, welcher die ganze menschliche Erfahrung schließt und krönet". Aber welchen Grund haben wir zu glauben, daß diesem Begriff, wie wiederum Kant sagt, "objektive Realität" zukommt? Welchen Grund haben wir zu glauben, daß Gott mehr ist als eine Idee, welchen Grund haben wir zu glauben, daß er existiert?

https://www.welt.de/print-welt/article5 ... eweis.html




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Fr 22. Sep 2017, 18:40

Anselm lässt grüßen. Aus der Sprache ergibt sich, dass Gott notwendig existiert.

Das Argument, dass es ewige Wahrheit ohne Gott nicht geben kann, sollte man durchaus ernst nehmen. Die Frage ist, ob es ewige Wahrheit gibt.




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Alethos
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Sa 23. Sep 2017, 10:42

Ich habe den Beitrag gelesen, aber Gott nicht gefunden.

Gestern durfte ich auf dem Rückweg aus Brüssel ein interessantes Gespräch über den Glauben führen. Mein Gesprächspartner sagte mir: 'Glauben ist nicht Wissen. Wissen tun wir nur das Beweisbare'. Wenn wir Gott beweisen könnten, wäre das also das Ende des Glaubens an Gott. Wenn die Existenz Gottes bewiesen würde, dann wäre seine Existenz ein Allgemeinwissen, das sich erarbeiten liesse. Das Mysterium wäre keines mehr.

So gesehen ist es vielleicht gut, dass es Unergründliches gibt, in dessen Schatten sich die Privatheit des Einzelnen zu Gott ganz individuell ausgestalten kann. Die Nichtbeweisbarkelt von Gott begründet die Freiheit zu sein, wer immer wir sein wollen, denn gäbe es einen Gott, dessen Existenz bewiesen würde, wäre zugleich auch das Gesetz bekannt, das uns ein bestimmtes Leben auferlegt. Das Wort Gottes erhöbe sich zum ultimativen Richtspruch über unsere Leben, wodurch unsere Freiheit zu denken und zu sein einem Diktat unterzuordnen wäre. Das kann man unter Umständen aber nur umgehen, wenn dieser Gott die Freiheit zum allgemeinen Gesetz für das Individuum macht. Die Frage stellt sich dann aber, wozu braucht es einen Gott?

Was würde sich für unsere Leben ändern, wenn die Ewigkeit in der Präsenz Gottes bewiesen wäre? Was konkret würden wir anders machen, wenn wir stichhaltige Beweise für die Existenz Gottes und eines ewigen Lebens hätten? Das hängt doch sehr stark davon ab, welche Wahrheit Gott bietet. Denn, dass Gott exisitiere, muss nicht heissen, dass alles existiere, was unsere je individuellen Gottesvorstellungen meinen. Wenn wir behaupten, es gebe einen alles und alle liebenden Gott, aber keine Verdammnis und keine Bestrafung, dann bewirkt doch wohl der Beweis dieser Vorstellung ein ganz anderes moralisches Verhalten als der Beweis der Vorstellung eines strafenden Gottes. Wenn es aber einen Gott gibt, dessen Existenz als diese und keine andere bewiesen wäre, so ergäbe sich eine Eindeutigkeit der Gottesvorstellung, durch die jede Freiheit individueller Interpretation aufgegeben werden müsste. Dann aber wozu braucht Gott Individuen, die sich von sich selbst unterscheiden? Wozu schaffte er dann Vielfalt, wenn er sie durch die Einheit seines Diktats wieder abzuschaffen gedenkte?



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Jörn Budesheim
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Sa 23. Sep 2017, 15:16

Alethos hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 10:42
Was würde sich für unsere Leben ändern, wenn die Ewigkeit in der Präsenz Gottes bewiesen wäre?
Um das zu ahnen, muss man in die Zeit zurückschauen. Dorthin, wo die Welt noch als Schöpfung verstanden wurde und der Glaube an Gott "alternativlos" war. Ob ich dahin will? Wenn wir in der Gegenwart bleiben wollen, müssen wir Gebiete aufsuchen, wo der Glaube noch was gilt... Ich schätze, beide Versuche sagen uns schnell, dass sich einiges ändern würde :-)




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Sa 23. Sep 2017, 20:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 15:16
Wenn wir in der Gegenwart bleiben wollen, müssen wir Gebiete aufsuchen, wo der Glaube noch was gilt...
Ein Benektinierkloster?




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Jörn Budesheim
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Sa 23. Sep 2017, 20:27

Glaubst du nicht, dass es Gebiete auf der Welt gibt, wo die Säkularisierung nicht so weit fortgeschritten ist wie bei uns? (Womit ich nicht sagen will, dass bei uns nicht mehr geglaubt wird.)




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Sa 23. Sep 2017, 20:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 20:27
Glaubst du nicht, dass es Gebiete auf der Welt gibt, wo die Säkularisierung nicht so weit fortgeschritten ist wie bei uns? (Womit ich nicht sagen will, dass bei uns nicht mehr gebraucht wird.)
Du scheinst "Säkularisierung" mit "Fortschritt" gleichzusetzen. Genau deshalb habe ich die Frage nach dem Benediktinerkloster gestellt.




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Jörn Budesheim
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Sa 23. Sep 2017, 20:34

Welche Indizien findest du dafür?




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Sa 23. Sep 2017, 20:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 15:16
Alethos hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 10:42
Was würde sich für unsere Leben ändern, wenn die Ewigkeit in der Präsenz Gottes bewiesen wäre?
Um das zu ahnen, muss man in die Zeit zurückschauen. Dorthin, wo die Welt noch als Schöpfung verstanden wurde und der Glaube an Gott "alternativlos" war. Ob ich dahin will? Wenn wir in der Gegenwart bleiben wollen, müssen wir Gebiete aufsuchen, wo der Glaube noch was gilt... Ich schätze, beide Versuche sagen uns schnell, dass sich einiges ändern würde :-)
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 20:27
Glaubst du nicht, dass es Gebiete auf der Welt gibt, wo die Säkularisierung nicht so weit fortgeschritten ist wie bei uns? (Womit ich nicht sagen will, dass bei uns nicht mehr gebraucht wird.)
Die Kombination dieser beiden Posts sind das Indiz. Ich kann mich natürlich irren. Ein Indiz ist kein Beweis.




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Jörn Budesheim
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Sa 23. Sep 2017, 20:47

Du meinst wenn ich beispielsweise sage, die Verrohung der Gesellschaft ist weit fortgeschritten, würde ich Verrohung für eine Art Fortschritt halten?




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Sa 23. Sep 2017, 20:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 20:47
Du meinst wenn ich beispielsweise sage, die Verrohung der Gesellschaft ist weit fortgeschritten, würde ich Verrohung für eine Art Fortschritt halten?
Nein, das nicht.
Wenn Du sagen würdest, die Verrohung der Gesellschaft sei noch nicht genug fortgeschritten, würde ich vermuten, dass Du Verrohung als Fortschritt betrachtest.




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Jörn Budesheim
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Sa 23. Sep 2017, 20:52

Was war das Thema des Threads noch mal? :)




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Sa 23. Sep 2017, 20:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 20:52
Was war das Thema des Threads noch mal? :)
Das wirft die Frage auf, wer zuerst vom Thema abgewichen ist.




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Alethos
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Sa 23. Sep 2017, 20:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 15:16
Alethos hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 10:42
Was würde sich für unsere Leben ändern, wenn die Ewigkeit in der Präsenz Gottes bewiesen wäre?
Um das zu ahnen, muss man in die Zeit zurückschauen. Dorthin, wo die Welt noch als Schöpfung verstanden wurde und der Glaube an Gott "alternativlos" war. Ob ich dahin will? Wenn wir in der Gegenwart bleiben wollen, müssen wir Gebiete aufsuchen, wo der Glaube noch was gilt... Ich schätze, beide Versuche sagen uns schnell, dass sich einiges ändern würde :-)
Das glaube ich auch. Aber wir brauchen vielleicht auch nicht in diese Zeiten zurückgehen oder in diese Gesellschaften blicken, sondern auf unsere Lebenswelten, da finden wir noch immer Nachläufer eines Gottesglauben. In der Verfassung in der Präambel z.B., aber auch in unseren ethischen Werturteilen. Auch das C in der CDU ist ein evangelischer Restposten.

Ich will sagen, ein Gottesbeweis hinterliesse wahrscheinlich einen ungeahnt starken Eindruck auf unser moralisches Verhalten. Immer vorausgesetzt, Gott sei dieser Gebote aufstellende Gott als den wir ihn in der Vergangenheit kennengelernt haben.



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Sa 23. Sep 2017, 21:06

Alethos hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 20:55

Das glaube ich auch. Aber wir brauchen vielleicht auch nicht in diese Zeiten zurückgehen oder in diese Gesellschaften blicken, sondern auf unsere Lebenswelten, da finden wir noch immer Nachläufer eines Gottesglauben. In der Verfassung in der Präambel z.B., aber auch in unseren ethischen Werturteilen.
Nicht nur in der Präambel. Das Grundgesetz unterscheidet zwischen "Recht" und "Gesetz" (Artikel 20 Absatz 3). Was für ein Recht kann das sein, das nicht durch ein Gesetz konstituiert wird?




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Tarvoc
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Do 5. Okt 2017, 02:43

Aus dem Artikel:
Solange Vergangenes erinnert wird, ist es nicht schwer, die Frage nach seiner Seinsart zu beantworten. Es hat seine Wirklichkeit eben im Erinnertwerden. Aber die Erinnerung hört irgendwann auf, und irgendwann wird es keine Menschen mehr auf der Erde geben. Schließlich wird die Erde selbst verschwinden. Da zur Vergangenheit immer eine Gegenwart gehört, deren Vergangenheit sie ist, müßten wir also sagen: mit der bewußten Gegenwart - und Gegenwart ist immer nur als bewußte - verschwindet auch die Vergangenheit, und das Futurum exactum verliert seinen Sinn. Aber genau dies können wir nicht denken.
Selbstverständlich verliert das Futurum exactum genauso wie alle grammatischen Formen mit dem Absterben der Sprache, zu der es gehört, seinen Sinn. Darüber, ob man das Nicht-Stattfinden von Sprache (d.h. auch von Denken selbst) denken kann, kann man lange streiten, und die Antwort hängt sehr davon ab, was man unter "etwas denken" und "etwas denken können" verstanden haben will.
Der Satz: "In ferner Zukunft wird es nicht mehr wahr sein, daß wir heute abend hier zusammen waren" ist Unsinn.
Eben hieß es noch, dass mit dem Ende der bewussten Gegenwart das Futurum exactum seinen Sinn verliert. Dass der versuchte Ausdruck dieses Sinnverlusts selbst nicht wie Sinn erscheint, muss womöglich gar nicht allzu sehr überraschen, aber ganz abgesehen davon werden hier Sinn und Wahrheit schlicht verwechselt. Der Satz in Anführungsstrichen müsste richtig heißen: "In ferner Zukunft wird die Aussage, dass wir heute abend hier zusammen waren, keinen Sinn mehr haben". Dass das ebenfalls Unsinn ist, wäre erstmal zu zeigen. Im Übrigen ist die Tatsache, dass wir über Wahrheit nicht in Vergangenheits- oder Zukunftsform sprechen, eine grammatische, wie Wittgenstein sagen würde. Man kann sich ohne Weiteres eine Sprache vorstellen, die von unserer darin verschieden ist, dass sie die Semantik des Wahrheitsbegriffs oder das Futurum exactum anders handhabt als wir es tun. Solche Verschiebungen hat es immer wieder gegeben. Etwa fingen im 19. und 20. Jahrhundert erstmals Philosophen (z.B. Nietzsche) damit an, von "Wahrheiten" im Plural zu sprechen. Hier wird uns wieder einmal verkauft, dass etwas, das sich in unserer gegenwärtigen Sprache kontingent nicht anders ausdrücken lässt, sich auch in anderen Sprachen notwendigerweise gar nicht anders denken ließe. Das wäre erstmal zu zeigen. Wenn es stimmen sollte (was m.E. auch noch nicht zweifelsfrei feststeht), dass die Semantik des Wahrheitsbegriffs in der deutschen Gegenwartssprache die Idee eines absoluten Bewusstseins erzeugt, dann beweist das noch lange nicht, dass dieser Idee in der Realität irgendwas entsprechen müsste. Es könnte ja durchaus sein, dass die Semantik und Grammatik des Deutschen schlichtweg nicht vollständig an die Realität feinangepasst ist. Das ist sogar überaus wahrscheinlich, wenn man mal darüber nachdenkt.



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Sa 14. Okt 2017, 17:19

Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 02:43

Selbstverständlich verliert das Futurum exactum genauso wie alle grammatischen Formen mit dem Absterben der Sprache, zu der es gehört, seinen Sinn.
Der Satz: "In ferner Zukunft wird es nicht mehr wahr sein, daß wir heute abend hier zusammen waren" ist Unsinn.
Eben hieß es noch, dass mit dem Ende der bewussten Gegenwart das Futurum exactum seinen Sinn verliert. Dass der versuchte Ausdruck dieses Sinnverlusts selbst nicht wie Sinn erscheint, muss womöglich gar nicht allzu sehr überraschen, aber ganz abgesehen davon werden hier Sinn und Wahrheit schlicht verwechselt. Der Satz in Anführungsstrichen müsste richtig heißen: "In ferner Zukunft wird die Aussage, dass wir heute abend hier zusammen waren, keinen Sinn mehr haben".
Ich habe den Eindruck, Du hast die Pointe von Spaemanns Argument nichts verstanden.

Da es auch in ferner Zukunft noch wahr sein wird, dass wir heute Abend hier zusammen waren, eben weil wir heute Abend tatsächlich zusammen waren, muss es notwendig ein alle Zeiten überdauerndes Bewusstsein, das Bewusstein Gottes, geben. Gott ist eine notwendige Voraussetzung für ewige Wahrheit.




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Jörn Budesheim
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Sa 14. Okt 2017, 18:27

Spaemann hat geschrieben : Ich möchte das was ich meine, daß nämlich Wahrheit Gott voraussetzt, an einem letzten Beispiel verdeutlichen, an einem Gottesbeweis, der sozusagen nietzscheresistent ist, einem Gottesbeweis aus der Grammatik, genauer aus dem sogenannten Futurum exactum. Das Futurum exactum, das zweite Futur, ist für uns denknotwendig mit dem Präsens verbunden. Von etwas sagen, es sei jetzt, ist gleichbedeutend damit zu sagen, es sei in Zukunft gewesen. In diesem Sinne ist jede Wahrheit ewig. Daß am Abend des 6. Dezember 2004 zahlreiche Menschen in der Hochschule für Philosophie in München zu einem Vortrag über Rationalität und Gottesglaube versammelt waren, das nicht nur an jenem Abend wahr, das ist immer wahr. Wenn wir heute hier sind, werden wir morgen hier gewesen sein. Das Gegenwärtige bleibt als Vergangenheit des künftig Gegenwärtigen immer wirklich. Aber von welcher Art ist diese Wirklichkeit? Man könnte sagen: in den Spuren, die sie durch ihre kausale Einwirkung hinterläßt. Aber diese Spuren werden schwächer und schwächer. Und Spuren sind sie nur, solange das, was sie hinterlassen hat, als es selbst erinnert wird.

Solange Vergangenes erinnert wird, ist es nicht schwer, die Frage nach seiner Seinsart zu beantworten. Es hat seine Wirklichkeit eben im Erinnertwerden. Aber die Erinnerung hört irgendwann auf, und irgendwann wird es keine Menschen mehr auf der Erde geben. Schließlich wird die Erde selbst verschwinden. Da zur Vergangenheit immer eine Gegenwart gehört, deren Vergangenheit sie ist, müßten wir also sagen: mit der bewußten Gegenwart - und Gegenwart ist immer nur als bewußte - verschwindet auch die Vergangenheit, und das Futurum exactum verliert seinen Sinn. Aber genau dies können wir nicht denken. Der Satz: "In ferner Zukunft wird es nicht mehr wahr sein, daß wir heute abend hier zusammen waren" ist Unsinn. Er läßt sich nicht denken. Wenn wir einmal nicht mehr hier gewesen sein werden, dann sind wir tatsächlich auch jetzt nicht wirklich hier, wie es der Buddhismus denn auch konsequenterweise behauptet. Wenn gegenwärtige Wirklichkeit einmal nicht mehr gewesen sein wird, dann ist sie gar nicht wirklich. Wer das Futurum exactum beseitigt, beseitigt das Präsens.

Aber noch einmal: Von welcher Art ist diese Wirklichkeit des Vergangenen, das ewige Wahrsein jeder Wahrheit? Die einzige Antwort kann lauten: Wir müssen ein Bewußtsein denken, in dem alles, was geschieht, aufgehoben ist, ein absolutes Bewußtsein.
"Daß am Abend des 6. Dezember 2004 zahlreiche Menschen in der Hochschule für Philosophie in München zu einem Vortrag über Rationalität und Gottesglaube versammelt waren, das nicht nur an jenem Abend wahr, das ist immer wahr." Das meine ich zwar auch, aber ob mit "immer" hier nicht eher "zeitlos" statt "in alle Ewigkeit" gemeint ist, wäre noch eine Untersuchung wert. Mein Einwand ist simpler: Ich teile nicht Spaemanns Ansicht, dass "Wahrheit" eines Bewusstseins bedarf. Die Tatsache besteht einfach, ob sie irgendwas oder irgendwer zur Kenntnis nimmt, ist irrelevant dafür.




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Tarvoc
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Sa 14. Okt 2017, 20:07

Segler hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 17:19
Ich habe den Eindruck, Du hast die Pointe von Spaemanns Argument nichts verstanden. Da es auch in ferner Zukunft noch wahr sein wird, dass wir heute Abend hier zusammen waren, eben weil wir heute Abend tatsächlich zusammen waren, muss es notwendig ein alle Zeiten überdauerndes Bewusstsein, das Bewusstein Gottes, geben. Gott ist eine notwendige Voraussetzung für ewige Wahrheit.
Und ich glaube, du hast die Pointe meines Einwands nicht verstanden. Das wäre jedenfalls eine Erklärung dafür, warum du meine ganzen Erläuterungen in deinem Zitat mal eben außen vorlässt und nur die ersten drei Sätze meines Einwands zitierst (auf die du übrigens noch nicht mal tatsächlich inhaltlich eingehst!). In diesen Erläuterungen ist nämlich die Pointe meines Arguments zu finden. Ich zitier's nochmal im Ganzen:
Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 02:43
Eben hieß es noch, dass mit dem Ende der bewussten Gegenwart das Futurum exactum seinen Sinn verliert. Dass der versuchte Ausdruck dieses Sinnverlusts selbst nicht wie Sinn erscheint, muss womöglich gar nicht allzu sehr überraschen, aber ganz abgesehen davon werden hier Sinn und Wahrheit schlicht verwechselt. Der Satz in Anführungsstrichen müsste richtig heißen: "In ferner Zukunft wird die Aussage, dass wir heute abend hier zusammen waren, keinen Sinn mehr haben". Dass das ebenfalls Unsinn ist, wäre erstmal zu zeigen. Im Übrigen ist die Tatsache, dass wir über Wahrheit nicht in Vergangenheits- oder Zukunftsform sprechen, eine grammatische, wie Wittgenstein sagen würde. Man kann sich ohne Weiteres eine Sprache vorstellen, die von unserer darin verschieden ist, dass sie die Semantik des Wahrheitsbegriffs oder das Futurum exactum anders handhabt als wir es tun. Solche Verschiebungen hat es immer wieder gegeben. Etwa fingen im 19. und 20. Jahrhundert erstmals Philosophen (z.B. Nietzsche) damit an, von "Wahrheiten" im Plural zu sprechen. Hier wird uns wieder einmal verkauft, dass etwas, das sich in unserer gegenwärtigen Sprache kontingent nicht anders ausdrücken lässt, sich auch in anderen Sprachen notwendigerweise gar nicht anders denken ließe. Das wäre erstmal zu zeigen. Wenn es stimmen sollte (was m.E. auch noch nicht zweifelsfrei feststeht), dass die Semantik des Wahrheitsbegriffs in der deutschen Gegenwartssprache die Idee eines absoluten Bewusstseins erzeugt, dann beweist das noch lange nicht, dass dieser Idee in der Realität irgendwas entsprechen müsste. Es könnte ja durchaus sein, dass die Semantik und Grammatik des Deutschen schlichtweg nicht vollständig an die Realität feinangepasst ist. Das ist sogar überaus wahrscheinlich, wenn man mal darüber nachdenkt.
Nietzsche hat ja mal geschrieben, wir werden womöglich Gott nicht los, solange wir noch an die Grammatik glauben. Dass "es auch in ferner Zukunft noch wahr sein wird, dass wir heute abend hier zusammen waren" ergibt sich aus der Semantik des Wahrheitsbegriffs im Deutschen, und die ist zunächst kontingent. Dass es eine Notwendigkeit gibt, so über Wahrheit zu sprechen, wäre erst noch zu beweisen.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 18:27
Mein Einwand ist simpler: Ich teile nicht Spaemanns Ansicht, dass "Wahrheit" eines Bewusstseins bedarf. Die Tatsache besteht einfach, ob sie irgendwas oder irgendwer zur Kenntnis nimmt, ist irrelevant dafür.
Das kommt noch hinzu. Berkeleys sogenanntes "Meisterargument" muss man nicht mitmachen. Siehe z.B.: Andreas Kemmerling: A Pleasant Mistake Enough. Überhaupt kann man darauf hinweisen, dass es auch im Deutschen mehr als merkwürdig ist, sich so auszudrücken: "Zum Zeitpunkt x ist etwas wahr". Du weist ja auch auf den Unterschied zwischen Zeitlosigkeit und unendlicher Zeitdauer hin. (Wittgenstein)



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So 15. Okt 2017, 20:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 18:27

"Daß am Abend des 6. Dezember 2004 zahlreiche Menschen in der Hochschule für Philosophie in München zu einem Vortrag über Rationalität und Gottesglaube versammelt waren, das nicht nur an jenem Abend wahr, das ist immer wahr." Das meine ich zwar auch, aber ob mit "immer" hier nicht eher "zeitlos" statt "in alle Ewigkeit" gemeint ist, wäre noch eine Untersuchung wert. Mein Einwand ist simpler: Ich teile nicht Spaemanns Ansicht, dass "Wahrheit" eines Bewusstseins bedarf. Die Tatsache besteht einfach, ob sie irgendwas oder irgendwer zur Kenntnis nimmt, ist irrelevant dafür.
Wie muss ich mir eine zeitlose aber nicht ewige Wahrheit vorstellen?

Spaemann spricht ausdrücklich von ewiger Wahrheit.

Kann man "Tatsache" und "Wahrheit" wirklich gleichsetzen? Dann muss man die Korrespondenztheorie der Wahrheit aufgeben. Die setzt notwendig ein Bewusstsein voraus.

Spaemanns Argument beruht auf ontologischen und epistemischen Grundannahmen. Eine davon ist die Korrespondenztheorie der Wahrheit.




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