Weiterkommen in der Philosophie

Hier geht es um die Philosophie selbst, denn sie kann sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens machen - zum Beispiel: Was ist Philosophie? Was sind die Themen der Philosophie? Wie grenzt sie sich von anderen Disziplinen ab? ...
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Jörn Budesheim
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So 13. Sep 2020, 08:05

Jovis hat geschrieben :
Sa 12. Sep 2020, 21:31
Und dass es jemandem bei der Philosophie ums "Weiterkommen" geht, würde mich auch wundern.
Mir geht es in der Philosophie ums weiterkommen.

Wenn ich mich z.b. frage "Was sind Gefühle?" dann möchte ich bei dieser Frage weiter kommen, das heißt mein Verständnis des Phänomens Gefühle vertiefen. Mein Ziel ist, besser zu wissen, was Gefühle sind, als zuvor. Es geht dann darum, herauszufinden, was Gefühle wirklich sind.

Es gibt wahrscheinlich eine Reihe von Gegenbegriffen zum "Weiterkommen". Hier sind zwei davon: Stillstand und Rückschritt. Beides kann sicherlich nicht das Ziel der Philosophie sagen, oder?

Ein anderes Bild ist das "Umkreisen". Allerdings ist das nicht zwingend ein Gegenbild. Umkreisen kann heißen, dass man eine Problemstellung aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachtet. Das ist allerdings bereits ein Weiterkommen nach meinem Verständnis, denn es kann zu einem vertieften Verständnis führen.

Es ist zu lange her, als dass ich mich daran präzise erinnern könnte: Richard Rorty war in Bezug auf Wahrheit und Argumentation skeptisch. Argumente, so meine Erinnerungen, waren für ihn kulturrelativ. Stattdessen hat er (in meinen einfachen Worten gesagt) vorgeschlagen, dass die Philosophen versuchen sollten, einfach ein interessantes Gespräch zu führen. Weiterkommen, im Sinne "sich der Wahrheit annähern", ist dann nicht mehr das Ziel des Philosophierens.




Burkart
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So 13. Sep 2020, 08:53

Richtig, man will weiterkommen, ob nun in der Philosophie oder auch sonst, wo man es für wichtig erachtet.

Für mich ist Weiterkommen u.a. das Auflösen von Widersprüchen verschiedener Aspekte, gerne klassisch entsprechend der Hegelschen Dialektik (These + Antithese -> Synthese), wobei ich das für mich pragmatisch anwenden mag:
- Willensfreiheit mag den "freien Willen" und "Determiniertheit" als These und Antithese haben; für mich ist die Synthese "ein Begriffs- bzw. subjektives Problem", insofern man freien Willen makroskopisch fühlen, während er mikroskopisch nicht real sein mag - also letztlich beides irgendwie (gefühlt) richtig ist bzw. sein kann.
- KI als Ziel mag auf dem Widerspruch "Mensch nicht nachbaubar" und "technisch müsste prinzipiell alles mehr oder weniger gehen" basieren. Synthese ist dann den Menschen als Vorbild zu haben und das, was geht, nachzubauen, erstmal das direkt machbare, später mag dann mehr gehen, wobei man das ferne Ziele durch Diskussionen nicht aus den Augen verliert.

Ich würde die Philosophie als nicht zu abgeschlossen ansehen von wegen nur "Weiterkommen in der Philosophie", sondern auch schon andere Aspekte des Lebens einbeziehen, alleine, damit die Philosophie nicht wie in einem Elfenbeinturm vorkommt (und sich z.B. streitet, nur weil verschiedene Perspektiven angenommen werden). So bin ich z.B. von anderen Dingen (wie KI) zur Philosophie gekommen, andererseits lässt sich (ggf. mit etwas Wohlwollen) auch Philosophie praktisch nutzen.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Friederike
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So 13. Sep 2020, 14:20

Burkart hat geschrieben :
So 13. Sep 2020, 08:53
[...] andererseits lässt sich (ggf. mit etwas Wohlwollen) auch Philosophie praktisch nutzen.
Wie meinst Du das denn? Worauf bezieht sich das Wohlwollen? Wenn man "praktisch" nur weit genug ausgelegt oder wenn man der Philosophie gegenüber ein wenig Nachsicht übt?




Burkart
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So 13. Sep 2020, 15:58

Friederike hat geschrieben :
So 13. Sep 2020, 14:20
Burkart hat geschrieben :
So 13. Sep 2020, 08:53
[...] andererseits lässt sich (ggf. mit etwas Wohlwollen) auch Philosophie praktisch nutzen.
Wie meinst Du das denn? Worauf bezieht sich das Wohlwollen? Wenn man "praktisch" nur weit genug ausgelegt oder wenn man der Philosophie gegenüber ein wenig Nachsicht übt?
Na ja, ich kenne Leute, die lehnen Philosophie (also schon das Wort und damit das direkte Denken darüber) direkt ab und vergeben damit jede Chance, aus ihr Erkenntnisse nutzen zu können.
Praktisch auslegen muss man die philosophischen Ideen natürlich ggf. auch; Nachsicht sehe ich weniger als ein Problem an, weil Philosophie halt "nur" Theorie ist.



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Jovis
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So 13. Sep 2020, 20:42

Ich hatte nicht gewusst, dass die Kritik am Weiterkommen, auf die sich mein Eingangszitat bezieht, auf eine konkrete Animosität aus einem anderen thread anspielte. Sonst hätte ich das vielleicht anders formuliert.

Davon unabhängig gefällt mir die Metapher des Weiterkommens tatsächlich nicht besonders, weil ich damit zu sehr Fortschritt assoziiere, ein Konzept, das mir zunehmend suspekt wird. Wenn schon räumlich, dann würde ich die Tiefe oder meinetwegen auch die Breite bevorzugen. Interessanterweise setzt du gleich zweimal das Weiterkommen mit In-die-Tiefe-gehen gleich, Jörn.

Natürlich möchte ich auch, dass meine Sicht eines Themas vor dem Nachdenken eine andere ist als nach dem Nachdenken, und dass sie sich mit weiterem Nachdenken weiter verändert und entwickelt. Aber das tut sie vielleicht auch so, dass ich jetzt klarer sehe. Es ist ja vermutlich kein Zufall, dass es im philosophischen Bereich Aufklärung heißt, während im darauffolgenden Jahrhundert dann der wirtschaftliche, politische und naturwissenschaftliche Fortschritt einsetzte.

Entwicklung wäre auch ein gutes Bild, merke ich gerade. Im Sinne von Ent-Wickeln, zum Kern einer Sache gelangen. (In der Hoffnung, dass da auch tatsächlich etwas ist, wenn man alle Schichten abgewickelt hat. 😊)

Zu den „Gegenbegriffen“ Stillstand und Rückschritt: Beide halte ich im Prozess des Philosophierens für unbedingt notwendig. Wenn man in der räumlichen Metapher des Weiterkommens bleiben will, so muss man ja trotzdem ab und zu mal innehalten, sich sammeln, auch mal einen Schritt zurücktreten und gucken, wie weit man eigentlich gekommen ist und ob man überhaupt noch beim Thema ist. Das heißt, ich sehe Stillstand und Rückschritt nicht als „absolute“, als eigenständige Vorgehensweisen (mir fällt gerade keine bessere Formulierung ein, ich hoffe, man versteht, was ich sagen will), wie es von dir gemeint war, sondern ich binde sie ein in den Prozess des Philosophierens.




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Jörn Budesheim
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Jovis hat geschrieben :
So 13. Sep 2020, 20:42
Davon unabhängig gefällt mir die Metapher des Weiterkommens tatsächlich nicht besonders, weil ich damit zu sehr Fortschritt assoziiere, ein Konzept, das mir zunehmend suspekt wird.
Mit dem Begriff Fortschritt assoziiere ich etwas Positives.

Ein paar Beispiele nicht nur aus der Philosophie.

Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Oma war noch ganz in bestimmte Rollenmodelle verschnürt. Wenn ich das Leben meiner Töchter betrachte, dann gibt es hier einen sehr großen Fortschritt zu verzeichnen. Sicher: da muss noch mehr passieren. Aber das heißt nur, dass wir noch mehr Fortschritt brauchen.

Ein anderes Beispiel: heute können homosexuelle Paare heiraten und müssen sich nicht mehr verstecken oder gar vor Strafe fürchten. "Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches existierte vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe." Die Gleichstellung ist ein großer Fortschritt.

In der Philosophie finde ich zum Beispiel vieles, was in der Philosophie der Gefühle erforscht wurde, einen großen Fortschritt für unser Selbstverständnis. Fortschritt meint hier, dass wir dank dieser Forschungen zu einem vertieften Verständnis der Gefühle (insbesondere der Emotionen) gekommen sind.

Es müsste natürlich noch viel mehr Fortschritte geben.

Manche scheinen mir geradezu lebensnotwendig zu sein: Fortschritte beim nachhaltigen Wirtschaften, sodass wir die Grundlagen des Lebens auf diesem Planeten erhalten. Fortschritte bei der gerechten Verteilung der Ressourcen auf diesem Planeten. Zu viele Nationen haben undemokratische Regime, wir brauchen Fortschritte in Richtung Freiheit.

usw.

Der ganze Rechtsschwenk ist meines Erachtens zu großen Teilen daraus zu erklären, dass wir in vielen Bereichen solche Fortschritte haben mit denen rückwärtsgewandte Menschen nichts anfangen können - im Gegenteil: sie haben vielleicht sogar Angst davor.




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Jörn Budesheim
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Auch der Begriff "weiterkommen" ist für mich positiv. Sich zu entwickeln, den eigenen Horizont zu erweitern, das ist etwas Positives. Wie sollte man daran zweifeln?




Nauplios
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Jovis hat geschrieben :
So 13. Sep 2020, 20:42

Entwicklung wäre auch ein gutes Bild, merke ich gerade. Im Sinne von Ent-Wickeln, zum Kern einer Sache gelangen.
Dem Ent-Wickeln kann man noch das Ent-Falten zur Seite stellen. Einen Gedanken entfalten. Einem Gedankengang nachgehen. Sich in diesem Gang anwehen lassen. Etwas erspüren, vernehmen, etwas auf der Spur sein. Etwas erstehen lassen (spätestens jetzt spielt ein kreatives Momentum rein). -

Spiel - es spielt dich etwas an, spielt dir etwas zu. Ganz leise hörst du es. Erst ist es ein Murmeln. Dann hörst du es deutlicher. Es sind Stimmen. Sie sprechen in einer fremden Sprache. Das helle, perlende Lachen einer Frau. Es ist eine Abendgesellschaft. Du befindest dich in einem Salon. Festliche Beleuchtung. Klaviermusik aus dem Nebenzimmer. Herren im zweireihig geknöpften Frack und Weste, Frauen in weit ausgeschnittenen Kleidern, aufwendig verziert mit Stickereien und Spitzenschmuck und geschnürten Miedern, dazu vereinzelt kleine Hütchen. In einer Ecke an einem kleinen Teetischchen siehst du sie. Im Kreise der dunkel gekleideten Männer wirkt sie mit ihrem hellblauen Fächer wie eine Blume in einem Gefäß. Im Ausschnitt ihres Kleides steckt die Blüte einer Orchidee mit ihren ovalen Kelchblättern der Cattleya. Odette. Du befindest dich in Swanns Welt. - Es ist die versunkene Welt einer Epoche, die am Ende des 19. Jahrhunderts in die Phase ihrer Auflösung übergeht. Mit dem Erzähler schreitest du, für die Akteure unsichtbar, durch die Pariser Salons des Hochadels und des Großbürgertums, flanierst über die großen Boulevards, spazierst entlang der Vivonne, atmest den Duft der Weißdornhecken, hörst das Rauschen des Meeres am Strand von Balbec. - Eine Welt entsteht. Deine Phantasie, deine Imaginationen sind Schöpfer dieser Welt. -

Wieviele solcher Welten mag es geben? - Unendlich viele. Du bist unsichtbar in diesen Welten. Doch unsichtbar sind auch die Bewohner dieser Zaubergärten in deiner Welt. Nichts ist vergangen. Alles ist noch da. Nur versunken. Da ist die Musik. Debussy, Faure, Mahler ... Da ist die Literatur. Proust, Flaubert, Nerval ... Da sind die anderen Künste ... Die Photographie ... Nadars Studio am Boulevard des Capucines 35 ... Hier entstanden die Portraits von Jeanne Pouquet und Marie de Benardaky, deren Charaktere in die Figur der Gilberte eingingen. -

Wenn Du wissen willst, was Emotionen sind, Jovis: in Swanns Welt wirst Du es erfahren. All diese Welten drängen sich nicht auf. Mit dem leisen Murmeln fängt es an. Das kann auch das Murmeln eines kleinen Quells sein, mitten im Wald. Hörst du die Flöte des Pan? Ovid zeigt dir diese Welt der Nymphen und Faune. -

Auch Platon erzählt von solchen Mythen. Und die Philosophie steht bis heute in einem fast geheimnisvollen Bezug zu diesen Geschichten. Schon mit dem Blick zu den Wolken, den Blick zum Himmel, zum nächtlichen Sternenhimmel entsteht eine Schwingung, die den Betrachter erfaßt. Wer je in diesen Sternenhimmel geschaut hat, wird "angefaßt", wird "berührt" von den großen Fragen, die im menschlichen Dasein beschlossen sind. Fragen, die uns kein Fortschritt je beantwortet hat und die gleichwohl unser Mensch-Sein ausmachen. - Das Philosophieren beginnt ja nicht mit dem Lesen gelehrter Bücher. Die gehören natürlich auch zur Philosophie und man kann sich damit beizeiten abmühen. Das Philosophieren beginnt schon mit dem Blick zu den Sternen, mit dem Blick zu den Wolken, mit dem Blick auf's Meer hinaus. Innehalten. Nachdenklichkeit.

Wenn man ansprechbar wird, werden die Dinge einen ansprechen. Man findet etwas "ansprechend" (wieder ein Zuspiel aus der Ästhetik), schön. Dazu bedarf es keiner end- und letztgültigen Definition der Schönheit. Dazu bedarf es der Kunst des Sehens. Und der Kunst des Hörens. Dies sind keine Künste, die man mit äußerster Zucht und Disziplin erlernen muß. Vielleicht braucht es etwas Einübung; das mag sein. - Im Laufe der Zeit wird sich dann ganz von selbst Neugierde ent-wickeln und man will den Dingen etwas mehr auf den Grund gehen. Vielleicht wird man feststellen, daß ein platonischer Dialog in seiner Originalsprache ganz anders "klingt" als in einer deutschen Übersetzung. Vielleicht verliert man die Scheu vor einem achthundertseitigen gelehrten Buch. - Wollen wir das dann einen individuellen Fortschritt nennen? - Ja, wir können das so nennen.

Hüten sollte man sich allerdings vor der Vorstellung, alle bisherige Geistesgeschichte sei eine Fortschrittsgeschichte von einem Zustand des Dunklen zu einem des Hellen, von Unwissenheit zu Wissen, von Unverständnis zu Verständnis, vom Mythos zum Logos, von der Metapher zum Begriff ... Das Eintauchen in die versunkenen Welten zeigt uns, daß das nicht so ist. Die Geistesgeschichte - Künste und Literatur inbegriffen - ist keine Geschichte linearen Fortschritts von naivem Denken zu "entwickeltem", "höheren" Denken. - Das gilt für die Kunst ebenso wie für die Literatur wie für die Philosophie. Der Gedanke des Fortschritts würde hier mit einer Abwertung Kants gegenüber Husserl, Goethes gegenüber Thomas Mann, Botticellis gegenüber Gerhard Richter, Bachs gegenüber Mozart ... einhergehen. - Der Fortschritt in den Wissenschaften, in der Medizin ... ist davon ganz unberührt. Die Legitimität der Neuzeit ist ein einziges Plädoyer für die theoretische Neugierde und die Selbstbehauptung des Menschen durch Wissenschaft und Technik und deren Fortschritte. - Und der moralische Fortschritt? - Wer sich in Auschwitz-Birkenau die Gaskammern und Verbrennungsöfen anschaut, die industriell organisierte Ermordung von Menschen, dem wird das finstere Mittelalter sogleich etwas aufgehellter erscheinen. Das vermeintlich "finstere Mittelalter" ist nämlich ein solcher Topos, geprägt von der Hybris der später Geborenen. Nichts an diesem Mittelalter ist "finsterer" als die Opfer der ideologischen Kämpfe, der Kriege und Völkermorde, die das moderne 20. Jahrhundert forderte. Man sollte sehr zurückhaltend damit sein, Epochen als "finster" oder als "dunkel" zu bezeichnen. Man hat dann sehr schnell ein teleologisches Moment ausgelöst, was alles Bisherige nur als eine "dunkle Zeit" erscheinen läßt, die auf den Moment eines Jetztpunktes zuläuft, der sich als Wendepunkt in der Geschichte inszenieren läßt. -

Niemand ist gegen Fortschritte in den Wissenschaften. Niemand ist gegen die Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus. Und ich würde mir wünschen, daß die Bundesregierung sich noch in dieser Woche dazu durchringen könnte, alle 13.000 Flüchtlinge von Lesbos nach Deutschland zu evakuieren. - Aber ein "moralischer Fortschritt der Menschheit" ist das Fanal eines Kulturkampfs.

Wollte man nun anerkennen, daß die hier nun kurz umrissene Auffassung einer sich nicht dem Fortschritt in die Arme werfenden Philosophie ein kleines Existenzrecht hätte und deren zarte Pflänzchen man durch Ordnungsrufe nicht schon in der Phase ihrer Aussaat vertrocknen ließe, könnte man sich dazu entschließen, einer solch rückwärtsgewandten Philosophie ein kleines Beet zur Verfügung zu stellen, auf dem sie unbehelligt von den Imperativen eines Aufsicht führenden Realismus, der darüber wacht, daß auch alles für den Fortschritt Relevanz hat, ihren Vergügungen nachgehen würde, dann wäre das fürwahr ein - Fortschritt.




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Jörn Budesheim
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Di 15. Sep 2020, 05:42

Man sollte zwei Dinge nicht miteinander vermischen: den Fortschritt und wie man ihn erreicht.

Der Knabe und die Straßenbahn
(Ernst Jandl)

Immer fährt so ein kleiner
rothaariger Knabe
auf dem Trittroller neben
der Straßenbahn her.
Plötzlich dreht er und fährt
in die andere Richtung
und weiß auf einmal
genau, was er tun muß,
um die Straßenbahn zu überholen,
auch wenn er bloß ein kleiner
rothaariger Knabe
auf dem Trittroller ist.




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Jovis
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Di 15. Sep 2020, 19:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 05:42
Man sollte zwei Dinge nicht miteinander vermischen: den Fortschritt und wie man ihn erreicht.
Warum nicht?




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Jovis
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Di 15. Sep 2020, 19:50

Nauplios hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 03:23
Dem Ent-Wickeln kann man noch das Ent-Falten zur Seite stellen. Einen Gedanken entfalten. Einem Gedankengang nachgehen. [...]
Das ist ein sehr schöner Text, Nauplios, wenn ich das so schlicht sagen darf. Nicht alles daran gefällt mir oder teile ich, aber das muss ich auch nicht, um ihn trotzdem schön zu finden, einfach so als Beispiel für das Entfalten eines Gedankenganges.

Das wollte ich erst mal so pauschal sagen, bevor ich auf einiges eingehe.




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Jovis
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Di 15. Sep 2020, 22:04

Nauplios hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 03:23
Dem Ent-Wickeln kann man noch das Ent-Falten zur Seite stellen.
Das wären dann gegenläufige Bewegungen, einmal nach innen, einmal nach außen. Diese pulsierende Bewegung gefällt mir sehr gut, sie hat etwas Dynamisches, Lebendiges. Das Weiterkommen habe ich dagegen zunächst einmal als etwas „lineares“ empfunden, wie du es nennst. Ich habe es mit einer etwas platten Zielstrebigkeit und Begrenztheit, auch mit Gehetztsein assoziiert. Nun sind allerdings ja schon jede Menge Beispiele genannt worden, die mir zeigen, dass dieses Weiterkommen nicht so einseitig verstanden werden muss, wie ich es zunächst empfunden habe. Und in diesem weiteren Sinne möchte ich bei manchen philosophischen Fragen natürlich auch „weiterkommen“, also durch mein Nachdenken zu einem besseren Verständnis kommen. Ob man das dann weiter oder tiefer oder klarer nennen will, ist an dieser Stelle vielleicht gar nicht so entscheidend.
Nauplios hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 03:23
Hüten sollte man sich allerdings vor der Vorstellung, alle bisherige Geistesgeschichte sei eine Fortschrittsgeschichte von einem Zustand des Dunklen zu einem des Hellen, von Unwissenheit zu Wissen, von Unverständnis zu Verständnis, vom Mythos zum Logos, von der Metapher zum Begriff ... […] Der Gedanke des Fortschritts würde hier mit einer Abwertung Kants gegenüber Husserl, Goethes gegenüber Thomas Mann, Botticellis gegenüber Gerhard Richter, Bachs gegenüber Mozart ... einhergehen.
So habe ich das noch nie gesehen! Bezogen auf die Philosophie fällt mir dazu ein, dass man ja nicht umsonst sich auch heute noch mit Gewinn mit fast allen Philosophen der Vergangenheit befassen kann, während z.B. die Naturwissenschaftler des 16. oder 17. Jahrhunderts außer durch ihre natürlich unverzichtbare Pionierarbeit kaum noch von Interesse sind.

Heißt das aber, dass es in der Philosophie überhaupt keinen Fortschritt gibt? Das kommt mir nun auch wieder falsch vor. Unterschiedliche Zeiten stellen unterschiedliche Themen in den Mittelpunkt, dadurch wird ihr Feld erweitert, was man ja auch einen Fortschritt nennen kann. Und Veränderungen in der Welt führen zu völlig neuen Fragestellungen, an die man vorher noch gar nicht denken konnte, was ja auch eine Horizonterweiterung ist. Man denke nur an die Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften – welch einen Schub hat das für das Verständnis des Geistes gebracht, und sei es nur in der Abgrenzung, was Geist auf jeden Fall nicht ist!
Nauplios hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 03:23
Wer je in diesen Sternenhimmel geschaut hat, wird "angefaßt", wird "berührt" von den großen Fragen, die im menschlichen Dasein beschlossen sind. Fragen, die uns kein Fortschritt je beantwortet hat und die gleichwohl unser Mensch-Sein ausmachen. - Das Philosophieren beginnt ja nicht mit dem Lesen gelehrter Bücher. Die gehören natürlich auch zur Philosophie und man kann sich damit beizeiten abmühen. Das Philosophieren beginnt schon mit dem Blick zu den Sternen, mit dem Blick zu den Wolken, mit dem Blick auf's Meer hinaus. Innehalten. Nachdenklichkeit.
Ja, damit kann es beginnen. Aber da bleibt es nicht stehen. Philosophie ist nach meinem Verständnis kein träumerischer Blick aufs Meer, sondern der Versuch, Antworten auf diese großen Fragen zu formulieren. In jeder Generation wieder neu. Ich finde, dass es imponierend viele Antwortversuche gibt. (Sonst hätte Blumenberg keinen Stoff für seine Bücher gehabt. :) )
Nauplios hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 03:23
Wenn Du wissen willst, was Emotionen sind, Jovis: in Swanns Welt wirst Du es erfahren. All diese Welten drängen sich nicht auf. Mit dem leisen Murmeln fängt es an.
Nee, Nauplios, tut mir leid, aber Proust und ich, wir werden in diesem Leben keine Freunde mehr! :)




Nauplios
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Mi 16. Sep 2020, 00:14

Danke für die netten Worte, Jovis. Ich beginne mal in umgekehrter Reihenfolge der einzelnen Punkte mit meiner Antwort.

Marcel Proust - Das ist ein Autor, der mich seit Jahrzehnten beschäftigt, nicht durchgehend, aber etappenweise. Durchgehend hingegen ist die Reserviertheit, mit der manch andere auf Proust reagieren, im Netz und auch außerhalb. Diese Reserviertheit reicht von Skepsis über Langeweile bis hin zur Ablehnung. Eigentlich kenne ich gerade niemanden, der an Proust Gefallen findet. ;) Sätze, in denen Verschachtelungen in Verschachtelungen verschachtelt werden, nicht selten über drei und vier Instanzen, minutiöse Schilderungen eines Kleidungsstücks, eines Mobiliars, einer Geste, eines Dufts, eines Charakters, einer Leidenschaft, die Empfindsamkeit des Erzählers und des Autors ("Was ist für Sie das größte Unglück?" - "Von Maman getrennt zu sein.") ... und natürlich daß es 4500 Seiten braucht, um zu erzählen, was sich als reine Ereigniskette (wer küßt wen? wer träumt wovon? wer war mit wem im Theater? wer liebt wen? wer betrügt wen mit wem? wer stirbt wann und woran? und wer hat wen zu seiner Soiree eingeladen?) auf 45 Seiten fassen ließe - all das führt in die Langsamkeit umständlichen Erzählens, umwegigen Erzählens, die den Leser mit zwei Fragen alleine läßt: wie geht es weiter? und wann geht es weiter? -

"Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen." Lange Zeit habe ich nicht verstanden, daß dies kein Auftakt zu einem erzählenden Bericht ist - wenigstens nicht nur - , sondern das Intro zu einem Essay. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist eine Verschachtelung von Essays. Immer wieder wird das eigentliche Geschehen mit solchen essayistischen Passagen durchsetzt. Das Ganze ist ein Gewebe, ein Text im Sinne einer textur. Zentrale Themen darin sind die Zeit und die Erinnerung. Denn die gebärende Kraft des Romans ist die Erinnerung. Die Wirklichkeit ist ja nie das reine Datum eines Hier und Jetzt. Die Erinnerung läuft immer mit. So wie wir einen Film nur verstehen, wenn wir nach 60 Minuten noch wissen, was sich vor 60 Minuten ereignet hat - ansonsten hätten wir ein Sammelsurium unzusammenhängender Eindrücken - so baut sich im Roman von Proust ein Hochgebirge erinnerter Vergangenheit auf, ohne die die Gegenwart der Romansituation nicht zu verstehen ist. Daß die Zeit "verloren" ist und nur als "verlorene" wiedergefunden werden kann, verleiht dem Roman diesen eigentümlich melancholischen Grundakkord. Im Grunde ist die Recherche ein Stück angewandte "Kunst der Resignation" (Blumenberg).

Bei Literatur läßt sich, sofern es um das Gefallen geht, immer das Geschmacksurteil anführen. Das Geschmacksurteil ist gleichsam der Notausgang aus theoretischen Begründungslagen. Mit Geschmacksurteilen läßt sich deshalb recht gut leben, weil dem Gegenstand eines solchen Urteils etwas von seiner Gravität, seiner Bedeutungsschwere genommen wird. Man schließt dann sozusagen eine Art Vergleich. Dem einen gefällt´s, der anderen nicht. - Das hat eine gewisse Eleganz. Letztlich geht´s ja "nur" um Literatur. Die Literaturwissenschaft (insbesondere Roland Barthes) hat Proust für mich "geöffnet" und mir auch gewisse Zweifel an dem "nur" entstehen lassen.

Sein Leben lang hat er die Wohnung mit seiner Mutter geteilt. Nach ihrem Tod schreibt er: "Jetzt, da Maman tot ist, treibt es mich zum Tod (nur die Zeit trennt mich noch von ihm)." - Die Rede ist nicht von Marcel Proust, sondern von Roland Barthes. - Eine Wahlverwandtschaft.

(Kommentar meines Opas zu Madame Bovary vor vielen Jahren: "Typisch französisch". - ;)




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Nachdenklichkeit
Jovis hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 22:04

Ja, damit kann es beginnen. Aber da bleibt es nicht stehen. Philosophie ist nach meinem Verständnis kein träumerischer Blick aufs Meer, sondern der Versuch, Antworten auf diese großen Fragen zu formulieren. In jeder Generation wieder neu. Ich finde, dass es imponierend viele Antwortversuche gibt. (Sonst hätte Blumenberg keinen Stoff für seine Bücher gehabt. :) )
Ich mache es mir etwas einfach, hoffentlich nicht zu einfach, indem ich Blumenberg selbst zitiere:

"Kultur ist auch Respektierung der Fragen, die wir nicht beantworten können, die uns nur nachdenklich machen und nachdenklich bleiben lassen. Heine hat über Kant seinen Spott ausgeschüttet, er habe die zweite Kritik, die der praktischen Vernunft, mit den Themen der Nachdenklichkeit: Freiheit, Existenz Gottes, Unsterblichkeit, nur seinem alten Diener Lampe zuliebe geschrieben. Wenn der Übermut des Spötters verklungen ist, wird man nachdenklich: Ob das nicht gar wahr sein könnte?"

Die Passage stammt aus der Dankesrede Blumenbergs über "Nachdenklichkeit", die er 1980 in Darmstadt gehalten hat aus Anlaß der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa. In dieser Rede geht es u.a. auch um die "blanke Verzweiflung derer, die mit einer Sache vorankommen möchten". Die Rede ist kurz und läßt sich in 10 Minuten lesen.

https://www.deutscheakademie.de/de/ausz ... g/dankrede




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Jovis hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 22:04

Heißt das aber, dass es in der Philosophie überhaupt keinen Fortschritt gibt? Das kommt mir nun auch wieder falsch vor. Unterschiedliche Zeiten stellen unterschiedliche Themen in den Mittelpunkt, dadurch wird ihr Feld erweitert, was man ja auch einen Fortschritt nennen kann. Und Veränderungen in der Welt führen zu völlig neuen Fragestellungen, an die man vorher noch gar nicht denken konnte, was ja auch eine Horizonterweiterung ist.
Schon weil die Zeit ja ihrerseits voranschreitet, schreitet auch das philosophische Denken voran, ist so gesehen immer mit Fortschritt verbunden. Veränderungen wissenschaftlicher Art, Veränderungen sozialer und politischer Art, Veränderungen ästhetischer Art flankieren diesen Fortschritt der Philosophie. Sprechen wir in diesem Sinne von Fortschritt, dann flachen wir die Fortschrittsidee ab zu einem bloßen Anderswerden, einem Und-so-weiter.

Was dabei aus dem Blick gerät, holt das Adjektiv des Fortschritts wieder zurück: fortschrittlich. - Fortschrittlich ist noch nicht die pure Veränderung, das bloße Anderswerden, sondern das darüber hinaus Besserwerden. Das kann auch heißen: auf-keinen-Fall-so-weiter. Die Klimaveränderung läßt noch ein Und-so-weiter zu, die Klimakatastrophe erzwingt ein Auf-keinen-Fall-so-weiter. Jetzt bedeutet Fortschritt, daß sich etwas verbessern muß.

Was verbessern Philosophen? - Die Genauigkeit ihrer Beschreibungsparameter. Die Überzeugungskraft ihrer Textinterpretationen. Die Sicht auf bislang Ungesehenes. Die Erinnerung an das Sein. ... Doch verbessern die Philosophen auch die Welt? Verbessern sie die Gesellschaft? Verbessern sie den Menschen? - Oder besteht der Fortschritt der Philosophie in der Verbesserung der Beschreibungsparameter des Menschen, der Gesellschaft ... ?

Sicher, es existieren solche Ansprüche der "Überwindung gesellschaftlicher Verhältnisse" u.ä. - In der elften Feuerbach-These heißt es bei Karl Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern." - Odo Marquards Variation: "Die Philosophen haben die Welt zwar verschieden verändert; es kommt aber darauf an, sie zu verschonen."

Was nun? Verändern oder verschonen? Oder gar verbessern? - Wollen wir die Philosophie auf Fortschrittlichkeit verpflichten? - Ich würde sie nicht auf Nachdenklichkeit verpflichten. Aber ich sympathisiere mit der Nachdenklichkeit. Ich teile Marquards Skepsis gegenüber einem Fortschrittsverständnis, daß alle Formen der Nachdenklichkeit delegitimiert und den Fortschritt als letztes Ziel allen Philosophierens zertifiziert.

"Wenn nicht in den Staaten entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche man jetzt Könige und Herrscher nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn nicht diese beiden, die politische Macht und die Philosophie, in eines zusammenfallen und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, zwingend ausgeschlossen werden, dann, mein lieber Glaukon, gibt es kein Ende der Übel für die Staaten und, wie ich meine, auch nicht für die Menschheit." (Platon; Politeia; 473c/d) -

Man sieht, daß diese Debatte um die "Philosophenherrschaft" so alt wie die Philosophie selbst ist - sofern man für einen Moment rückwärtsgewandt ist. So wie Platon es in der Politeia seinen Sokrates sagen läßt, würde das natürlich heute niemand mehr sagen. Man würde es eher so formulieren:

"Wir bedürfen dringend eines innovativen Konzepts der Kooperation von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, um ein Gesellschaftssystem zu entwerfen, das auf moralischen Fortschritt zielt." (aus dem Klappentext von Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten von Markus Gabriel) -

In der Politeia entwirft Platon den idealen Staat. Die Philosophen herrschen. Nur so kann die Gerechtigkeit verwirklicht werden. Die Dichter werden verbannt. Denn die Dichter lügen.

Das kann man wissen, wenn man sich beizeiten rückwärts wendet. -




Nauplios
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Mi 16. Sep 2020, 02:42

Übrigens, auch der Nachdenkliche kann sich für den Klimaschutz engagieren. Seine Nachdenklichkeit ist ihm dabei nicht im Wege. Er verzichtet allerdings auf die Einbettung seines Engagements in einen Entwurf des idealen Staates. Er folgt im Grunde jener morale par provision, von der Descartes spricht, dem Provisorium, das der morale definitive vorausgeht. So wie der Endzustand der philosophischen Terminologie metaphernfrei und nur aus klaren und deutlichen Begriffen bestehen soll - das ist das Programm im Discours de la methode - wäre eine "definitive Moral" der Endzustand aller praktischen Philosophie. - Sich im Provisorium einzurichten, bleibt natürlich einer auf Fortschritt lizensierten Philosophie suspekt. Der Fortschritt, hier der moralische, kann sich mit halben Sachen nicht zufrieden geben. Er geht auf Definitives. Ansonsten hätte er ja kein Ziel. - Nur: wissen wir, was definitiv das moralisch Richtige ist? - Wo es nur eine Wahrheit gibt, gibt es auch das eine Richtige. Alles andere ist Abweichung, ihre Vertreter heißen Abweichler. - Hier die Orthodoxen, dort die Häretiker. - Heimreisen aus Syrakus verlaufen nicht immer so glimpflich wie bei Platon.




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Jörn Budesheim
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Mi 16. Sep 2020, 09:08

Jovis hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 19:42
Warum nicht?
Nauplios hat geschrieben :
Mi 16. Sep 2020, 02:42
Alles andere ist Abweichung, ihre Vertreter heißen Abweichler
Einen Abweichler/Häretiker beschreibt Jandl in seinem Gedicht sehr schön. Auch wenn er bloß ein kleiner rothaariger Knabe auf dem Trittroller ist, kommt er zu einer plötzlichen Einsicht und findet eine Wendung, die die vorgezeichneten Wege verlässt und ihm ein überraschendes Überholmanöver erlaubt. Eine freie und fortschrittliche Gesellschaft ist eben eine, die sich selbst überholen kann, weil sie in der Lage ist, sich selbst zu kritisieren.




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Mi 16. Sep 2020, 11:09

Jovis hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 22:04
Nauplios hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 03:23
Der Gedanke des Fortschritts würde hier mit einer Abwertung Kants gegenüber Husserl, Goethes gegenüber Thomas Mann, Botticellis gegenüber Gerhard Richter, Bachs gegenüber Mozart ... einhergehen.
So habe ich das noch nie gesehen!
Der Gedanke des Fortschritts in der Kunst führt nicht zu einer Abwertung Botticellis gegenüber Gerhard Richter. Der Fortschritt besteht nicht darin, dass Richter besser malt als Botticelli, sondern neben anderem zum Beispiel darin, dass er (um es plakativ zu sagen) den Raum der Möglichkeiten, der Freiheit erweitert hat. Das ist ja kein Fortschritt in der Art, dass man früher geglaubt hat, die Erde sei flach, während man heute weiß, dass sie ungefähr kugelförmig ist. Also kein Fortschritt, der beinhaltet, dass das Frühere falsch oder schlechter war. Nehmen wir eine gewagte Analogie, die letztlich wahrscheinlich irreführend ist, aber dafür anschaulich. Bei Familie Müller kommt immer nur X auf den Essenstisch. Hier kann ein Fortschritt darin bestehen, dass einfach die Auswahl und die Vielfalt erhöht wird, sodass die Wahlfreiheit steigt. Das besagt aber nichts über die Qualität von X.




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Mi 16. Sep 2020, 13:04

Jovis hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 22:04
Nauplios hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 03:23
Der Gedanke des Fortschritts würde hier mit einer Abwertung Kants gegenüber Husserl, Goethes gegenüber Thomas Mann, Botticellis gegenüber Gerhard Richter, Bachs gegenüber Mozart ... einhergehen.
So habe ich das noch nie gesehen!
Der Gedanke des Fortschritts geht nicht mit einer Abwertung Kants einher, auch nicht gegenüber Husserl oder John McDowell. Denn die Leistungen Kants werden nicht dadurch infrage gestellt, dass heute immer noch Philosophen an ihn anknüpfen und versuchen ihn weiterzudenken. Das Gegenteil ist offensichtlich der Fall. Eine seiner Leistungen besteht darin, ganz neue Arten der Argumentationen und Fragestellungen gefunden zu haben, die auch heute noch aktuell sind. Einen Philosophen weiterzudenken und zu kritisieren ist eher eine Art der Wertschätzung.

Auch in den Naturwissenschaften ist das nicht so. Newton, der sonst kein besonders netter Kerl war, hat seine Vorgänger in Szene gesetzt, in dem er betont er, dass er deswegen weiter gesehen hat, weil er auf den Schultern von Riesen* stand. Ist das eine Abwertung? Oder stellt das in Rechnung, dass Weiterkommen und Fortschritt in der Regel "Teamleistungen" sind? Eine ähnliche Metapher ist die der Leiter. Wenn ein Philosoph für eine der Sprossen verantwortlich ist, dann ist es keine Abwertung, wenn weitere Sprossen darauf folgen.

* Das Zitat wird gelegentlich auch anderen zugeschrieben.




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Mi 16. Sep 2020, 14:06

Nauplios hat geschrieben :
Mi 16. Sep 2020, 02:06
In der Politeia entwirft Platon den idealen Staat. Die Philosophen herrschen. Nur so kann die Gerechtigkeit verwirklicht werden. Die Dichter werden verbannt. Denn die Dichter lügen.
Anders Markus Gabriel und auch Georg W. Bertram, um nur zwei Namen zu nennen. Sie unterstreichen die Bedeutung der Kunst für unsere Freiheit und die Ethik. Kunst ist für Bertram eine wichtige Praxis, um das zu bestimmen, was für uns bedeutungsvoll ist. Gabriel ist der Ansicht, dass Kunst und Kultur für die Entwicklung unserer Ethik unverzichtbar sind. Das halte ich gegenüber der Idee, dass die Dichter lügen für einen gewaltigen Fortschritt.




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