Wie im Himmel, so auf Erden

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
Nauplios
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Mi 13. Jan 2021, 20:26

Wie im Himmel, so auf Erden
(Jürgen Drews)

Die dritte Bitte an den Erlöser hat es als Versatzstück schon vor einigen Jahren in den Rang eines Schlagertextes gebracht; doch mal abgesehen davon, daß für das vorausgehende Fiat voluntas tua offenbar keine Verwendung mehr bestand, sind profane Anrufungen und Vergleiche des Himmels nichts Ungewöhnliches. Allerdings hat der große Phrasierungsbogen, der den Menschen mit dem Himmel verband, im nachmetaphysischen Zeitalter an Prägekraft verloren, wenn auch seine Inspirationskraft für das Denken und die Kunst weiterhin ergiebig ist. - Die Erwartungen an astronomische Unternehmen, an Raumfahrt und Erkundung des Universums werden heute eher von dem Pragmatismus begleitet, der ruinöse Umgang mit dem Heimatplaneten könnte durch die Nutznießung außerterrestrischer Funde Aufschub bekommen oder gar der Umzug in ferner Zukunft könnte angesichts der Unbewohnbarkeit der Erde Rettung versprechen. - Neben diesen "lebensweltlichen" Interessen spielt die Vorstellung eines bei der Gelegenheit vielleicht anzutreffenden außerirdischen Lebens nur noch eine sekundäre Rolle. Den lieben Gott oder doch wenigstens einen gleichwertigen Ersatz dort "oben" anzutreffen, ist der Desillusionierung früherer Erkundungsfahrten in den Weltraum anheim gefallen. -

Und dennoch - die Geschichte des menschlichen Verhältnisses zur kosmischen Umwelt schreibt sich weiter fort. Für Geschichten ist der Himmel immer noch gut, auch wenn der Blick in den nächtlichen Sternenhimmel im Laufe der Jahrhunderte kosmische Ernüchterungen nach sich gezogen hat. Für einen Smalltalk reicht es allemal.

"Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werd melancholisch."




Nauplios
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Do 14. Jan 2021, 16:22

Für uns Zeitgenossen ist der Himmel oft eine Zugabe zum romantischen Arrangement, das wir in manchen situativen Kontexten genießen. Nur der Mond schaut zu, wenn die Liebenden in einer warmen Sommernacht unter dem nächtlichen Sternenhimmel dem Ruf ihrer Natur folgen. Von astrologischen Auslegungsversuchen abgesehen ist der Himmel keine Auskunftsstelle mehr, dem Informationen darüber entnommen werden könnten, was es mit dem Menschen und seinem Weltbezug auf sich hat. Die griechische Tragödie hatte die Frage aufgeworfen, ob es nicht das Höchste sei, gar nicht erst geboren worden zu sein; ihr gegenüber steht das Wort des Anaxagoras, der Grund dafür, daß es doch besser sei, geboren zu werden, läge darin, das Himmelsgebäude zu betrachten und die Ordnung im Weltall. -

Von den Zwecken eines contemplator caeli, von dessen Betrachtung und Bewunderung demiurgischen Einfallsreichtums seine wesentliche Daseinslegitimität ausgeht, hat sich das moderne Bewußtsein entfernt. Weder ein paganer Bob der Baumeister noch ein biblischer Schöpfungsgott mit seinem fürsorgenden Weitblick noch die Vorstellung des Himmels als Tafel, auf der das Geschick seine Winke erteilt, leiten die "kosmische Frage" heute; es ist allenfalls die Frage nach dem Woher unseres Kommens, welche das Universum vielleicht doch noch zur Instanz einer Antwort machen könnte.

Geblieben ist die Geschichte kosmogonischer Entwürfe, die weniger über den Kosmos, dafür mehr über den Menschen als das verspätete Geschöpf aussagen.




Nauplios
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Do 14. Jan 2021, 17:13

Müßte man die Schwierigkeiten, die sich aus dem Verhältnis von Selbstverortung des Menschen und der kosmischen Wirklichkeit ergeben haben, auf eine Formel bringen, so wäre dabei als ein Merkmal die Zudringlichkeit theoretischer Ansprüche zu nennen. -




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Jörn Budesheim
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Do 14. Jan 2021, 18:12

Nauplios hat geschrieben :
Do 14. Jan 2021, 16:22
Für uns Zeitgenossen ist der Himmel oft eine Zugabe zum romantischen Arrangement, das wir in manchen situativen Kontexten genießen.
Bild

Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die die Nacht kalt lässt. Für mich sind das Schwarz der Nacht und auch die Sterne etwas, was mich immer wieder beeindruckt und schon zu Dutzenden Zeichnungen und auch Texten animiert hat. Zwei philosophische Begriffe dafür, die etwas treffen, sind: "metaphysische Heimatlosigkeit" oder auch "unsere kalte Heimat". Für mich ist das Schwarz der Nacht, auch wenn man es in der Regel "oben" sieht, im Wesentlichen ein Erleben unserer Bodenlosigkeit ...




Nauplios
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Do 14. Jan 2021, 20:17

Ja, die "metaphysische Heimatlosigkeit" ist das Ergebnis eines geschichtlichen Vorgangs. Heimatlos kann nur sein, wer zuvor Heimat hatte, sich zumindest aber beheimatet wähnte. Nimmt man die "metaphysische Heimatlosigkeit" als eine subjektive Empfindung, zu deren Disposition gleichsam Individualität Voraussetzung ist, hat man die psychologische Seite im Blick. Nimmt man sie von der Seite ihrer anthropologischen Relevanz fügt sich die "metaphysische Heimatlosigkeit" in die Geschichte eines Verlustes ein, die erzählbar ist. -

Der Nachtschwimmer ist die Inversion zweier Weiten vom Schlage der Unendlichkeit, der kosmischen und der oceanischen - der Kosmos als "Sternenmeer", das Meer als "unendliche" Weite. - In der Astro-Nautik, der Kunde von der "Stern-Schiffahrt", hat man - wie in der Kosmo-Nautik - den metaphorischen Zugang zu diesen Weiten. Die (in der Regel) "oben" zu sehende "Bodenlosigkeit" metaphorisiert nach der Weite dann auch die Tiefe, wiederum unter Zuhilfenahme einer Inversion, nämlich der von der Tiefe des Alls zur Tiefe des Meeres. Der Verlust des Bodens und der durch ihn gewährten Standfestigkeit korrespondiert dem Verlust an Orientierung in der Unendlichkeit kosmischer Umgebung. - So kommt zur Obdachlosigkeit die Bodenlosigkeit. (Immer vorausgesetzt, daß der Nachtschwimmer auch im - an Weite und Tiefe "offenen" - Meer schwimmt.) -




Nauplios
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Do 14. Jan 2021, 20:35

Eine Art horizontaler "Inversion" des Nachtschwimmers bietet ein anderer Nachtschwimmer (30x45 cm Pastellkreide), der sich hier findet:

http://www.crazyoptiks.de/bilder.html
(achtes Bild von oben)

Bliebe noch die Möglichkeit des Nachtschwimmers als Schwimmers in der Nacht, im Schwarz der Nacht, der nyktophile Schwimmer.




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Jörn Budesheim
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Fr 15. Jan 2021, 07:19

Nauplios hat geschrieben :
Do 14. Jan 2021, 20:17
Der Verlust des Bodens und der durch ihn gewährten Standfestigkeit korrespondiert dem Verlust an Orientierung in der Unendlichkeit kosmischer Umgebung.
Ja, genau.

Wobei ich mir bei dem Ausdruck "Orientierung" nicht ganz sicher bin. (M)eine Metapher wäre: es steht uns für viele Dinge, die uns wichtig sind, kein metaphysisches Handbuch zur Verfügung, wo wir einfach nachschlagen können. Das heißt nicht unbedingt, dass wir uns nie zurechtfinden... doch statt sicherer Orientierungsmarken oder Fixsternen, haben wir oft nur uns selbst.

Nachtrag: ich merke gerade, das ist irgendwie eine Verkürzung. Der Blick in den Nachthimmel ist schwer zu beschreiben und die Gefühle die man dabei hat, sind ja auch nicht immer dieselben :)




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Friederike
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Fr 15. Jan 2021, 14:26

Am 11. November hattest Du (im Corona-Thread) etwas gesagt, @Jörn, das ich -in- mir aufbewahrt habe, weil ich es so schön fand, ja schön.
Jörn hat geschrieben : Aber :) ich glaube es gibt eine Form der Zuversicht, nennen wir sie metaphysische Zuversicht, die einen unbekümmert machen könnte. Diese metaphysische Zuversicht besteht darin, dass man - in der Regel natürlich unausgesprochen - glaubt, dass das Universum uns "gemeint" hat. So dass die grundsätzliche Einrichtung dieses Planeten darauf ausgerichtet ist, unsere Existenz zu bewahren, so als würden sich die Dinge um uns kümmern. Was auch immer man anstellt, "alles wird am Ende gut -[...]
Das ist weder mit den Händen noch mit dem Geist zu fassen, es legt sich auch nicht nahe beim Betrachten der Sterne ("überm Sternenzelt, da muß ein lieber Vater wohnen", dahin können wir nicht zurück), aber das Wort "Wohnung" ist mir beim ersten Lesen schon in den Sinn gekommen. Vielleicht sind es die "Dinge, die sich um uns kümmern". Wir wohnen hier, auf diesem Planeten und überlassen uns vertrauensvoll, nein "zuversichtsvoll" ist besser, weil es weniger abverlangt, dem großen Universum. Es bedarf nur eines Mutsprunges, dies zu glauben oder anzunehmen und die Kontrolle (das Wissenmüssen) aufzugeben.




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Jörn Budesheim
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Fr 15. Jan 2021, 14:36

Das ist interessant, dieselbe Metapher hatte ich heute morgen auch im Kopf, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: ich war kurz versucht, zu schreiben: das Schwarz der Nacht zeigt an, dass wir nicht gemeint waren.

Ist das jetzt einfach ein Widerspruch? Sollte ich mich gefälligst mal entscheiden oder gehört irgendwie beides dazu?




Nauplios
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Fr 15. Jan 2021, 17:25

Eine für die historische Anthropologie leitende Frage ist die nach dem Verhältnis von Kosmogenese und der Einbindung des logos in die Narrative dieser Genese. Mit dem logos spielt ein reflexives Verhältnis hinein in die mythische Vorstellung der Topographie von Sphären und Welten. Es braucht Platzanweisung, selbst für die Götter und seien es auch Zwischenlager wie die Intermundien Epikurs. Den passenden Ort auch für den Menschen zu finden transformiert die Kosmogonie zunehmend in eine Kosmologie. Denn nur entstanden zu sein (gignesthai) ist zu wenig, wenn ein Reflexionsverhältnis zur Welt denkbar werden soll. Im Entstandenen muß auch Ordnung herrschen, womöglich eine "höhere", aber mindestens eine, an der das Verhältnis des Menschen zur Welt abgeschätzt werden kann. -




Nauplios
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Sa 16. Jan 2021, 18:33

Ein erstes Paradigma des Reflexionsverhältnisses von Kosmos und Mensch ist der griechische Begriff der theoria. Theorie ist Schauen, Betrachten. Die theoretische Betrachtung mündet hier noch nicht zwangsläufig in die Ansprüche eines Erklärens oder gar eines durch Schauen ermöglichten Vorausschauens; nicht mal das Durchschauen darf erwartet werden. Der Kosmos ist zunächst Mysterium und bleibt es auch nach seiner Betrachtung. Das Geheimnisvolle an diesem Kosmos führt noch etwas anderes mit sich, denn sofern der Kosmos etwas hat, was durch sein Schauen nicht unmittelbare Erkenntnis wird, bleibt die Erscheinung des Kosmos etwas Vordergründiges vor seiner hintergründigen Realität. Damit wird der Kosmos die Tafel, auf der zwar Zeichen stehen können, doch stehen Zeichen für etwas anderes, was sie als Zeichen selbst nicht sind.

Damit hängt die Zügelung der Zudringlichkeit des theoretischen "Zugangs" zusammen. Der Kosmos wird der exemplarische und prädestinierte Gegenstand der theoretischen Betrachtung, der Himmelsbetrachter zum kongenialen Partner demiurgischer Weltbaukunst. Die "Stellung" (Konstellation: stella = Stern, con = mit) des Menschen in der Welt ist Stellung als ruhender Betrachter in einer kosmischen Ordnung, die er schaut ohne zu durch-schauen. (Im "durch" steckt die oben angesprochene Vordergründikeit/Hintergründigkeit.)




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Stefanie
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Sa 16. Jan 2021, 19:33

Mir ist das Thema ein Rätsel. Ich verstehe die Gedankengänge nicht.
Was ist metaphysische Heimatlosigkeit? Und was für ein Verlust?
Orientierungslosigkeit.
Oder von Jörn der Satz
"Das heißt nicht unbedingt, dass wir uns nie zurechtfinden... doch statt sicherer Orientierungsmarken oder Fixsternen, haben wir oft nur uns selbst." Reicht das nicht?

Nauplios, diesen Beitrag habe ich überhaupt nicht verstanden.
"Eine für die historische Anthropologie leitende Frage ist die nach dem Verhältnis von Kosmogenese und der Einbindung des logos in die Narrative dieser Genese. Mit dem logos spielt ein reflexives Verhältnis hinein in die mythische Vorstellung der Topographie von Sphären und Welten. Es braucht Platzanweisung, selbst für die Götter und seien es auch Zwischenlager wie die Intermundien Epikurs. Den passenden Ort auch für den Menschen zu finden transformiert die Kosmogonie zunehmend in eine Kosmologie. Denn nur entstanden zu sein (gignesthai) ist zu wenig, wenn ein Reflexionsverhältnis zur Welt denkbar werden soll. Im Entstandenen muß auch Ordnung herrschen, womöglich eine "höhere", aber mindestens eine, an der das Verhältnis des Menschen zur Welt abgeschätzt werden kann. -"

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Nauplios
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Stefanie hat geschrieben :
Sa 16. Jan 2021, 19:33

Mir ist das Thema ein Rätsel. Ich verstehe die Gedankengänge nicht.
Damit das Thema (!) weniger rätselhaft erscheint: man muß zwei Betrachtungsweisen unterscheiden. Da sind einerseits die persönlichen Empfindungen, die eine individuelle Person im Januar 2021 haben kann und auch haben darf, aber nicht haben muß, beim Anblick des nächtlichen Sternenhimmels. Solche Empfindungen können von Stimmungen, von Vorlieben, von Zufällen, von Erinnerungen u.ä. abhängen und damit sehr unterschiedliche Gestalt annehmen. Bewunderung, Ruhe, Erstaunen, Frömmigkeit, Neugier, Kreativität, Unbehagen, Langeweile, Angst, Gleichgültigkeit ... Solche und andere Empfindungen sind legitim. Den einen mag es bei diesem Anblick schaudern, der andere findet darin Ruhe und Kraft und wieder ein anderer findet darin eine Inspirationsquelle und Motivauswahl für künstlerische Werke. -

Eine "historische Anthropologie" will sich auf solcherart Einzelfälle aus der Gegenwart nicht beschränken. In der Kombination von "historisch" und "Anthropologie" läßt sich ja zunächst mal ein Widerspruch vermuten, sofern eine Anthropologie es ursprünglich mit dem Wesen des Menschen zu tun hatte. Etwas "Wesentliches" zeichnet sich aber gerade dadurch aus, daß es keinen historischen Veränderungen unterliegt. Entweder ist etwas zeitlos, übergeschichtlich, zu allen Zeiten geltend oder es ist variabel und in seinen geschichtlichen Ausprägungen dem Wandel unterworfen.

Historische Anthropologie ist also auf den ersten Blick ein Widerspruch. Anthropologische "Konstante" sind ja gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie der Geschichte gegenüber "konstant" sind, also ahistorisch. Nun verzichtet die "historische Anthropologie" weitgehend darauf, ein "Wesen des Menschen" festzustellen, sondern wendet sich der Geschichte als Praxis zu, in die der Mensch immer schon eingebunden ist. Der Mensch ist in seiner Ganzheit kein isolierbares Teilchen, das man unter dem Mikroskop im Labor unter sterilen Bedingungen erforschen kann. Man kann ihn nur "haben" in seinem historisch bedingten Eingebettetsein in einer Welt, die von Ergebnissen der Wissenschaft, von Glaubensoffenbarungen der Religion, von kollektiven Erinnerungen, von Erzählsträngen des Mythos, von der Sprache, vom Unaussprechlichen der Mystik, von Erfahrungen an der Kunst, von Ausdifferenzierungen von Systemen, von den sozialen Habitus, von der Verteilung von Kapital und Ressourcen usw. beeinflusst wird. -

Religion, Mythos, Wissenschaft, Sprache ... nennt Ernst Cassirer "symbolische Formen". Daß sie hier einfach aneinandergereiht werden, ist ein erster Hinweis darauf, daß man sie in einer gewissen Hinsicht vergleichen kann, nämlich im Hinblick auf ihre Funktion, nicht auf ihre Substanz. - Insofern interessiert sich die historische Anthropologie nicht für Wissenschaft als solche, aber sie interessiert sich für das Selbstverständnis des Menschen und für die Art seines "Eingebettetseins" (s.o.) in seiner Welt. Welche Auswirkungen hatte beispielsweise die Erkenntnis, daß die Erde nicht im Mittelpunkt des kosmischen Geschehens "steht"? - Das scheint ja den Menschen zunächst mal gar nicht zu tangieren. In seinen sozialen Verhältnissen kann er weiterleben wie bisher. Doch schon die Religion lebt mit dieser Erkenntnis nicht sonderlich gut, bedeutet doch der Verlust der Zentralstellung der Erde einen Zweifel an der Einmaligkeit der Schöpfung und damit an der besonderen Fürsorge eines liebenden Gottes. Wenn es am Ende eine Vielzahl von Welten gibt, gar abertausende, auf denen es vielleicht ganz andere Wesen gibt, ganz andere Naturgesetze, ganz andere Logiken, kann es ja mit der zentralen Stellung des Menschen, mit der zentralen Stellung seines Planeten, mit der "besonderen Fürsorge" eines um seine Heilschancen besorgten Gottes nicht weit her sein.

Die historische Anthropologie interessiert sich auch nicht für die Offenbarungen der Religion. Ob es den christlichen Gott "gibt" oder ob es der gläubige Muslim im Paradies mit 72 Jungfrauen zu tun bekommt, das weiß auch die historische Anthropologie nicht. Sie interessiert sich nur dafür, daß Menschen daran glauben oder geglaubt haben und wie ein solcher Glaube ihre Vorstellung vom In-der-Welt-Sein beeinflusst hat.

Desweiteren interessiert sich die historische Anthropologie nicht dafür, ob ein Blitz eine Unmutsäußerung von Zeus ist, schon gar nicht sieht sie im Mythos die leistungsfähigere Form gegenüber dem Logos. Doch nimmt sie den Mythos als eine Form der Weltbewältigung ernst und spürt ihn in seinen verschütteten und verschatteten Formen bis in die Wissenschaft hinein auf.

Für die historische Anthropologie sind Wissenschaft, Mythos, Religion, Kunst ... Zeugnisagenturen, deren Produkte uns Einblicke darin erlauben, wie der Mensch sich mit der Welt und seinem Dasein in dieser Welt arrangiert hat. Ob religiöse Offenbarungsschrift oder wissenschaftliche Abhandlung, ob mythisches Versepos oder moderner Roman, ob antike Skulptur oder expressionistische Malerei ... sie alle sind - im weitesten Sinne - Zeugnisse dafür, welche Stellung der Mensch sich in der Welt beigemessen hat, welche er erhofft, welche er befürchtet hat. Und eine der zentralen, geradezu urwüchsigen Aspekte dieser Frage nach der Stellung des Menschen ist die nach der Stellung im Ganzen des Kosmos. Es ist nicht die einzig denkbare Fragestellung der historischen Anthropologie, aber insofern eine naheliegende als in der ganz frühen Phase der Philosophie (schon bei Hesiod, später bei Platon im Timaios, dann unter dem Einfluß der christlichen Schöpfungslehre, dann in der Renaissance, mit den Entdeckungen Kopernikus', Galileis, Newtons u.a) der Kosmos der ausgezeichnete Gegenstand der Reflexion ist.

Wenn man Gegenwärtiges verstehen will - ein vergleichsweise niederschwelliges Ansinnen, also keine Erkenntnis eines Absoluten o.ä., keine unbezweifelbaren Gewissheiten - dann hat sich das Nachverfolgen und Nachzeichnen dessen bewährt, was zu diesem Gegenwärtigen geführt hat, aus dem sich das Gegenwärtige entwickelt hat, aus dem es sich entfaltet hat. - In der Ausstellung Aufheben hängen drei Zeichnungen von Jörn: als "Junge", als "Mann" und "das Ende": Ent-wicklung, Geschichte. Der Mensch ist in Geschichte und Geschichten verstrickt. Diesen Geschichten geht die historische Anthropologie nach. -




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Stefanie hat geschrieben :
Sa 16. Jan 2021, 19:33

Nauplios, diesen Beitrag habe ich überhaupt nicht verstanden.
"Eine für die historische Anthropologie leitende Frage ist die nach dem Verhältnis von Kosmogenese und der Einbindung des logos in die Narrative dieser Genese. Mit dem logos spielt ein reflexives Verhältnis hinein in die mythische Vorstellung der Topographie von Sphären und Welten. Es braucht Platzanweisung, selbst für die Götter und seien es auch Zwischenlager wie die Intermundien Epikurs. Den passenden Ort auch für den Menschen zu finden transformiert die Kosmogonie zunehmend in eine Kosmologie. Denn nur entstanden zu sein (gignesthai) ist zu wenig, wenn ein Reflexionsverhältnis zur Welt denkbar werden soll. Im Entstandenen muß auch Ordnung herrschen, womöglich eine "höhere", aber mindestens eine, an der das Verhältnis des Menschen zur Welt abgeschätzt werden kann. -"

Die Nacht, der Himmel, der Kosmos scheinen was zu sein, was für den Menschen schlimm ist. Von kurzen romantischen Momenten abgesehen.
- "Kosmogenese" (gignesthai)

gignesthai ist ein Infinitiv und bedeutet werden, entstehen, Kosmogenese meint das Entstehen des Kosmos, die Lehre von diesem Entstehen ist die Kosmogonie. Die ersten Deutungen und Erklärungen, wie der Kosmos entstanden ist, sind mythisch, d.h. sie erzählen eine Geschichte über den Vorgang der Welterzeugung (s. etwa den babylonischen Mythos von Apsú und Tiamát oder den Mythos Hesiods bei den Griechen). - Irgendwann verblaßt die Überzeugungskraft solcher Mythen. Man opfert zwar den Göttern noch (ein bedeutender Mythos ist der von Prometheus), aber man fängt an mit Beobachtungen der Sterne (s. Thales), zeichnet diese Beobachtungen auf, sucht nach "rationalen" Erklärungen für das Beobachtete, insbesondere für unerklärliche Abweichungen usw. Der Mythos weicht dem Logos (ein sehr vereinfachendes Modell, das unter der Formel Vom Mythos zum Logos bekannt wurde). Während Hesiod noch die Entstehung der Welt zu einem Ergebnis von Göttergenealogien macht, gilt Aristoteles der Kosmos bereits als Gebäude aus Himmel und Erde, unvergänglich, ungeworden usw.

Die "Narrative dieser Genese" sind die Erzählstränge mythischer Art, in die sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr "logische" Elemente einweben. Ein solcher logos zeichnet sich u.a. dadurch aus, daß er sich etymologisch (légein) zwar auch dem "Er-zählen" verdankt - auch der mythos ist ja Erzählung - , doch liegt beim logos der Akzent mehr auf dem "zählen" als ein Vorgang der "Vernunft". Im logos steckt immer das Momentum einer Reflektion. Er ist kein Geschichten-Erzählen, sondern eher das Zählen, das Wort, die Vernunft, einer Vernunft, die um sich weiß.

So wird die Kosmogonie mit der Zeit von einer Kosmologie abgelöst und die historische Anthropologie sucht diese Nahtstelle auf. (Einbindung "des logos in die Narrative der" mythischen Kosmo"genese")

- "Topographie", "Platzanweisung": Topographie ist die Beschreibung (graphein) von Örtlichkeiten (topoi). Also wo sitzen die Götter? Wieviel Sphären (sphaíra: Kugel) gibt es? Wer ist im Kosmos wo angesiedelt? Das Gute oben, das Böse unten. Oberwelt, Unterwelt. Bei Epikur leben die Götter in sog. Intermundien (Zwischenwelten) Der Mensch in der Mitte usw.

- Ordnung: Für die Griechen ist der Gedanke eines wohlgeordneten Kosmos von besonderer Bedeutung. Denn das Gegenteil von Kosmos ist das Chaos. Chaos ist die Abwesenheit jedweder Ordnung. Der Weltbaumeister (demiourgos) konnte unmöglich etwas Unordentliches geschaffen haben. Deshalb wäre eine Ellipse als Bahn für die Gestirne nicht infrage gekommen. Da oben verläuft alles in perfekten Bahnen und die perfekte Bewegung am Himmel ist den Griechen die Kreisbewegung. - Es herrscht die perfekte Ordnung im Kosmos. Daß er nur irgendwie da ist, daß es ihn irgendwie gibt, reicht für die am Schönen und Guten orientierten Griechen nicht; der Kosmos ist vollkommen. Und als solcher ist er auch schön. Eine der Urbedeutungen von kosmos ist "Schmuck"! Der Kosmos ist also eine Schmuckordnung.

Das mag uns nun doch reichlich "mythisch" vorkommen. Doch wer am Wochenende ein Rendezvous hat, vielleicht ein Blind Date, der richtet sich her, macht sich hübsch, betreibt Körper- und Schönheitspflege. Wären sie nicht zur Zeit geschlossen, würde man vielleicht sogar in ein Kosmetikstudio gehen. Danach sieht man dann schmuck aus. - In der Kosmetik (kosméo: ordnen, zieren, schmücken) schaut uns der alte Mythos vom kosmos wieder an, lächelt verschmitzt und sagt: "Na, mit mir habt ihr nicht gerechnet, stimmt's?" - ;)




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Nur nebenbei: Wie im Himmel, so auf Erden ist zwar auch ein Schlager von Jürgen Drews, aber es ist natürlich ein Zitat aus dem Vaterunser: "Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden." - Früher wurde das Konsekutive darin durch ein "also auch auf Erden" noch stärker betont. Das scheint heute so selbstverständlich, daß man auf die Betonung glaubt verzichten zu können. - Ich erwähne das auch nur, um nicht in Verdacht zu geraten, ich wäre bei der Titelwahl dieses Threads auf den tatsächlich nur wenige Kilometer von mir entfernt wohnenden Jürgen Drews angewiesen gewesen. :o ;)




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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Sa 16. Jan 2021, 19:33
Reicht das nicht?
Das ist meines Erachtens gar nicht die Frage. Denn: ob es reicht oder nicht, mehr gibt es nicht :)




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Mi 20. Jan 2021, 02:49
Eine "historische Anthropologie" will sich auf solcherart Einzelfälle aus der Gegenwart nicht beschränken. In der Kombination von "historisch" und "Anthropologie" läßt sich ja zunächst mal ein Widerspruch vermuten, sofern eine Anthropologie es ursprünglich mit dem Wesen des Menschen zu tun hatte. Etwas "Wesentliches" zeichnet sich aber gerade dadurch aus, daß es keinen historischen Veränderungen unterliegt. Entweder ist etwas zeitlos, übergeschichtlich, zu allen Zeiten geltend oder es ist variabel und in seinen geschichtlichen Ausprägungen dem Wandel unterworfen.
Die Anthropologie hat es immer noch mit dem Wesen des Menschen zu tun. Und das, was eben keinen historischen Veränderungen unterliegt und das, was zeitlos übergeschichtlich und zu allen Zeiten geltend ist, ist der Umstand, dass der Mensch sich selbst bestimmen kann und auch muss. Wie das im Einzelnen geschieht, welche Möglichkeiten das Individuum (als Teil einer Gruppe) dazu wirklich hat, das ist historisch variabel. Zu dieser Geschichte gehören ganz sicher auch die vielen verschiedenen Entlastungsstrategien. Man kann sich sowohl individuell als auch als Gruppe einreden, dass man nicht frei ist.

Zu dieser Selbstbestimmung gehört meines Erachtens essenziell, dass man auch eine Antwort darauf gibt, "wo" man sich eigentlich befindet. Und da der Mensch nun mal aufgerichtet ist und sein Blick nicht alleine gebraucht wird zur Befriedigung der nächsten Bedürfnisse, schaut er auch schon mal nach "oben" ... und da fragt er sich natürlich, was es mit diesem Schauspiel auf sich hat. Es würde mich sehr wundern, wenn das nicht auch eine anthropologische Konstante ist, wobei die Antworten natürlich verschieden sind.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 24. Jan 2021, 09:17
[
Die Anthropologie hat es immer noch mit dem Wesen des Menschen zu tun.
Ich hätte vielleicht besser "Historische Anthropologie" geschrieben (statt "historische Anthropologie"), weil es hier in den letzten Jahrzehnten zu einer Schulbildung gekommen ist, vergleichbar der von "Philosophischer Anthropologie" (zur "philosophischen Anthropologie"). - Schon die Philosophische Anthropologie in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts kommt schnell zu einem paradoxen Befund:

" ... die Undefinierbarkeit gehört zum Wesen des Menschen." (Max Scheler; Die Idee des Menschen; in: Vom Umsturz der Werte; S. 307)

Gleichwohl gibt es natürlich Versuche, so etwas wie Definitionen, Wesensbestimmungen des Menschen, auch anthropologische Konstanten u.ä. zu bieten - worunter auch der Blick in den Sternenhimmel fallen mag. Der Mensch als das "nicht festgestellte Tier" (Nietzsche), als das "tauschende Tier" (Simmel), als "eine Art Prothesengott" (Freud), als "Mängelwesen" (Gehlen), als "das Seiende, das redet" (Heidegger), als ein "Agglomerat von Systemen" (Luhmann) ...

Was die Historische Anthropologie betrifft, so ist die Frage nach dem Wesen des Menschen für sie nicht leitend:
Die Historische Anthropologie ist ein wegweisendes Forschungsfeld und zugleich ein Interpretationsansatz, dessen theoretische Innovationskraft in den letzten Jahren über die Geschichtswissenschaft hinausreichte. Aus einer interdisziplinären Perspektive untersucht die Historische Anthropologie die Historizität des Menschen, indem sie nicht nach einem unveränderlichen „Wesen”, sondern nach historisch variablen Wissensformen fragt. Dabei sind die vielfältigen Repräsentationen von Menschen, der Wandel sozialer Praktiken sowie Kulturtechniken und die sich wandelnden Vorstellungen von der „Natur” des Menschen zentrale Bezugspunkte der Analyse.


(Jakob Tanner; Artikel Historische Anthropologie in: https://docupedia.de/zg/Historische_Anthropologie)




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Jörn Budesheim
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So 24. Jan 2021, 19:03

Und was ist die "Historizität des Menschen" anderes als eine Wesensbestimmung? (Vielleicht sogar eine falsche! Denn, der Umstand dass wir eine Geschichte haben, heißt nicht, dass der Mensch schlechthin geschichtlich ist.)




Nauplios
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So 24. Jan 2021, 20:01

Die "Historizität des Menschen", sein "Verstricktsein in Geschichten" - das ist der Grundgedanke etwa bei Wilhelm Schapp. Damit hat man einen weiteren "Definitionsessay" (Blumenberg). - Ich denke, daß ausgehend von einer invarianten Natur des Menschen, auf anthropologische Konstanten zu schließen ..., daß das Anregungspotential solcher Vorstellungen an Überzeugungskraft verloren hat. Eine recht interessante Weiterentwicklung ist hier womöglich der "Versuch einer symmetrischen Anthropologie" von Bruno Latour.




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