Jovis hat geschrieben : ↑ So 13. Sep 2020, 20:42
Entwicklung wäre auch ein gutes Bild, merke ich gerade. Im Sinne von Ent-Wickeln, zum Kern einer Sache gelangen.
Dem Ent-Wickeln kann man noch das Ent-Falten zur Seite stellen. Einen Gedanken entfalten. Einem Gedankengang nachgehen. Sich in diesem Gang anwehen lassen. Etwas erspüren, vernehmen, etwas auf der Spur sein. Etwas erstehen lassen (spätestens jetzt spielt ein kreatives Momentum rein). -
Spiel - es spielt dich etwas an, spielt dir etwas zu. Ganz leise hörst du es. Erst ist es ein Murmeln. Dann hörst du es deutlicher. Es sind Stimmen. Sie sprechen in einer fremden Sprache. Das helle, perlende Lachen einer Frau. Es ist eine Abendgesellschaft. Du befindest dich in einem Salon. Festliche Beleuchtung. Klaviermusik aus dem Nebenzimmer. Herren im zweireihig geknöpften Frack und Weste, Frauen in weit ausgeschnittenen Kleidern, aufwendig verziert mit Stickereien und Spitzenschmuck und geschnürten Miedern, dazu vereinzelt kleine Hütchen. In einer Ecke an einem kleinen Teetischchen siehst du sie. Im Kreise der dunkel gekleideten Männer wirkt sie mit ihrem hellblauen Fächer wie eine Blume in einem Gefäß. Im Ausschnitt ihres Kleides steckt die Blüte einer Orchidee mit ihren ovalen Kelchblättern der Cattleya. Odette. Du befindest dich in Swanns Welt. - Es ist die versunkene Welt einer Epoche, die am Ende des 19. Jahrhunderts in die Phase ihrer Auflösung übergeht. Mit dem Erzähler schreitest du, für die Akteure unsichtbar, durch die Pariser Salons des Hochadels und des Großbürgertums, flanierst über die großen Boulevards, spazierst entlang der Vivonne, atmest den Duft der Weißdornhecken, hörst das Rauschen des Meeres am Strand von Balbec. - Eine Welt entsteht. Deine Phantasie, deine Imaginationen sind Schöpfer dieser Welt. -
Wieviele solcher Welten mag es geben? - Unendlich viele. Du bist unsichtbar in diesen Welten. Doch unsichtbar sind auch die Bewohner dieser Zaubergärten in deiner Welt. Nichts ist vergangen. Alles ist noch da. Nur versunken. Da ist die Musik. Debussy, Faure, Mahler ... Da ist die Literatur. Proust, Flaubert, Nerval ... Da sind die anderen Künste ... Die Photographie ... Nadars Studio am Boulevard des Capucines 35 ... Hier entstanden die Portraits von Jeanne Pouquet und Marie de Benardaky, deren Charaktere in die Figur der Gilberte eingingen. -
Wenn Du wissen willst, was Emotionen sind, Jovis: in Swanns Welt wirst Du es erfahren. All diese Welten drängen sich nicht auf. Mit dem leisen Murmeln fängt es an. Das kann auch das Murmeln eines kleinen Quells sein, mitten im Wald. Hörst du die Flöte des Pan? Ovid zeigt dir diese Welt der Nymphen und Faune. -
Auch Platon erzählt von solchen Mythen. Und die Philosophie steht bis heute in einem fast geheimnisvollen Bezug zu diesen Geschichten. Schon mit dem Blick zu den Wolken, den Blick zum Himmel, zum nächtlichen Sternenhimmel entsteht eine Schwingung, die den Betrachter erfaßt. Wer je in diesen Sternenhimmel geschaut hat, wird "angefaßt", wird "berührt" von den großen Fragen, die im menschlichen Dasein beschlossen sind. Fragen, die uns kein Fortschritt je beantwortet hat und die gleichwohl unser Mensch-Sein ausmachen. - Das Philosophieren beginnt ja nicht mit dem Lesen gelehrter Bücher. Die gehören natürlich auch zur Philosophie und man kann sich damit beizeiten abmühen. Das Philosophieren beginnt schon mit dem Blick zu den Sternen, mit dem Blick zu den Wolken, mit dem Blick auf's Meer hinaus. Innehalten. Nachdenklichkeit.
Wenn man ansprechbar wird, werden die Dinge einen ansprechen. Man findet etwas "ansprechend" (wieder ein Zuspiel aus der Ästhetik), schön. Dazu bedarf es keiner end- und letztgültigen Definition der Schönheit. Dazu bedarf es der Kunst des Sehens. Und der Kunst des Hörens. Dies sind keine Künste, die man mit äußerster Zucht und Disziplin erlernen muß. Vielleicht braucht es etwas Einübung; das mag sein. - Im Laufe der Zeit wird sich dann ganz von selbst Neugierde ent-wickeln und man will den Dingen etwas mehr auf den Grund gehen. Vielleicht wird man feststellen, daß ein platonischer Dialog in seiner Originalsprache ganz anders "klingt" als in einer deutschen Übersetzung. Vielleicht verliert man die Scheu vor einem achthundertseitigen gelehrten Buch. - Wollen wir das dann einen individuellen Fortschritt nennen? - Ja, wir können das so nennen.
Hüten sollte man sich allerdings vor der Vorstellung, alle bisherige Geistesgeschichte sei eine Fortschrittsgeschichte von einem Zustand des Dunklen zu einem des Hellen, von Unwissenheit zu Wissen, von Unverständnis zu Verständnis, vom Mythos zum Logos, von der Metapher zum Begriff ... Das Eintauchen in die versunkenen Welten zeigt uns, daß das nicht so ist. Die Geistesgeschichte - Künste und Literatur inbegriffen - ist keine Geschichte linearen Fortschritts von naivem Denken zu "entwickeltem", "höheren" Denken. - Das gilt für die Kunst ebenso wie für die Literatur wie für die Philosophie. Der Gedanke des Fortschritts würde hier mit einer Abwertung Kants gegenüber Husserl, Goethes gegenüber Thomas Mann, Botticellis gegenüber Gerhard Richter, Bachs gegenüber Mozart ... einhergehen. - Der Fortschritt in den Wissenschaften, in der Medizin ... ist davon ganz unberührt. Die
Legitimität der Neuzeit ist ein einziges Plädoyer für die theoretische Neugierde und die Selbstbehauptung des Menschen durch Wissenschaft und Technik und deren Fortschritte. - Und der moralische Fortschritt? - Wer sich in Auschwitz-Birkenau die Gaskammern und Verbrennungsöfen anschaut, die industriell organisierte Ermordung von Menschen, dem wird das finstere Mittelalter sogleich etwas aufgehellter erscheinen. Das vermeintlich "finstere Mittelalter" ist nämlich ein solcher Topos, geprägt von der Hybris der später Geborenen. Nichts an diesem Mittelalter ist "finsterer" als die Opfer der ideologischen Kämpfe, der Kriege und Völkermorde, die das moderne 20. Jahrhundert forderte. Man sollte sehr zurückhaltend damit sein, Epochen als "finster" oder als "dunkel" zu bezeichnen. Man hat dann sehr schnell ein teleologisches Moment ausgelöst, was alles Bisherige nur als eine "dunkle Zeit" erscheinen läßt, die auf den Moment eines Jetztpunktes zuläuft, der sich als Wendepunkt in der Geschichte inszenieren läßt. -
Niemand ist gegen Fortschritte in den Wissenschaften. Niemand ist gegen die Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus. Und ich würde mir wünschen, daß die Bundesregierung sich noch in dieser Woche dazu durchringen könnte, alle 13.000 Flüchtlinge von Lesbos nach Deutschland zu evakuieren. - Aber ein "moralischer Fortschritt der Menschheit" ist das Fanal eines Kulturkampfs.
Wollte man nun anerkennen, daß die hier nun kurz umrissene Auffassung einer sich nicht dem Fortschritt in die Arme werfenden Philosophie ein kleines Existenzrecht hätte und deren zarte Pflänzchen man durch Ordnungsrufe nicht schon in der Phase ihrer Aussaat vertrocknen ließe, könnte man sich dazu entschließen, einer solch rückwärtsgewandten Philosophie ein kleines Beet zur Verfügung zu stellen, auf dem sie unbehelligt von den Imperativen eines Aufsicht führenden Realismus, der darüber wacht, daß auch alles für den Fortschritt Relevanz hat, ihren Vergügungen nachgehen würde, dann wäre das fürwahr ein - Fortschritt.