Gedicht, Rolf Dieter Brinkmann

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Jörn Budesheim
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So 1. Nov 2020, 11:57

Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich

mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden, Jetzt bin ich aus

den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem

Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.

Rolf Dieter Brinkmann




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Friederike
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So 1. Nov 2020, 15:15

Das ist ein tolles Gedicht ! Die bleierne Stimmung, diese Trostlosigkeit -und dann der Sprung ins Helle.




sokrates_is_alive
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Mo 2. Nov 2020, 18:01

Zwar nicht so mächtig, aber ich liebe auch manchmal die leichte Kost:

Der Gourmet des Lebens erwählt weise
OptimisMus pur zur Lieblingspeise.
Dem Kostverächter stinkt dagegen
der PessiMist auf allen Wegen.
Was hält der Realist davon?
Er schneuzt sich und genießt synchron.
© KarlHeinz Karius (*1935), Urheber, Mensch und Werbeberater
Quelle: Karius, WortHupferl-Edition, WortHupferl-Verlag



"Der Teufel ist ein Optimist. Er glaubt, er könnte die Menschen schlechter machen." (nach Karl Kraus) :roll:

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Jörn Budesheim
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Di 3. Nov 2020, 06:12

Rolf Dieter Brinkmann hat geschrieben : ... Ich gehe in ein
anderes Blau.
Friederike hat geschrieben :
So 1. Nov 2020, 15:15
... der Sprung ins Helle.
Interessant, dass dir das Blau als helles erscheint (und das Gehen als Sprung). Vermutlich als Assoziation zum Himmel?

Das Gedicht gibt keine Hinweise darauf, aber ich hatte eher ein dunkleres Blau vor Augen :) vielleicht ein Yves-Klein-Blau. Als Bedeutungsfeld: eine Offenheit, etwas ins Blaue tun oder sagen, aber auch Blues ... Vielleicht im Kontrast zum toten Neonlicht und zurück in die Träume?




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Friederike
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Mo 9. Nov 2020, 14:12

Ich habe den letzten Vers als einen Hinweis auf die menschliche Möglichkeit und Fähigkeit gelesen, in der Phantasie, in den Träumen, der Imagination in eine andere Welt oder Wirklichkeit einzutauchen, wenn einem die Wirklichkeit, in der man sich gerade befindet, nicht gefällt. Das ist eine Anwort auf Deine Lesart @Jörn, es könne sich um eine Aufforderung zur Veränderung des Lebens handeln ("Gründe + Argumente"-Thread).

Nein, Himmel habe ich gar nicht assoziiert, das helle Blau schien mir wohl der Kontrast zum Bleigrau des trostlosen Geländes, das Brinkmann zeichnet. Allerdings finde ich keine Antwort auf meine Frage, warum er von einem "anderen Blau" spricht. Das bedeutet ja, die Welt, die verlassen wird, ist ebenfalls eine Blaue. Was könnte es bedeuten, daß er zwei unterschiedliche Blaus nimmt und nicht ein Blau.

Tja, und dann das Fragezeichen, warum dieses Allerweltswort "gehen", ein Wort, das eigentlich unübertrefflich farb- und kraftlos ist, ähnlich wie "machen", eine derartige Wirkung entfaltet - zumindest empfinde ich es so. Deswegen hatte ich wohl auch vom "Sprung" geschrieben. Aber meinen tue ich was anderes. Dieses schwache, langweilige "gehen" scheint mir das Machtvolle des Wechsels von einer in die andere Wirklichkeit auszusagen. Nur warum ist das so? Stünde dort "ich springe ins andere Blau" wär' die Wirkung nicht annähernd so intensiv.




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Jörn Budesheim
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Mo 9. Nov 2020, 15:34

Rolf Dieter Brinkmann hat geschrieben : Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
Friederike hat geschrieben :
Mo 9. Nov 2020, 14:12
Ich habe den letzten Vers als einen Hinweis auf die menschliche Möglichkeit und Fähigkeit gelesen, in der Phantasie, in den Träumen, der Imagination in eine andere Welt oder Wirklichkeit einzutauchen, wenn einem die Wirklichkeit, in der man sich gerade befindet, nicht gefällt.
Btw: Ich hab hier das Gefühl, dass das "lyrische Ich" in diesem Fall Rolf Dieter Brinkmann selbst ist. Er ist irgendwo angekommen, um länger zu bleiben ("zwei Töpfe an der Reisetasche") ist aber bald enttäuscht ("Jetzt bin ich aus den Träumen raus, die über eine Kreuzung wehn"). Und ich hab mich gefragt, ob er wirklich gleich wieder abgezischt ist oder ob das eben nicht biografisch, sondern "imaginär" ist.




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Friederike
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Mo 9. Nov 2020, 18:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Nov 2020, 15:34
Btw: Ich hab hier das Gefühl, dass das "lyrische Ich" in diesem Fall Rolf Dieter Brinkmann selbst ist. Er ist irgendwo angekommen, um länger zu bleiben ("zwei Töpfe an der Reisetasche") ist aber bald enttäuscht ("Jetzt bin ich aus den Träumen raus, die über eine Kreuzung wehn").
Bis hier kann ich Dir folgen.
Jörn hat geschrieben : Und ich hab mich gefragt, ob er wirklich gleich wieder abgezischt ist oder ob das eben nicht biografisch, sondern "imaginär" ist.
Aber dies verstehe ich nicht, also ich verstehe nicht, was Du meinst. Biografisch wäre, wenn er sich gleich wieder von dannen gemacht hätte und mit imaginär meinst Du, er habe sich nur gewünscht, den Ort der Enttäuschung zu verlassen?




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Jörn Budesheim
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So 15. Nov 2020, 11:53

Ja, genau.

ich habe mich gefragt, ob Brinkmann tatsächlich irgendwo angereist ist und nach wenigen Tagen den Ort wieder verlassen hat und das in diesem Gedicht beschreibt.

Ich gehe in ein anderes blau könnte man aber doch auch ganz anders interpretieren, indem z.b. jemand in eine Art inneres Exil geht oder wie auch immer man es ausdrücken möchte.




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