Regieren, aber wie?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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sokrates_is_alive
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Registriert: Sa 26. Sep 2020, 14:38

Do 15. Okt 2020, 10:15

Unter der Überschrift "GroKo-Gesetz gefährdet Bundestagswahl" in der Legal Tribune Online vom 14.10. schreibt Prof. Dr. Matthias Rossi mit Bezug zur jüngsten Reform des Wahlrechts: "Anstelle am geltenden System herumzudoktern und mit Feinkorrekturen immer mehr Fehlerpotential zu generieren, ist ein Systemwechsel angezeigt. Es bedarf einer offenen Diskussion: Über den Sinn der Direktwahl von Kandidaten, die ihren Wahlkreis von politischen Parteien zugewiesen bekommen. Über das Maß an föderaler Repräsentation. Über die Auswirkungen des Wahlrechts auf die Regierungsfähigkeit. Und natürlich vorab auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments selbst. Zudem muss der Preis beziffert werden, den man für ein klares und verständliches Wahlsystem zu zahlen bereit ist – er wird vermutlich sehr hoch ausfallen.
Es genügt nicht, dass diese Fragen nur von den politischen Parteien oder sogar nur parteiintern in kleinster Runde erörtert werden. Sie müssen in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Für einen Systemwechsel bedarf es genau genommen sogar einer Art kleiner verfassungsgebender Versammlung. Im Idealfall entscheidet das Volk über ein oder mehrere Vorschläge in unmittelbarer Abstimmung.
Die geplante Beauftragung einer Kommission kann ein Schritt in die richtige Richtung sein, wenn sie denn das bisherige Trauerspiel nicht als Marionettentheater fortsetzt. Dass sie vom Parlament und also nur von den derzeit im Parlament vertretenen politischen Parteien entsprechend ihrem Stärkeverhältnis besetzt werden wird, relativiert ihre Offenheit freilich ein wenig. Denn das Wahlrecht muss als materielles Verfassungsrecht vom ausschließlichen Zugriff der politischen Parteien befreit werden. Sinnvoller wäre es deshalb, sie beim Bundespräsidenten anzusiedeln, auch wenn die politischen Parteien trotzdem an ihrer Besetzung beteiligt wären."[https://www.lto.de/recht/hintergruende/ ... 0025964721, abgerufen am 15.10.2020]
Neben den zahlreichen juristischen Fragen, erscheinen mir folgende, gewiss nicht neuen, aber doch zu neuer Aktualität gekommenen Fragestellungen diskussionswürdig:
1. Bedarf das gegenwärtige politische System angesichts erkennbarer Fehlentwicklungen (immer wieder muss das BVerfG Gesetze der Regierung in toto oder - immer öfter - in erheblichen Teilen für verfassungswidrig erklären) umfassender Korrekturen auf Verfassungsebene, wie ließen sich Beharren auf dem Bisherigen bzw. Gegenentwürfe mit philosophischen Kategorien begründen? Etwas verkürzt: Wer soll herrschen, warum und wie?
2. Wird das gegenwärtige System von seinen Bürgern toleriert oder akzeptiert?
3. Wie steht es um die Forderung der Repräsentanz, wenn Kandidaten durch parteiinterne Listenplätze in ein Parlament kommen statt durch ein Direktmandat?
Hier zwei Thesen als "Appetizer":
1. Nur Direktmandate können für sich Legitimität und Repräsentanz beanspruchen, da sie der unmittelbare Ausdruck des Willens von Bürgern darstellen, die durch die gewählte Person vertreten werden wollen.
2. Die Unterscheidung (auch in der Rechtsprechung des BVerfG) zwischen unzulässigem Fraktionszwang und zulässiger Fraktionsdisziplin ist verbale Augenwischerei, solange Regelungen wie in der GO des Bundestages, dass die Fraktionen entscheiden, wer in welchem Ausschuss sitzt, gültig sind.
Hoffe, es gibt viele Diskussionen, Widerspruch und weitere Thesen.



"Der Teufel ist ein Optimist. Er glaubt, er könnte die Menschen schlechter machen." (nach Karl Kraus) :roll:

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Stefanie
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Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Mo 19. Okt 2020, 21:06

In den bisherigen Diskussionen ist meines Wissens so gut wie nicht darüber gesprochen worden, ob man das Wahlsystem ändern kann.
Also Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht. Im Moment haben wir eine Mischung, 1. Stimme Mehrheitswahlrecht bei der 2. Stimme Verhältniswahl.
Beide Formen sind zulässig, solange die Unmittelbarkeit gewährleistet ist. Also das System in den USA mit den Wahlmännern und Frauen bei der Prasidentenwahl ist bei uns nicht möglich.
Das reine Mehrheitswahlrecht hat allerdings so seine Nachteile. Parteilose sind fast nicht möglich, kleine Parteien haben fast keine Chance. Das entspricht nicht mehr wirklich der Zusammensetzung der Wählerinnen und Wähler, die doch sehr vielfältig ist.

Ich persönlich finde das jetzige System gut. Es ist durchaus kompliziert, gerade bei den Ausgleichsmandaten.
Direktmandate dürfen auf keinen Fall angetastet werden. Es ist die Leistung einer Person, der die Menschen überzeugt. Es eröffnet auch parteilosen Kandidaten die Möglichkeit in den Bundestag zu kommen. Es ist einen Personenwahl, keine Parteiwahl.
In NRW bei den Kommunalwahlen ist die alte und neue OB in Köln parteilos. Im Kreis Heinsberg gewann der alte und neue Landrat haushoch, aber seine Partei bei der Kreiswahl erhielt viel viel weniger Stimmen. Es wurde seine Leistung honoriert und nicht die der Partei.
Im Bundestag müsste allerdings die Regel, dass nur Parteien mit 5% der Zweitstimmen Fraktionsstatus und damit mehr Rechte haben, als z.B. Parteilose, die ein Direktmandat haben, oder wie es damals der PDS erging, Partei an der 5% Hürde gescheitert, aber es gab, ich glaube es waren 3 Direktmandate, geändert werden. Diese sind keine Abgeordnete zweiter Klasse, im Gegenteil, sie wurden direkt gewählt.

Die Größe des aktuellen Bundestages ist auch ein Ergebnis im Verhalten der Wähler und innen. Es gibt nicht mehr nur die drei Parteien, CDU SPD FDP, nein es gibt mehr. Zudem werden Direktkandidaten immer öfters aufgrund der Person, und nicht wegen ihres Parteibuchs gewählt. Das hat man zu respektieren, und es obliegt den Parteien und den Kandidaten, die Wähler und innen zu überzeugen, wieder anders zu wählen.

Ob Ausgleichsmandate wirklich sein müssen, bin ich mir nicht sicher. Nur, der jetzige Bundestag ist das Ergebniss der Entscheidungen des Wählerinnen und Wähler. Das ist so. Eben Demokratie. Und die sollte nicht nach monetären Gesichtspunkten eingeschränkt werden.

Eine Verkleinerung der Wahlkreis, und eine Veränderung der Wahlkreise, die dazu führt, dass alle Wählerinnen und Wähler gleich stark abgebildet werden, dass könnte man überdenken.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

sokrates_is_alive
Beiträge: 79
Registriert: Sa 26. Sep 2020, 14:38

Di 20. Okt 2020, 17:38

Stefanie hat geschrieben :
Mo 19. Okt 2020, 21:06
(...)
Im Bundestag müsste allerdings die Regel, dass nur Parteien mit 5% der Zweitstimmen Fraktionsstatus und damit mehr Rechte haben, als z.B. Parteilose, die ein Direktmandat haben, oder wie es damals der PDS erging, Partei an der 5% Hürde gescheitert, aber es gab, ich glaube es waren 3 Direktmandate, geändert werden. Diese sind keine Abgeordnete zweiter Klasse, im Gegenteil, sie wurden direkt gewählt.
Die Größe des aktuellen Bundestages ist auch ein Ergebnis im Verhalten der Wähler und innen. Es gibt nicht mehr nur die drei Parteien, CDU SPD FDP, nein es gibt mehr. Zudem werden Direktkandidaten immer öfters aufgrund der Person, und nicht wegen ihres Parteibuchs gewählt. Das hat man zu respektieren, und es obliegt den Parteien und den Kandidaten, die Wähler und innen zu überzeugen, wieder anders zu wählen. (...)
Eine Verkleinerung der Wahlkreis, und eine Veränderung der Wahlkreise, die dazu führt, dass alle Wählerinnen und Wähler gleich stark abgebildet werden, dass könnte man überdenken.
Vielfach wird folgendes vergessen: "27. März 1969: Bundestag ändert Geschäftsordnung
Aus acht mach fünf, mach vier und schließlich drei - so verringerte sich die Zahl der Fraktionen im Bundestag während der ersten vier Legislaturperioden. Mitverantwortlich dafür waren die Parlamentarier selbst. Seit Bestehen des Bundestages arbeiteten sie an der Reform des eigenen Hauses. Die erste große Novelle trug den Namen "Kleine Parlamentsreform" und hatte Auswirkungen auf die Fraktionen: Demnach muss eine Partei seit dem 27. März 1969 mindestens fünf Prozent der Abgeordneten stellen, um den Fraktionsstatus zu erreichen - bis dahin waren 15 Mandate erforderlich. Parteien, die nicht die erforderlichen fünf Prozent der Abgeordneten erhalten, können im Bundestag als Gruppe anerkannt werden, haben allerdings nicht so weitgehende Rechte wie eine Fraktion." (https://www.das-parlament.de/2009/13/Ke ... 233-298986) Fraktionslos sind derzeit im Bundestag 6 von 709 Abgeordneten, davon 2 durch Direktmandate und 4 über Landeslisten. Das jetzige Verfahren ist eine Folge der 22. Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 3. Mai 2013; man könnte sich also auch vorstellen, dass man sich auf eine Höchstzahl von Mandaten einigt und dann das derzeit gültige Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren strikt anwendet. Zukünftig wird auch die Frage des Wahlalters aufgrund der demographischen Entwicklungen erneut gestellt werden müssen. Überlegenswert ist auch der föderale Ansatz: "Es erfolgt weiterhin eine erste Verteilung der Sitze nach festen Sitzkontingenten der Länder mit bundesweiter Verteilung der Sitze in der zweiten Verteilung, um eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate zu gewährleisten." (https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19 ... 22504.pdf/ Hervorhebung durch mich)



"Der Teufel ist ein Optimist. Er glaubt, er könnte die Menschen schlechter machen." (nach Karl Kraus) :roll:

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