Fragen zur Sinnfeld-Ontolgie

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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iselilja
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Do 8. Apr 2021, 05:41

Wenn Sinnfelder nicht privilegiert wären, wäre es ja auch völlig egal, wie Menschen handeln und womit sie dies oder jenes begründen. Diese ontologische Großzügigkeit, die Gabriel vroschlägt, ist sicherlich gut gemeint und nimmt definitiv auch Bezug auch aktuelle Probleme (wie bspw. eine Wissenschaftsgläubigkeit, von der geteilter Auffassung sein kann). Sie kann aber unmöglich sinnvoll erklären, wie die Welt funktioniert.

Wenn also die Welt so wäre, wie Gabriel meint, dann hätte sich das irgendwo auch in der Evolution des Menschen niedergeschlagen. Und dem scheint aber nicht so zu sein. Maslows Bedürfnispyramide kann diesen Umstand näher erläutern.




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Jörn Budesheim
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Do 8. Apr 2021, 06:51

transfinitum hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 20:47
So wie ich es nun verstanden habe, kann man sich die Welt-Problematik es so vorstellen, dass jedes Sinnfeld in einem anderen Sinnfeld erscheinen muss, um zu existieren. Aber dann kommt man niemals an ein Ende, also zum Sinnfeld der Welt. Es gleicht einem infiniten Regress in einer fraktalen Ontologie.
Alethos hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 01:11
Was weiter auffällt, ist, dass wir die Verschachtelung nicht als Babuschka-Prinzip beschreiben können
Markus Gabriel Sinn und Existenz hat geschrieben : ... Dies lässt sich auch anhand des Falls der vielen Hände illustrieren: Meine linke Hand ist sowohl eine Hand als auch eine Anordnung von Elementarteilchen. Sie ist ebenso eine Anordnung von Zellen oder ein Gegenstand mit einer bestimmten Bedeutsamkeit, und sie mag auch ein Kunstwerk werden, wenn ich etwa irgendwann von einem berühmten Tattoo-Künstler ein 3-D-Tattoo, das ​etwa meine linke Hand auf meiner linken Hand abbildet, erhalten sollte. In allen genannten Hinsichten erscheint meine Hand in verschiedenen Feldern. Die Suche nach der wahren oder wirklichen Hand hinter all diesen Händen wäre ein verfehltes metaphysisches Forschungsprojekt. Die Hand erscheint in vielen Sinnfeldern, von denen keines metaphysisch privilegiert ist, wenn es auch viele pragmatische Gründe dafür gibt, eine Hand vorzuziehen, die als intakter Körperteil an einem Organismus existiert. ...[von mir hervorgehoben]
"Babuschka-Prinzip" (Alethos) ich hatte witzigerweise genau dieselbe Metapher im Sinn wie Alethos, würde es aber nicht ganz so streng wie er formulieren. Bestimmt kann man sich Verschachtelungen manchmal auch als Babuschka-Prinzip vorstellen, nur nicht prinzipiell. Das Beispiel mit der Hand von Gabriel selbst, illustriert das ganz gut, wie ich finde. Es zeigt auch, dass bei Gabriel das "physikalische" keineswegs in irgendeiner Art und Weise außen vor ist, damit es Hände geben kann, ist es sogar notwendig. Notwendig ist aber nicht hinreichend, darauf hat Alethos weiter oben ja schon hingewiesen. Zwar können wir uns das physikalische Feld nicht wegdenken - bzw wenn wir es täten, verschwände damit auch die Hand, doch das zeigt nicht, dass das Physikalische bereits hinreichend ist, es zeigt nur, dass es in diesem Fall auch notwendig ist. Hände gehören zu Organismen, mit denen sie z.b. nach etwas greifen können, um bestimmte Ziele zu verfolgen. Aber Ziele und Intentionalität sind z.b. schon keine schieren physikalischen Begriffe mehr. Wenn die Hand, wie in dem Beispiel vorgeschlagen, darüber hinaus zum Beispiel Teil eines Kunstwerkes wird, dann eröffnet sich damit einem ganz anders gelagertes Feld, weil bei Kunstwerken z.b. die Fantasie des Betrachters ein konstitutiver Teil ist.
transfinitum hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 20:47
So wie ich es nun verstanden habe, kann man sich die Welt-Problematik es so vorstellen, dass jedes Sinnfeld in einem anderen Sinnfeld erscheinen muss, um zu existieren.
Das ist nach meinem Verständnis aber erst mal richtig.

Cool, dass ihr Grafiken zur SFO erstellt habt. Meine Schreibzeit für den Morgen ist jedoch schon abgelaufen ... Ich hoffe, dass ich irgendwann später darauf eingehen kann!




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Jörn Budesheim
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Do 8. Apr 2021, 16:06

Bild

Vielleicht noch mal ein Beispiel für einen Gegenstand in einem Sinnfeld, der natürlich zugleich seinerseits ein Sinnfeld ist. Ich nutze im Folgenden die Ausdrücke Sinnfeld, Bereich, Ordnung, Struktur synonym.

Weil alles ein Gegenstand in einem Sinnfeld ist, kann man auch alles als Beispiel nehmen. Nehmen wir also eine Computermaus, vielleicht diejenige, die ihr selbst gerade in der Hand haltet. So wie ich sie jetzt gerade in der Hand halte, ist sie ein Gegenstand in einem bestimmten Bereich, nämlich meinem Arbeitsbereich. Und sie ist natürlich selbst ein Bereich. In diesem (Arbeits-)Bereich tauchen bestimmte Dinge auf, die ihn zu der Ordnung/Struktur machen, die er ist: Eine Maus, eine Tastatur, Bildschirme, Rechner, Telefon, Taschenrechner, Schreibtisch, Bürostuhl, Telefon, ich selbst, diverse Kollegen, bestimmte Aufgaben etc. p.p. Der Bereich ist also nicht wie eine Dose, in die man Kekse tut, sondern das Ensemble dieser und vieler anderer Dinge, die zu dieser Struktur zählen und sie bilden. Bereich und Gegenstand sind dabei relationale Begriffe.

Jeder der Gegenstände in dieser Ordnung ist seinerseits ein Bereich. Bei der Maus - so würde ich mal vereinfacht sagen - sind das die Elemente, aus denen sie besteht, die sie funktionstüchtig machen. All das ist nicht mal lokal auf das beschränkt, was ich hier vor mir sehe, sondern mit vielen anderen Bereichen verwoben: dem Internet, dem Telefonnetz, der Wirtschaft u.v.m. Fast alle diese Dinge gehören zugleich (irgendwie) zur physikalischen Ordnung. Man kann sie daher zum Teil mit den Mitteln der Physik untersuchen. Dabei kommen bestimmte Eigenschaften in den Blick, aber andere zeigen sich nicht. Statt einem wütenden Telefongespräch zeigen sich dann zum Beispiel bloß Schallwellen, elektrische Entladungen unter der Schädeldecke und ähnliches, aber keine Beschwerden, Vorwürfe, Pläne und Rechtfertigungen.

In den meisten Fällen hängen die Bereiche auf viele (bestimmt nicht immer leicht zu durchschauende) Arten und Weisen zusammen. Ohne die Erfolge der Quantenphysik würde es die meisten Geräte, mit denen wir tagtäglich wie selbstverständlich hantieren, gar nicht geben: zum Beispiel Handys. Aber eben sowenig würde es diese geben, wenn es uns nicht als kommunikative Wesen geben würde. Die Strukturen sind also nicht fein säuberlich gegeneinander abgezirkelt, sind überlappen einander, sind verwoben etc.




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Jörn Budesheim
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Do 8. Apr 2021, 19:20

transfinitum hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 20:47
Nicht alle Bereiche, in denen etwas erscheint, sind Gegenstandsbereiche. Deshalb ist der allgemeinere Begriff der Begriff des Sinnfeld es. Sinnfelder können zwar als Gegenstandsbereiche im Sinne ab zählbaren Gegenstände oder im noch präziseren Sinne mathematisch beschreibbaren Mengen auftreten. Sie können aber ebenfalls aus schillernden Erscheinungen bestehen, was weder für Gegenstandsbereiche noch gar für Mengen gilt.
Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt hat geschrieben : Die moderne Logik hat den Begriff der Gegenstandsbereiche beinahe vollständig mit dem Begriff der Menge verschmolzen. Doch nicht alle Bereiche sind Mengen von abzählbaren und mathematisch beschreibbaren Gegenständen, für Kunstwerke oder komplexe Gefühle gilt dies etwa nicht. Nicht alle Bereiche, in denen etwas erscheint, sind Gegenstandsbereiche. Deshalb ist der allgemeinere Begriff der Begriff des Sinnfeldes. Sinnfelder können zwar als Gegenstandsbereiche im Sinne abzählbarer Gegenstände oder im noch präziseren Sinne mathematisch beschreibbarer Mengen auftreten. Sie können aber ebenfalls aus schillernden Erscheinungen bestehen, was weder für Gegenstandsbereiche noch gar für Mengen gilt.
Ich habe die Stelle mal aus dem Buch heraus kopiert, ich finde der ein klein wenig erweiterte Zusammenhang macht klar, worum es an dieser Stelle eigentlich geht.

Wichtig ist für Gabriel, dass seine Formel von den Sinnfeldern, in denen etwas erscheint, Platz hat für das, was er oben "schillernd" nennt, aber auch das Vage und das Ungefähre gehören nach meinem Verständnis dazu dazu, daher wählt er auch den Begriff des Erscheinens, der diese Möglichkeiten des Unscharfen zulässt. Mit dem Begriff Sinnfeld will er sich gegen Gegenstandsbereiche im oben erläuterten Sinn abgrenzen. Jedoch nutzt er den Begriff Bereich manchmal selbst, ganz einfach weil es der etablierte Begriff ist, wie er in einem anderen Vortrag auf Rückfrage erläutert hat. Man sollte dabei aber oben die Abgrenzung stets im Kopf haben. Nutzt er auch den Begriff Bereich, den Begriff der Menge nutzt er, soweit ich weiß, nie für das, was er mit dem Begriff Sinnfeld ausdrucken will. Mengen nennt er in dem Vortrag im Forschungszentrum caesar, schließlich auch einfach Haufen.
Markus Gabriel, Sinn und Existenz hat geschrieben : Die Grundthese der Bereichsontologie lautet, dass es Gegenstandsbereiche gibt [...] Was einen Bereich im Unterschied zu anderen Bereichen individuiert, sind die Anordnungsregeln, denen Gegenstände unterstehen, sofern sie ihm angehören. Ich nenne die Anordnungsregeln »Sinn« und die Relation, die zwischen einem Bereich und den in ihm vorkommenden Gegenständen besteht, »Erscheinung«. Gegenstände erscheinen in Sinnfeldern, das heißt in Bereichen, die durch verschiedene Sinne gegeneinander bestimmt sind.




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Jörn Budesheim
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Do 8. Apr 2021, 20:19

Zu der Rückfrage am Ende des Vortrags im Forschungszentrum caesar (https://youtu.be/nfa0unSBzuA bei 1:46) kann ich ehrlich gesagt nicht viel sagen.

Zunächst moniert der Zuhörer, dass Gabriel die Zuhörer mit dem Ausdruck Welt - sowie Gabriel ihn verwendet - in die Irre führt, weil er selbst unter dem Ausdruck Welt die Erde versteht. Nun ist es tatsächlich so, dass der Ausdruck Welt in vielen verschiedenen Versionen verwendet wird. Spricht man von der Welt der Musik, meint man etwas anderes, als wenn man von einem Weltrekord spricht. Allerdings hat Gabriel seine Verwendungsweise ja gleich zu Beginn des Vortrages erläutert uns ist eine für die Philosophie ganz übliche.

Dann macht er geltend, dass die Philosophie den Menschen helfen müsse, ihre Probleme zu lösen und dass er nicht erkennen könne, welche Problemlösungen Gabriel zu bieten hätte. Darauf ist die Antwort von Gabriel auch für meinen Geschmack etwas zu kurz und fast zu schroff. Da hätte er meines Erachtens durchaus etwas ausführlicher werden können, denn offenbar scheint die Menschen, das was er in dem Buch zu sagen hat, ziemlich zu interessieren, denn schließlich ist das Werk ein Bestseller geworden, was für philosophische Bücher eher ungewöhnlich ist.

Wie auch immer: mir ist beim Nachhören, nicht klar geworden was dir (transfinitum) an dieser Stelle wichtig ist.




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iselilja
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Fr 9. Apr 2021, 05:25

Zirkusgänger und Schausteller verlaufen sich immer wieder mal in die Philosophie. Das sollte man nicht überbewerten.

Scheinphilosophie kann kein Freund der Weisheit sein. Der (An-)Schein war noch nie Freund von irgendwas.

Es erscheint nur so, als würde Gabriel "die Welt" meinen. Es erscheint nur so, als würde Gabriel von "Existenz" sprechen. Es scheint nur so, als würde Gabriel philosophieren. Die Wahrheit ist, wie es sellbst betont, dass er von etwas völlig anderem redet. Zudem glaubt er, dass der Sinn in den Dingen selbst liegt, vermutlich weiß er garnicht, was ein menschliches Gehrin so alles leistet. :-) Das mag auch erklären, warum er das Gehirn als Sinnesorgan bezeichnet hat.


Tatsachen können aus unterschiedlicher Perspektive verschiedene Wahrheiten bedeuten. Sie können auch aus unterschiedlicher Perspektive viele Irrtümer erzeugen. Aufgabe der Philosophie ist es u.a., das eine von dem anderen trennbar zu machen, damit der Mensch es nicht vermischt. Gabriel sieht seine Aufgabe darin, es zu vermischen. Genau das zeichnet auch Schausteller aus.




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NaWennDuMeinst
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Sa 10. Apr 2021, 03:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 06:51
Bestimmt kann man sich Verschachtelungen manchmal auch als Babuschka-Prinzip vorstellen, nur nicht prinzipiell.
Es heißt "Matrjoschka".
Babuschka heißt einfach nur "Großmutter" und hat mit den Matrjoschka-Puppen gar nichts zu tun.
Ein ziemlich verbreiteter Irrtum.



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Tread softly because you tread on my dreams.
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iselilja
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Sa 10. Apr 2021, 07:36

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 03:29

Es heißt "Matrjoschka".
Babuschka heißt einfach nur "Großmutter" und hat mit den Matrjoschka-Puppen gar nichts zu tun.
Ein ziemlich verbreiteter Irrtum.
Irrtümer trifft man immer wieder an. Die kann man auch leicht auflösen i.d.R. Schweiriger ist es, Glaubensbekenntnisse mit Fakten zu zerstreuen, denn Gläubige haben zumeist eine ausgeprägte Ignoranz gegenüber Fakten entwickelt und interpretieren diese am Ende ausschließlich ihrem Glauben gemäß.

So glaubt Gabriel bspw. dass er mit einem mengentheoretischen Ansatz zeigen kann, dass es die Welt nicht gibt, gleichzeitig aber selben mengentheoretischen Ansatz gern unmathematisch verstanden wissen möchte, wenn seine geglaubten Vorstellungen dazu ermutigen. Denn selbstverständlich muss es nach selbigem Ansatz dazu führen, dass es große Mengen (Bereiche) gibt, die andere Bereiche implizieren. Dass der Mensch letztendlich immer nur einen ihm möglichen größten Bereich auch kognitiv erfassen kann, spricht eher für den Menschen als für die Mathematik.

Und so ist auch zumindest auf dem Feld der Physik der Begriff des Universums ein folgerichtiger Begriff, dem eine vage Assozistion anhängt. Denn auch Physiker können die Frage nach der Endlichkeit des Univerums nicht evident sondern nur theoretisch beantworten. Ebenso ist es mit der Welt, in der nicht nur Physik eine Rolle spielt.




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iselilja
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Sa 10. Apr 2021, 07:47

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man Hunger verspürt oder ob man über Hunger (bspw. phänomenologisch oder ethisch oder wie auch immer) nachdenkt. Die Reflexion einer Tatsache ist nicht die Tatsache selbst. Tatsachen erscheinen nämlich als Tatsache völlig unanhängig von irgendwelchen posthum angelegten Sinnfeldern. Anderenfalls sind es nämlich garkeine. :-)


Dies ist eine logische Notwendigkeit, dass es objektive Tatsachen geben muss, sofern man darüber überhaupt sprechen will. Denn sonst spricht man über Auffassungen, Meinungen, Vorstellungen etc.




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iselilja
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Sa 10. Apr 2021, 08:18

Wenn also der Sinn in den Dingen selbst als Eigenschaft oder zwischen den Dingen als Struktur läge, dann wäre Sinnsuche ja unnötig. Jeder objektive Sinn wäre instant gegeben durch das bloße (ästhetische) Wahrnehmen von Situationen bspw. Mit anderen Worten: unser Gehirn hätte überhaupt nichts zu tun. Denn Synästhesie würde es dann garnicht geben.




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iselilja
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Sa 10. Apr 2021, 09:03

Ich glaube am besten versteht man den Unterschied zwischen Tatsachen als solchen und Sinnfeldern als Reflektiva, wenn man sich die Bewältigung von Aktualitäten anschaut.

Themen, die bereits eine empirische Grundlage (bspw. als verschriftlichte Tradierung) mit sich bringen, lassen sich argumentativ auch ganz anders strukturieren. In der Aktualität liegt aber noch garkeine Empirie vor, so dass - nehmen wir bspw. Corona als aktuelles Ereignis - es zu einer immensen Vielzahl unterschiedlicher Sinnfelder kommen kann, die für den einen mehr, für den anderen weniger Sinn machen. Das Faktum selbst erzählt uns nichts über den Sinn, den wir als bewußtes Individuum erst für uns erschließen müssen. Immer abhängig davon, was passiert.

Mit anderen Worten: Das Gehrin hat mit der Bewertung der Aktualität richtig viel zu tun.




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Jörn Budesheim
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iselilja hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 09:03
Ich glaube am besten versteht man den Unterschied zwischen Tatsachen als solchen und Sinnfeldern als Reflektiva, wenn man sich die Bewältigung von Aktualitäten anschaut.
Ich will kurz die Bedeutung der Begriffe Tatsache, Gegenstand und Sinnfeld skizzieren, so wie ich sie verstehe und so wie sie Gabriel nach meiner Einschätzung verwendet.

Nehmen wir ein Beispiel: einen Stein. Ein Stein ist keine Tatsache sondern ein Gegenstand, genau genommen ein dreidimensionales Ding. Gegenstände kommen jedoch immer in Tatsachen vor: es ist eine Tatsache, dass links von mir auf dem Tisch ein Stein liegt. Eine Tatsache ist immer eine Wahrheit. Ein Stein ist jedoch keine Wahrheit, aber es kann etwas über diesen Stein wahr sein: Z.b., das es ihn in meinem Zimmer gibt, genauer: dass er auf dem Tisch liegt, dass er grau ist, dass er kaum größer als meine Hand ist und einiges mehr.

Manchmal werden Tatsachen in der Form xF notiert. Wobei x für den Gegenstand steht und F für das, was über ihn wahr ist.

Sinnfelder sind Bereiche, in denen bestimmte Gegenstände erscheinen (können), sodass damit bestimmte Arten von Tatsachen möglich sind. Ein Beispiel: die 5 erscheint im Bereich der natürlichen Zahlen. Es ist eine Tatsache, dass die 5 größer ist als die 1. Die 5 selbst ist allerdings keine Tatsache, sondern ein Gegenstand, nämlich die Art von Gegenstand, die im Bereich der natürlichen Zahlen vorkommt. Im Bereich der natürlichen Zahl sind bestimmte Tatsachen möglich andere jedoch nicht. Möglich ist z.b., dass eine Zahl gerade ist, dass sie eine Primzahl ist, dass sie mehrere Stellen hat etc. Unmöglich jedoch ist (wörtlich genommen), dass die Zahlen gegeneinander Krieg führen, ihre Plätze tauschen oder verdunsten.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Schach, Alethos hat er ja weiter oben von dem Turm gesprochen. Schach ist ein Bereich. Im Schachspiel kommen ganz spezifischen Gegenstände vor: Bauern, Läufer, Springer, Türme, Damen und Könige. Aber auch Felder, Linien, Reihen, Diagonalen, kurze Rochade, Matt-Angriffe und dergleichen mehr. Und in diesem Bereich sind ganz bestimmte Tatsachen möglich: z.b., dass ein Matt in 7 Zügen droht. (Btw.: Tatsachen lassen sich im übrigen in der Regel sehr schön in dass-Sätzen ausdrücken.) Es ist z.b. eine Tatsache, dass die Dame in den meisten Konstellationen mehr wert ist als ein Springer. Es ist eine Tatsache, dass man nicht mehr rochieren darf, sobald man mit dem König bereits gezogen hat. Manche Tatsachen sind in diesen Sinnfeld z.b. nicht möglich: es ist nicht möglich, dass die Bauern sich einen neuen König wählen. Natürlich können zwei Spieler das vereinbaren, aber dann spielen sie kein Schach mehr nach den aktuellen Regeln.




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NaWennDuMeinst
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Sa 10. Apr 2021, 12:05

1. Es ist eine Tatsache, dass der Läufer immer diagonal zieht.
2. Es ist eine Tatsache, dass zum Anheben einer Masse Kraft aufgewendet werden muss.

Siehst Du in den beiden Sätzen irgendeinen Unterschied bei den Tatsachen? Sind die beide gleich zwingend?
Wo kommen die Tatsachen jeweils her, worauf beruhen sie?



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Jörn Budesheim
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Sa 10. Apr 2021, 12:21

Die SFO ist ja wie gemacht, um solche Unterschiede zu erfassen. Die Ordnung der Naturgesetze ist eine andere als die Ordnung des Schachspiels. Zwar tauchen in beiden Bereichen z.b. Ausdrücke Kraft auf, jedoch meinen sie entsprechend der Struktur des Bereiches ganz verschiedenes. Ein Beispiel hast du ja selbst gebracht und im Schach spricht man manchmal z.b. von der Kraft des Läufer-Paares, gemeint ist pi mal Daumen ihre große Wirksamkeit.




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Sa 10. Apr 2021, 12:25

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 12:05
Wo kommen die Tatsachen jeweils her, worauf beruhen sie?
Darauf gibt es gemäß der SFO keine generelle Antwort. Ich weiß auch nicht, ob man weiß, wie die Naturkräfte entstanden sind. Schach ist entstanden aus einer relativ langen Geschichte, in der sich die Regeln z.b. auch immer wieder leicht modifiziert haben.

Du willst darauf hinaus, dass diese Bereiche sich unterscheiden und hältst das für einen Einwand gegen die Theorie (oder?), aber es ist ja genau das, was die Theorie selbst besagt.




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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 12:05
Sind die beide gleich zwingend?
Nun, das lässt sich meines Erachtens nicht gut vergleichen. (Es sind schließlich zwei ziemlich verschiedene Bereiche.) Insbesondere weil Naturgesetze diesen "normativen" Aspekt, der bei Schachregeln entscheidend ist, nicht kennen.

Vielleicht so: In der Schwerelosigkeit muss man zum Anheben der Masse keine Kraft aufheben. Es gibt also Ausnahmen. Beim Schach gibt es für die Gangart der Läufer jedoch keine Ausnahme.




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Alethos
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Sa 10. Apr 2021, 15:38

Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass wir den Naturgesetzen einen zwingenderen Charakter zuschreiben als bspw. Schachregeln. Naturgesetze gelten (warum auch immer), auch ohne unser Zutun und insbesondere auch dann, wenn wir nicht wollen, dass sie gelten. Wir haben keine nominative Macht über sie: Wir können nicht sagen: „Schwerkraft, wirke nun anders, weil die Mehrheit der Menschen es so abmacht.“ Naturgesetze sind zwingendere in diesem Fall, weil sie sich uns aufzwingen, wir ihnen unterworfen sind.

Aber sie wirken doch auch nur auf diese Dinge, die ihnen unterworfen sind und nicht auf jeden Aspekt des Realen, darum können sie auch nicht das Kriterium sein für schlechthin alles Reale. Das Reale zu reduzieren auf eine bestimmte Art von Dingen, halte ich für eine unnötige und widersprüchliche Engführung des Existenzbegriffs. Unnnötig, weil es keine Not gibt, es zu tun. Widersprüchlich, weil die Erfahrung uns genug Evidenz gibt für die Unterschiedlichkeit der Dinge.

Eine Ontologie darf nicht, wenn sie denn eine Lehre des allgemeinen Seins sein will, gewisse Dinge aussen vor lassen. Sie muss auch Gegenstände des Bewusstseins, der Phantasie, der normativen Sphäre usw. ebenso unter dem Aspekt, dass sie Seiende sind, in Betracht ziehen. Dann aber, wenn sie das tut, und alle Gegenstände im Auge hat, kann sie unmöglich die einen Dinge zu den Realen und die anderen zu den Nichtrealen zählen, weil es unmöglich einen Gegenstand geben kann, der keine Realität hat. Insofern nämlich ein Gegenstand Gegenstand ist, ist es ja Gegenstand (des Denkens, des Bewusstseins, der Physik etc), und dieses Gegenstandsein impliziert seine Wirklichkeit, weil er ja Gegenstand ist (und nicht nicht ist). Er hat also eine Wirklichkeit, seine Wirklichkeit, und sie muss zwingend zur Realität gehören, wenn Realität alles ist, was der Fall ist.

Wenn aber Realität nicht alles sein soll, was der Fall ist, dann hat Realität nicht mehr viel mit Objektivität zu tun, sondern mit dem Gutdünken jener, die sagen, was real sei. Der Realist bevorzugt, die Dinge sprechen und Zeugnis von ihrem der Fallsein geben zu lassen, weil das das objektivste Verfahren ist. Gewiss ist es objektiver, als wenn Menschen bestimmen, was nach ihren Präferenzen und Relevanzabwägungen als real zu gelten habe. Das ist der Unterschied zwischen Realisten und Nominalisten, den wir betonen müssen, ohne dabei zu behaupten, dass die einen richtiger liegen als die anderen.



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Sa 10. Apr 2021, 16:32

Alethos hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 15:38
Wir können nicht sagen: „Schwerkraft, wirke nun anders, weil die Mehrheit der Menschen es so abmacht.“
Wir können ebenso wenig sagen, 7 plus 5 sei nun 17, weil die Mehrheit der Menschheit es so abmacht. Wir können auch nicht sagen, in Hänsel und Gretel sind 753 Hexen aufgetreten, weil die Mehrheit der Menschen es so abmacht. Was wahr ist, gilt in aller Regel schließlich ganz unabhängig davon, was die Mehrheit der Menschen abmacht.




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Sa 10. Apr 2021, 17:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 16:32
Alethos hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 15:38
Wir können nicht sagen: „Schwerkraft, wirke nun anders, weil die Mehrheit der Menschen es so abmacht.“
Wir können ebenso wenig sagen, 7 plus 5 sei nun 17, weil die Mehrheit der Menschheit es so abmacht.
7+5 ist 12, weil das nach den Regeln der Addition nunmal so ist.
Die Frage ist, wo kommen diese Regeln her?
Wir können auch nicht sagen, in Hänsel und Gretel sind 753 Hexen aufgetreten, weil die Mehrheit der Menschen es so abmacht.
Warum nicht? Warum können wir nicht Hänsel und Gretel umschreiben und ab morgen treten dort 753 Hexen auf? Welchen zwingenden Grund gibt es dafür dass das nicht geht?
Wir schreiben ja auch Märchen genderkonform um. Einfach weil wir das so wollen.
Was wahr ist, gilt in aller Regel schließlich ganz unabhängig davon, was die Mehrheit der Menschen abmacht.
Nö. Viele Wahrheiten sind ganz und gar davon abhängig ob wir sie dazu erklären.
Genau darum geht es mir ja. Um den Unterschied zwischen dem was die Welt vorgibt (und da auch nicht mit sich verhandeln lässt) und dem was geändert werden kann.
Ich finde diese Unterschiede bei den Tatsachen gibt es. Es gibt eben unterschiedliche Typen von Tatsachen.
Solche die wir ignorieren (bzw ändern) können und solche bei denen das nicht geht.



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Jörn Budesheim
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Sa 10. Apr 2021, 17:23

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 10. Apr 2021, 17:15
Genau darum geht es mir ja. Um den Unterschied zwischen dem was die Welt vorgibt (und da auch nicht mit sich verhandeln lässt) und dem was geändert werden kann.
Aber warum? Sollen Dinge, die wir ändern können, weniger real sein als andere? Wie lautet dein Argument dafür?




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