transfinitum hat geschrieben : ↑ Mo 5. Apr 2021, 21:15
Ich denke auch, dass der Ausspruch „warum es die Welt nicht gibt“ überbewertet und auch irgendwie misslich interpretiert wird. Gabriel hatte m.E. nicht im Sinn die Existenz der Realität abzusprechen.
Ja natürlich, Gabriel behauptet nicht, dass es keine Existenz gibt. Was es nicht gibt ist allein eine Totalität namens Welt. Also "das Sinnfeld aller Sinnfelder, das Sinnfeld, in dem alle anderen Sinnfelder erscheinen."
transfinitum hat geschrieben : ↑ Mo 5. Apr 2021, 21:15
Aber hier würde ich Gabriels Theorie so verstehen, dass er ähnlich wie Kant mit Kategorien versucht, das Denken mithilfe Sinnfelder zu systematisieren und zu beschreiben.
Nach dem Buch "warum es die Welt nicht gibt", das populärwissenschaftliche verfasst war und sich an ein breites Publikum wendete, hat Gabriel, wenn man so sagen darf, noch mal ein Fachbuch zu dem Thema geschrieben, es heißt Sinn und Existenz. Dort gibt es eine Kapitelüberschrift mit dem sprechenden Namen: "Sinne als Eigenschaften der Dinge an sich". Sinnfelder sind also nicht generell als gedankliche Produkte oder Denkkategorien zu verstehen, es gibt sie gemäß Gabriel an sich selbst.
Das heißt nicht, dass die Sinnfelder nicht auch als Denkkategorie taugen. Doch wenn die Theorie richtig ist, dann eben eine Kategorie, die die Wirklichkeit so fast, wie sie in sich selbst ist.
transfinitum hat geschrieben : ↑ Mo 5. Apr 2021, 21:15
Im Vortrag, das im geschlossenen Thread gepostet wurde, kam auch zum Abschluss der Diskussion genau diese Problematik zum Ausspruch und Gabriel konnte darauf nicht so richtig mit dieser Frage/Kritik umgehen oder auch keine Antwort darauf geben.
Wenn du das noch etwas präzisiert, dann schaue ich mir die Stelle gerne an und gebe meinen Senf dazu.
transfinitum hat geschrieben : ↑ Mo 5. Apr 2021, 21:15
was genau verstehst du unter Tatsachen?
Ich bin zwar nicht mit "du" gemeint gewesen, aber dennoch: unter einer Tatsache verstehe ich etwas, was wahr ist. Nach Gabriel: "Etwas, das über etwas wahr ist." Ein Beispiel: es ist über Donald Trump wahr, dass er jetzt nicht mehr der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Oder: es ist über den Mond wahr, dass er sich um die Erde bewegt. Oder: es ist über das Märchen Hänsel und Gretel wahr, dass dort eine Hexe vorkommt. Oder: es kann über eine gegebene Schachstellung wahr sein, dass in ihr ein Matt in 17 Zügen möglich ist. Oder: es ist wahr, dass man Menschen in Not in aller Regel helfen sollte.
transfinitum hat geschrieben : ↑ Mo 5. Apr 2021, 21:15
Der Neue Realismus nimmt an, dass Gedanken über Tatsachen mit demselben Recht existieren wie die Tatsachen, über die wir nachdenken.
Der Link führt zu einem PDF, wo Zitatstellen aus "Warum es die Welt nicht gibt" zusammengestellt wurden, wenn ich recht sehe. Die zitierte Stelle ist meines Erachtens von besonderer Bedeutung. Ich bewege mich seit ein oder zwei Jahrzehnten in philosophischen Foren. Die Frage nach der bewusstseinsabhängigen Wirklichkeit war dabei immer eine der Entscheidenden. Wirklich wirklich war dann regelmäßig das, was unabhängig vom Bewusstsein existierte. Aber dann stellt sich gleich die Frage nach der Wirklichkeit des Bewusstseins selbst. Viele Dinge, die für uns von großer Bedeutung sind, geraten plötzlich in Verdacht, nicht wirklich zu existieren, weil sie in irgendeiner Form von unserem Bewusstsein abhängen. Das ist das, was Gabriel die "Welt ohne Zuschauer" nennt. Das Gegenstück dazu nennt er "Zuschauer ohne Welt" - damit sind radikal konstruktivistische Gedanken gemeint, denen gemäß wir keinen Zugang zu den Dingen an sich haben und mit unseren Konstruktionen Vorlieb nehmen müssen. Diese beiden Extreme lehnt Gabriel ab, weil es nicht einsichtig zu machen ist, warum die Dinge, die für uns selbst besonders wichtig sind, weniger Wirklichkeit haben sollen als - sagen wir - die Dinge, die die Naturwissenschaften erforschen. Und weil er zudem annimmt, dass wir die Dinge durchaus so erkennen können, wie sie an sich selbst sind.