Melanie Möller und Eva Geulen im Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht

Hier werden Vorträge diskutiert, die online als Video verfügbar sind.
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iselilja
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So 14. Feb 2021, 10:19

Und deshalb gibt es einen Unterschied in der Frage, wie man sich einem Mythos nähert. Wagen wir den "Blick durchs Mikroskop" auf eine Textualität um die vornehmlich sprachlichen Charakteritiken zu verstehen oder treten wir zurück vor dem Angesicht dessen, was uns der Mythos erzählen will. Mit der Blumenberg'schen Arbeit am Mythos gehen wir - soweit ich das bisher beurteilen kann - den einen Weg. Der andere Weg wäre das Verstehenwollen einer Zeit, die es so nicht mehr gibt.

Die Gedankengänge dieser beiden drei Beiträge müssen zusammen gesehen werden.
Zuletzt geändert von iselilja am So 14. Feb 2021, 11:18, insgesamt 1-mal geändert.




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iselilja
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So 14. Feb 2021, 10:50

Es gibt da so eine schöne Geschichte, an der man diesen Unterschied begreiflich machen kann, sofern die Geschichte das nicht bereits selbst erldigt hat. Nämlich Die undenliche Geschichte von Michael Ende. Ich beziehe mich mal auf den Film, der sicherlich vielen bekannt ist.

Die Geschichte um den Jungen der ein Buch liest kulminiert in einer Szene, die den Sinn der Geschichte insgesamt auf eine neue Betrachtungsebene hebt - die Geschichte an sich durch eine andere Brille sehen lässt. Denn der Leser (dort also der Junge als Protagonist) wird nicht einfach nur durch das faszinierende Moment der Geschichte, die er liest, in die Geschichte hineingezogen - so wie das wohl bei jeder spannenden Geschichte der Fall ist - sondern er wird von der Geschichte direkt angesprochen - und das sogar namentlich. Ein Moment, den man als Realitätsbruch bezeichnen kann. Der Junge springt auf und schreit "Was? Das kann doch garnicht sein!" (oder so ähnlich, ich rezitiere aus dem Gedächtnis). Und die Geschichte entwickelt sich dahingehend, dass er es ist - er selbst - der der Phantasie einen Namen geben muss, um sie vor dem Verfall zu retten.

Durchaus eine Paralleele zur entzauberten Welt. Man muss sie nur verstehen.

Inwiefern aber hat das was mit einer Arbeit am Mythos zu tun? Nun, weil hier verständlich wird, dass eine Geschichte nicht nur etwas zur Unterhaltung beiträgt, sondern auch etwas vermitteln will (die Geschichte selbst ist also nur das Medium, das zur Vermittlung Befähigte). Und das worum es nicht in der Geschichte sondern das worum es der Geschichte selbst geht - das sind zumeist reale Gegebenheiten, die für den Menschen, in welcher Hinsicht auch immer, eine Rolle spielen. Sie haben eine Bedeutung.




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iselilja
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So 14. Feb 2021, 11:27

Und wenn Zeus das Haus seiner Angebeten niederbrennt, dann hat auch das eine Bedeutung. Und so wird auch ein wenig verständlich, warum die "Götter" eines Polytheismus anthropomorph sein müssen. Es ist das Zusammenspiel einer letztendlich unbeherrschbaren Welt und des Menschen mit seinem In-dieser-Welt-Sein.




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Jörn Budesheim
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So 14. Feb 2021, 16:40

Nauplios hat geschrieben :
Mi 20. Jan 2021, 17:33
Das berühmteste Enchiridion der Moralistik ist das Handorakel und Kunst der Weltklugheit des spanischen Jesuiten Balthasar Gracían aus dem 17. Jahrhundert. Arthur Schopenhauer hat seinerzeit das Handorakel ins Deutsche übertragen. Nun hat der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht eine Neuübersetzung vorgelegt, die vor wenigen Wochen erschienen ist
Handorakel und Kunst der Weltklugheit des spanischen Jesuiten Balthasar Gracían hat geschrieben : 41 Nie übertreiben. Sehr darauf achten, nicht in Superlativen zu sprechen, zum einen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, die Wahrheit zu beleidigen,zum anderen, um seine Weisheit nicht herabzusetzen. Übertreibungen sind eine Verschwendung des guten Rufs und Anzeichen der Beschränktheit im Wissen und im Geschmack. Lobreden wecken lebhafte Neugier, spornen Begierde an , und wenn dann der Wert nicht der Hochschätzung entspricht, wie es gewöhnlich der Fall ist , dann kehrt sich die Erwartung gegen die Täuschung und rächt sich mit der Geringschätzung dessen, was gerühmt wurde, und der Person, die es rühmte . Der Kluge hält sich also deutlich zurück und zieht den Vorwurf der Unter- dem der Übertreibung vor. Nur Weniges ist herausragend: deshalb besser die Wertschätzung herabtönen. Dinge schönen gehört zum Zweig des Lügens, und man verliert dadurch das Ansehen guten Geschmacks, was schlimm, und des Verstandes, was schlimmer ist.
Handorakel und Kunst der Weltklugheit des spanischen Jesuiten Balthasar Gracían hat geschrieben : 43 Denken wie die Wenigsten und reden wie die Meisten. Gegen den Strom gehen wollen wird nie Irrtümer aufheben, aber sehr wohl Gefahren heraufbeschwören. Allein ein Sokrates könnte das versuchen. Man fasst das Abweichen als Beleidigung auf, weil es das Urteil der anderen verdammt; die Zahlderer, die Anstoß nehmen, vervielfältigt sich aufgrund des Gegenstands der Kritik und wegen desjenigen, der ihm Beifall gab. Die Wahrheit ist eine Sache der Wenigen, der Irrtum ist so gemein wie verächtlich. Nicht an dem, was er im öffentlichen Raum sagt, erkennt man den Weisen, denn dort spricht er nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern mit jener der gewöhnlichen Dummheit, sosehr sie auch von seinem Innern abweichen mag. Gegenstand des Widerspruchs werden vermeidet der Weise ebenso wie das Widersprechen: was nahe beim Tadel ist, wird vor der Öffentlichkeit zurückgehalten. Das Denken ist frei, man kann und soll ihm keine Gewalt antun; es zieht sich in den heiligen Innenraum seines Schweigens zurück; und wenn es manchmal losgelassen wird, dann nur im Schatten von Wenigen und Weisen.




Nauplios
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So 14. Feb 2021, 17:40

"Denn uns heute fehlt das, was eine Mythologie liefert - nämlich die Zusammenhänge zwischen all dem Diversen." (Iselilja)

Zusammenhänge zwischen all dem Diversen - ja, so sie denn bestehen. Wenn ich es richtig erinnere, dann ist in puncto Mythologie Manfred Frank die erste Adresse, der diesen Gedanken aus der deutschen Romantik und vor allem aus der Philosophie Schellings hinüber zu retten versucht:

Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie

Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie

Ein etwas weniger ambitioniertes Unterfangen wäre eine Wissenschaftsgeschichte, welche statt einer Neuen Mythologie die Alte Mythologie aufspürt und das Weiterleben mythischer Metamorphosen in der Begriffs- und Metaphernverwendung der Wissenschaft ansteuert. Die Begriffsgeschichte hat dies jüngst etwa an der Netzmetaphorik getan, die man etwa in den Neurowissenschaften findet, aber auch in der KI-Forschung oder im Bereich des Digitalen, auch in der Politikwissenschaft. Das Netz als anleitende Imagination für das, was "irgendwie zusammenhängt". ;)

"... aus einer Perspektive des göttlichen Draufblicks - was man als Universaltheorie bezeichnen könnte. Und genau das ist Polytheismus." (Iselilja)

An dieser Stelle ein vorsichtiger Einwand: Ist nicht gerade die göttliche Kataskopie, der "Draufblick" von oben, eine einmalige Perspektive, auch wenn es viele Götter gibt? - Solche Kataskoptik ist eigentlich dem einen Gott des Monotheismus vorbehalten. Schauen viele Götter, hat man wieder die Multiperspektivität und verbunden damit eine Abschwächung göttlicher Dignität. - Ist nicht "Uni-versaltheorie" (unus = einer) eigentlich das Gegenteil von "Poly-theismus" (poly = viel)? -




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So 14. Feb 2021, 17:52

Alexander Friedrich; Metaphorologie der Vernetzung: (pdf-Datei)


https://www.google.com/url?sa=t&source= ... R8XUdByHhy




Nauplios
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So 14. Feb 2021, 18:00

"Mit der Blumenberg'schen Arbeit am Mythos gehen wir - den einen Weg. Der andere wäre das Verstehenwollen einer Zeit, die es so nicht mehr gibt."

Mit beiden Wegen komme ich gut zurecht. Der zweite Weg erfordert dann ja eine Rekonstruktion dessen, was für die "Zeit, die es so nicht mehr gibt", Wirklichkeit war, ihren Wirklichkeits-Begriff. Und dafür bietet sich wiederum der erste Weg an. ;)




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iselilja
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So 14. Feb 2021, 18:35

Nauplios hat geschrieben :
So 14. Feb 2021, 18:00
"Mit der Blumenberg'schen Arbeit am Mythos gehen wir - den einen Weg. Der andere wäre das Verstehenwollen einer Zeit, die es so nicht mehr gibt."

Mit beiden Wegen komme ich gut zurecht. Der zweite Weg erfordert dann ja eine Rekonstruktion dessen, was für die "Zeit, die es so nicht mehr gibt", Wirklichkeit war, ihren Wirklichkeits-Begriff. Und dafür bietet sich wiederum der erste Weg an. ;)
Genau so ist es. Nur hat die Philosophie den ersten Weg mehr oder weniger an die Wissenschaften "deligiert", so dass philosophische Bemühungen auf dem Gebiet scheinbar nicht mehr so recht ernst genommen werden wollen. Eine Rückbesinnung auf die eigene Leistungsfähigkeit scheint - so nehme ich es jedenfalls alltäglich wahr - kein breites Klientel mehr zu erreichen.

Da gibt es doch tatsächlich immer noch Philosophen, die wollen uns im 21. Jahrhundert mit Mythen kommen. Haben die irgendwas verschlafen. :-)

Der zweite Weg bleibt ohnehin nur denjenigen, die einen Faible für Götter haben oder sonst irgendwie religiös motiviert sind. Die Philosophie steht hier also an einem Randbereich, der selbst erst einmal die Mittel bereitstellen muss, um das im Fokus stehende letztendlich vermitteln zu können. Was m.E. eine Msichung aus verständlich bleibender Sprache und evidenten (also leicht einsehbaren) Argumenten sein könnte. Deshalb auch mein Bemühen, eine realistische Grundlage zu schaffen oder doch zumindest ins Spiel zu bringen.




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So 14. Feb 2021, 18:56

iselilja hat geschrieben :
So 14. Feb 2021, 18:35

Deshalb auch mein Bemühen, eine realistische Grundlage zu schaffen oder doch zumindest ins Spiel zu bringen.
In den Noten zur Literatur (S. 388ff) von Adorno gibt es einen kleinen Aufsatz zu Siegfried Kracauer": Der wunderliche Realist. - Das ist (u.a.) unser Mann, Iselilja, Siegfried Kracauer. ;)

"Das Verstehenwollen einer Zeit, die es so nicht mehr gibt" - Genau das versucht nämlich in Kracauer in seiner Arbeit Jaques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937). Er nennt sie eine "Gesellschaftsbiographie".

Ein "wunderlicher Realismus" - manches gibt es schon, von dem man dachte, es wäre an der Zeit, es zu erfinden. ;)




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Mo 15. Feb 2021, 16:33

(Ver)Fall, (Ver)Lust, (Ver)Weigerung. Epistemische Anekdoten in Suetons viri illustres

Audiomitschnitt eines Vortrags von Melanie Möller auf der Tagung "(Nicht)Wissen - Dynamiken der Negation in vormodernen Kulturen":

http://www.sfb-episteme.de/Listen_Read_ ... index.html




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iselilja
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Mo 15. Feb 2021, 16:47

Nauplios hat geschrieben :
So 14. Feb 2021, 18:56

Ein "wunderlicher Realismus" - manches gibt es schon, von dem man dachte, es wäre an der Zeit, es zu erfinden. ;)
Mich beruhigt so etwas eher als dass es mich stören würde. Als Kind war ich da anders.. aber im Studium bemerkte ich einmal dieses unglaublich gute Gefühl zu wissen, "sieh an.. vor 500 Jahren hat ein Mensch ganz ähnlich gedacht - ich dachte immer die sehen alles ganz anders".

ps: Den Titel werde ich mir mal merken.. danke für den Lesetipp.




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Jörn Budesheim
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Mo 15. Feb 2021, 19:02

Handorakel und Kunst der Weltklugheit des spanischen Jesuiten Balthasar Gracían hat geschrieben : 12 Natur und Kunst, Stoff und Werk. Es gibt weder Schönheit ohne Nachbesserung, noch Vollkommenheit, die ohne Erhöhung der Kunst nicht in Rohheit umschlüge: was schlecht ist, macht sie besser, und das Gute macht sie vollkommen. Die Natur lässt uns gewöhnlich im Stich, wenn es ums Beste geht – halten wir uns also an die Kunst. Ohne sie ist die die beste Anlage ungebildet, und ohne Bildung fehlt die Hälfte zur Vollkommenheit. Jeder Mensch schmeckt schal ohne Kunstfertigkeit, denn er braucht Schliff zur Vollkommenheit.
Handorakel und Kunst der Weltklugheit des spanischen Jesuiten Balthasar Gracían hat geschrieben : 35 Sich Gedanken machen. Und zwar mehr zu dem, was am wichtigsten ist. Weil sie nicht denken, gehen alle Dummen unter: sie begreifen die Dinge nicht einmal zur Hälfte; und weil sie den Schaden oder den Vorteil nicht wahrnehmen, bemühen sie sich auch nicht . Manche legen großen Wert auf das, was wenig, keinen auf das, was große Bedeutung hat, weil sie immer verkehrt abwägen. Manche verlieren den Verstand nicht, weil sie keinen haben. Dinge gibt es, die man mit aller Bemühung betrachten und in der Tiefe seines Geistes bewahren sollte. Der Kluge macht sich über alles Gedanken, aber dort gräbt er am meisten, wo es Grund und Widerstand gibt; und er denkt vielleicht, dass da mehr ist, als er denkt: so kommt sein Nachdenken dorthin, wo seine Wahrnehmung nie hinkam.




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Di 16. Feb 2021, 00:22

iselilja hat geschrieben :
Mo 15. Feb 2021, 16:47

ps: Den Titel werde ich mir mal merken.. danke für den Lesetipp.
Nachdem ich die ersten Kapitel gelesen hab': Kracauer hat diesen wunderbar leichten plaudernden Ton, mit dem er die Juli-Monarchie unter Louis-Philippe, dem "Bürgerkönig", mit ihren Theatern und Cafés, der Presse mit ihren Gesellschaftskarikaturen und Satiren, das Leben auf den Boulevards, die Spielhallen, die mondäne Bohème, die Etablissements und Varietés, die Börse, das Leben der Grisettes, Dandys und Dirnen und das Pariser Musikleben mit seinen kleinen und großen Skandalen und Intrigen, seiner Aufführungspraxis, die Verhältnisse der Orchestermusiker u.v.m. darstellt. Da ist viel Detailreichtum dabei. Und in dieses Pariser Leben tritt der gerademal 14-jährige Jakob Offenbach im November 1833 ein, gemeinsam mit seinem ein paar Jahre älteren Bruder Julius. -

Ein untergegangene Zeit tritt dem Leser aus dieser "Gesellschaftsbiographie" entgegen. Und zunächst ganz leise, wie aus der Ferne, dringen die Klänge der Quadrillen und Galopps, der Cancans und Walzer an sein Ohr. Und dann befindet er sich mit einem Mal im prächtig erleuchteten Palais-Royal, in einem Orchestergraben neben dem Pult des Cellisten Jaques Offenbach, auf dem Boulevard du Temple oder in einer Versammlung des vornehmen Jockey-Clubs wieder.

Das Ganze ist eine unverhohlene Liebeserklärung an Paris und an das Pariser Leben mit seiner Musik. -




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Di 16. Feb 2021, 19:18

Eine skeptische Theorie sei "widersinnig", heißt es in Husserls Logischen Untersuchungen; eine solche Untersuchung verstoße nämlich in ihren epistemologischen Voraussetzungen "gegen die evidenten Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt". (Bd. I, S. 118f) - Das hat Husserl nicht davon abgehalten, den Grundbegriff der pyrrhonischen Skepsis schlechthin, die epoché, für die Phänomenologie zu adaptieren. Doch davon einmal abgesehen, ist die Auffassung der (pyrrhonischen) Skepsis als Erkenntnistheorie eine historische Verengung. Der Skeptizismus ist von seinen Ursprüngen her betrachtet eine Theorie der Lebenskunst, eine Moralphilosophie. sképtesthai bedeutet "sich umschauen, betrachten, erwägen" mit einem leichten Akzent auf "kühl abwägen". sképsis ist die "gründliche Untersuchung", jedoch ist damit die "Untersuchung" gemeint, in der die epoché einen Dienst an der Adiaphorie, der Gleichgültigkeit, der isostheneia, der Austarierung des Widerstrebenden, der apatheia und ataraxia (Unerschütterlichkeit und Seelenruhe) leistet. Es geht in der antiken Skepsis vornehmlich darum, wie sich mit und in der Welt leben läßt. In ihren späteren Ausprägungen wird diese Stoßrichtung der Skepsis noch deutlicher, etwa bei Montaigne und der französischen Moralistik (wo es darüberhinaus auch noch darum geht, wie sich mit dem Wissen von der Welt und dem Wissen über den Menschen leben läßt). Immer geht es im wesentlichen um Lebenspraxis, nicht um Erkenntnistheorie (Descartes, Hume u.a.) -




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Di 16. Feb 2021, 19:39

epoché ist vor allem jene Enthaltung vom Urteil, die für die Philologie typisch ist. "Skeptisch ist die Philologie nicht allein, weil sie immer schon die Überlieferung und ihre Zeugen anzweifelte, sondern weil sie bewußt auf Wahrheitssuche und Assertionen verzichtete." (Christian Benne; Philologie und Skepsis; in: Was ist eine philologische Frage?; hrsg. v. Jürgen Paul Schwindt; S. 194) - Schlegel nannte das: "Interesse für bedingtes Wissen" und im Antichrist heißt es, Philologie sei eine "Ephexis in der Interpretation" (KSA 6; S. 233)




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Di 16. Feb 2021, 19:51

Der Skeptiker spricht

"Halb ist dein Leben um,
Der Zeiger rückt, die Seele schaudert dir!
Lang schweift sie schon herum
Und sucht und fand nicht - und sie zaudert hier?
Halb ist dein Leben um:
Schmerz war's und Irrthum, Stund' und Stund' dahier!
Was suchst du noch? W a r u m? - -
Diess eben such' ich - Grund um Grund dafür!"

(Friedrich Nietzsche; Die fröhliche Wissenschaft; in: KSA 3, S. 367)




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Mi 17. Feb 2021, 02:37

Ainesidemos von Knossos, Erneuerer der pyrrhonischen Skepsis, wird von Diogenes Laertios überliefert mit den Pyrrhôneiôn logôn oktô biblia, deren achte Trope "die Relativität überhaupt" feststellt. Das ist nicht etwa die Überschrift, es ist der vollständige Inhalt. Bei "Relativität überhaupt" wird sicheres Wissen nur annähernd erreicht. Das setzt den Prozeß unendlicher Annäherung in Gang, von dem der für die Altphilologie so bedeutende August Böckh in seiner Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften noch 1877 schreibt: "Die Philologie ist, wie jede Wissenschaft, eine unendliche Aufgabe für Approximation." Verstehen ist danach ein hypothetisches Rekonstruieren. Das Denken einer fremden Individualität ist "Gegenstand der Rekonstruktion". - Die Rekonstruktion kann aber diese fremde Individualität "nie vollständig" verstehen. Die Annäherung erfolgt hingegen durch eine "unendliche Approximation" (86). - Böckh bleibt beim Verstehen ganz seinem Lehrer Schleiermacher treu, von dem Gadamer an prominenter Stelle schreibt: "Jeder Akt des Verstehens ist nach Schleiermacher Umkehrung eines Aktes des Redens, die Nachkonstruktion einer Konstruktion." (Hans-Georg Gadamer; Wahrheit und Methode; S. 177) - In der "Nachkonstruktion einer Konstruktion" liegt "die Relativität überhaupt" des Ainesidemos beschlossen. Konstruktionen erfahren ihre Relativität durch ihre Nachkonstruktionen. Der Heidelberger August Böckh, der in Berlin lehrte, wird gewußt haben, daß Ainesidemos von Knossos in Alexandria lehrte. -




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Do 18. Feb 2021, 04:03

iselilja hat geschrieben :
Mo 15. Feb 2021, 16:47

Mich beruhigt so etwas eher als dass es mich stören würde. Als Kind war ich da anders.. aber im Studium bemerkte ich einmal dieses unglaublich gute Gefühl zu wissen, "sieh an.. vor 500 Jahren hat ein Mensch ganz ähnlich gedacht - ich dachte immer die sehen alles ganz anders".
Über Zeigen und Behaupten war vorhin an anderer Stelle schon die Rede. Ich würde Dich, Iselilja, noch auf einen Denker verweisen, der vielleicht auch in manch anderer Hinsicht von Interesse sein könnte, auf den Psychoanalytiker Jacques Lacan. Wenn ich Dich in dem, was Du in den letzten Tagen geschrieben hast, richtig verstanden hab', dann könnte Lacan für Dich eine interessante Fundgrube sein. Rolf Nemitz hat zu Lacan ein sehr umfangreiches und informatives Blog angelegt, u.a. auch über das "Reale" bei Lacan:

https://lacan-entziffern.de/reales/25048-das-reale/

Begleitend ein Vortrag von Robert Klein, Das "ein" bei Platon und Lacan:






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iselilja
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Do 18. Feb 2021, 19:52

Es ist dieser Unterschied, den verschiedene Philosophen versuchten aufzuzeigen - notgedrungen auch mittels Schriftlichkeit, deren Mangel Platon bereits verdeutlichte - und immer wieder in die Notwendigkeit einer Dynamik in der Sprache selbst finden mussten bspw via differenzierter philosophischer Methoden. Denn die Sprache allein verbindet nicht mit der Realität. Ebenso der Logos, der in die Imagination hineinreicht und dort auf das Reich des Möglichen und Unmöglichen trifft. Die Realität aber ist das, was all dem Subjektiven sich widersetzt, sich ihm entgegen stellt - es ist in sofern Gegenstand.

Und genau zwischen diesen beiden DIngen <Realität-Imagination> (man könnte in ähnlicher Bezugnahme auch von <Körper-Geist> sprechen) findet es sich etwas, das dazwischen vermitteln kann. Denn es betseht sowohl aus dem einen als auch aus dem anderen - das ist im weitesten Sinne eine Synousia des Mythos.


Ich hatte heute nachmittag ein wenig darüber nachgedacht, insofern ein netter und auch glücklicher Zufall, dass ich nun gerade heute auch Deinen Beitrag lesw, @Nauplios. Das Thema welches Du vor langer Zeit aufgeschlagen hattest, erinnerte mich daran, dass bei genauerer Betrachtung ja fast alle Symbolik am Ende Methaphorik bleiben könnte. Sich jene Unbegrifflichkeit gerade in dem Noch-nicht-Begrifflichen der widerspänstigen Realität zeigt, die uns heute allerdings aus mehreren Gründen anders erscheint als zu früheren - im Dunklen liegenden - Zeiten. Der Grund dafür ist mir auch heute erst so wirklich klar geworden. Denn jedes Wort muss irgendwann einmal zuerst ausgesprochen worden sein. Die Geschichte der Menschheit ist also genausogut eine Geschichte der Wörter und Begriffe. Doch wozu werden Begriffe gefunden rsp. geformt? Nun.. um das, wofür es noch keinen Begriff gibt mittels zu entwerfendem Begriff erst festzuhalten und so für Späteres auch zu begreifen. Und hier versteht man vielleicht auch den Gedanken, dass vor jedem Begriff so etwas wie ein kleiner Mythos der Beschreibung liegt. Die Beschreibung selbst ist eine [Re-]Performation des so in dieser oder jener Hinsicht Wahrgenommenen - also bspw ein Ding oder eine soziale Konsequenz oder ein Wirkungsmechanismus oder eine Erkenntnis die sich nur dialogisch erfasen lässt oder was auch immer. Wenn aber das Staunen, das aus dem Reich der Unkenntnis heraustritt, vor dem steht, dessen sich der Mensch nicht widersetzen kann, das er nur anerkennen kann als ihm gegenüberstehende Realität, weniger wird, weil mit jedem Staunen ein Mythos entspringt, so müssen in einer geschlossenen Welt mit Notwendigkeit die Mythen weniger werden - nämlich genau dann, wenn sie zu purer Begrifflichkeit werden.


Und man merkt das auch bei jedem geschreibenen Satz, der einem alles abverlangt - nämlich nicht das Suchen nach geeigenten Begriffen (so wie ich lange Zeit dachte) ist es - sondern genau das Gegenteil, es ist die Suche nach etwas, was das real Verfügbare in eine mögliche Versprachlichung hineinzieht. Die Begriffe, die das Staunen selbst hervorbringt sind insofern deskriptive Neologismen. Und das waren sie wohl schon zu jeder Zeit.




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Fr 19. Feb 2021, 13:53

iselilja hat geschrieben :
Do 18. Feb 2021, 19:52

Und genau zwischen diesen beiden DIngen <Realität-Imagination> (man könnte in ähnlicher Bezugnahme auch von <Körper-Geist> sprechen) findet es sich etwas, das dazwischen vermitteln kann. Denn es betseht sowohl aus dem einen als auch aus dem anderen - das ist im weitesten Sinne eine Synousia des Mythos.
Ah, Du hast Dir den Vortrag von Robert Klein über Lacan und Plato angehört (und wie man im Realismus-Thread liest, auch verinnerlicht). ;)

Ja, es ist immer wieder erstaunlich, wie sich Spuren in der Geistesgeschichte zurückverfolgen lassen. Und mit einem Male kommt das Denken dann zurück - wie der Mörder an den Ort seiner Tat. :o Und dann sieht das Moderne auf einmal alt aus. Deswegen glaube ich ja, daß das "Studium der Alten", wie man das früher nannte, der ... oder vielleicht besser ein Schlüssel zum Verständnis des Gegenwärtigen ist. Im letzten Sommer gab es hier mal einen Thread, in dem es um die "unreine Zeit" ging und u.a. auch um den berühmten Bilderatlas von Aby Warburg: Mnemosyne. Warburg spricht im Hinblick auf Geschichte von "mnemischen Wellen", in denen das geschichtliche Leben verläuft; auch Blumenbergs "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte" war vor einiger Zeit ein Thema, ebenso Jacob Burckhardts "Grundakkord der überlebenden Dinge". - Mir scheint all das für ein Verständnis des "Realen" (Lacan), für ein Verständnis von "Wirklichkeit(en)" (Blumenberg) aufschlußreich, denn die "Realität" ist ja keineswegs die Summe von irgendetwas (Dinge, Tatsachen, Sachverhalte, Sinnfelder o.ä.), sondern ein geschichtlich Gewordenes, in das wiederum das Verständnis dessen, was als wirklich erscheint, eingegangen ist. -




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