Der folgende Beitrag zeigt eher eine Auslegeordnung meiner Gedanken, nicht ausgereifte Positionsbezüge.
Wir haben es mit Menschen zu tun, die einen Wert haben. Nach Singer bemisst sich dieser Wert sozusagen nach den Kriterien der "erwarteten Lebensdauer" und der "Lebensqualität". Ein Quadriplegiker soll anhand dieser Grössen für sich selbst bestimmen können, was ihm mehr wert ist: Länger leben, dafür mit weniger Qualität als Mehrfachgelähmter oder weniger lang zu leben, dafür mit höherer Qualität dank Bewegungsfreiheit und Autonomie. Mit diesem Szenario kann ich etwas anfangen: Wenn ich mich in diese Situation einfühle, dann würde ich diese Wahl auch gerne haben. Ich würde meinem Leben - in Szenario A und B - gerne selber einen Wert beimessen und mich für die wertvollere Option entscheiden können.
Und ich meine, dass ich dieses Selbstbestimmungsrecht bezüglich der Wertbeimessung meines Lebens habe. Aber habe ich das auch über anderes Leben?
Zurecht fragt Burkhart: Nach welchen Massstäben wir das beurteilen sollen?
Es ist wirklich grauenvoll, wie Jörn sagt, sich vorzustellen, dass das Leben eines betagten, greisen Demenzpatienten weniger wert sein soll als das eines jungen, kerngesunden Kinds. Es ist grauenvoll, weil wir hier zwei "Lebenswerte" miteinander verrechnen, die sich gar nicht aufwiegen lassen. Nicht wir haben doch zu bestimmen, dass das Leben von Person A aus diesen und jenen Gründen weniger wert habe, weil es sich gar nicht aus unseren Bewertungen ergibt, dass er oder sie diesen Wert hat an sich? Wie würde ich reagieren, wenn man das über meine gottseidank heute gesunde Mutter behaupten würde, dass, wenn sie an Demenz erkrankte, ihr Leben weniger wert sei als bspw. meines, das noch länger dauert und ich in Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte leben kann? Ich wäre entsetzt, wenn mir jemand sagte, ihr Leben sei weniger wert, weil sie für mich nicht weniger wertvoll ist, wenn sie krank oder gesund ist, sondern wertvoll ist als Mensch, als Individuum, als diese Person, als Mutter. Und sie hat diesen wert für mich doch deshalb, weil sie diesen Wert an und für sich hat: als Mensch, als Individuum, als diese Person, als Mutter.
Nicht nur würde ich also den Ethikern wie Singer sagen, dass sie mir bitte objektive Kriterien angeben sollen, wonach sich der Wert meiner Mutter bemessen soll, auf dass ich einsehen könne, ob ihre Wertberechnungen stimmten, ich würde diese Berechnungen auch hinterfragen, ganz grundsätzlich, weil es sich überhaupt nicht gehört, dass jemand über den Wert eines anderen Menschen urteile. Das scheint mir ganz grundsätzlich falsch zu sein, weil dieser Wert ganz grundsätzlich durch den Menschen selbst - durch sein Lebendigsein, sein Menschsein - wirklich und unantastbar ist.
Und doch, ich würde schon sagen, dass ich meinem Leben Wert zuschreiben darf. Es leuchtet mir durchaus ein, dass mein Leben als Quadriplegiker für mich weniger Wert hat als mein Leben als gesunder, nicht gelähmter Mensch. Da, scheint es mir, darf ich über den Wert meines Lebens urteilen. Aber die Gesellschaft soll das nicht dürfen über Individuen, wenn sie es tut, dann irrt sie sich doch fundamental in ihrer Rolle, die darin bestehen muss, jeden Einzelnen zu beschützen - unabhängig seines sozialen Status, seines sozialen Beitrags, seines Nutzens für das Ganze? Es steht uns doch nicht an, über den Wert der Menschen zu urteilen - zu keiner Zeit?
transfinitum hat geschrieben : ↑ So 14. Feb 2021, 09:42
Es ist ein utopischer Idealismus, den man sich vormacht, dass jedes Menschenleben gleichwert ist.
Ich würde schon sagen, dass es ganz real ist, dass du einen Wert hast - unabhängig davon, was du denkst, was du tust und wer du bist. Das mag idealistisch klingen, weil die gesellschaftliche Realität heute eine andere ist: Weil es tatsächlich so ist, dass die Gesellschaft anders funktioniert. Weil es tatsächlich gängig ist, Sozialschmarotzern weniger Wert beizumessen als bspw. einem Mulimilliardär. Tatsache ist, dass es Privilegierte gibt und weniger Privilegierte: Aber zeigt diese Tatsache nicht vielmehr an, dass wir uns als Gesellschaft irren, wenn wir uns so zueinander verhalten? Ist es wirklich aus idealistischen Gründen, dass wir fordern, jeder Mensch müsse gleich viel Wert haben, oder entspringt diese Haltung nicht vielmehr der Einsicht in die moralische Tatsache, dass wirklich jeder Mensch gleich viel Wert habe? Diese moralische Tatsache, wenn sie denn eine ist (was ich glaube), spricht dafür, dass wir die Gesellschaft korrigieren, wenn sie sich bezüglich diesem Umstand, dass sie nicht alle gleichwertig behandelt, irrt. Das ist für mich kein Idealismus, sondern ganz gewöhnlicher Menschenverstand, der sich mit der Realität - auch mit der Realität des Sollens - konkret auseinandersetzt.
Man mag unterstellen, dass universelle Menschenrechte einem Ideal folgen, dass sie aus Idealismus entstehen, dass diese Rechte nur Idealität haben, aber keine Faktizität. Aber es spräche auch unter diesen Vorzeichen des Vorwurfs des Idealismus nichts dagegen zu sagen, dass die
Idee der Gleichheit, Geschwisterlichkeit und Freiheit ganz real sei und gut begründet in der Faktizität. Selbst also, wenn man mir unterstellen wollte, ich sei Idealist, ein Weltverbesserer, ein Gutmeinender, ein Gutmensch: Selbst da würde ich doch begründen können, warum ich glaube, dass es richtig ist, die Welt zu verbessern oder es gut zu meinen und ein guter Mitmensch zu sein: Weil das Gute real ist, weil es Tatsachen gibt, die wirklich dafür sprechen, so und so zu handeln. Faktisch dafür sprechen. Objektiv und alles andere als wertneutral.