Das Wesen der Dinge

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Friederike
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Do 6. Mai 2021, 16:36

Ich würde gerne wissen, wie Ihr die beiden Beispiele, das Erkennen der Menschen und des Wachses, versteht:
Descartes, 2. Med." hat geschrieben : [...]Wir sagen nämlich: » Wir sehen das Wachs selbst«, wenn es da ist, und nicht: »Wir urteilen aufgrund der Farbe oder der Gestalt, daß es da ist«. Daraus wäre sogleich zu schließen, das Wachs werde also durch das Anblicken mit den Augen, nicht durch den Einblick des Geistes allein erkannt - wenn ich nicht zufällig gerade aus dem Fenster geblickt und Menschen die Straße hätte überqueren sehen, von denen ich nicht weniger als beim Wachs zu sagen gewohnt bin, daß ich sie sehe. Was aber sehe ich außer Hüten und Mänteln, unter denen sich Automaten verstecken könnten? Ich urteile aber, daß es Menschen sind. Und so verstehe ich das, von dem ich meinte, es mit den Augen zu sehen, allein aufgrund des Urteilsvermögens, das in meinem Geist ist.
Es kommt mir nicht auf die Unterscheidung der Erkenntnis"organe" an, sondern die Art und Weise, wie der Verstand erkennt. Ich verstehe Desc. nämlich so, daß wir Dinge unmittelbar (und untrüglich) identifizieren, ohne daß wir zuerst bestimmte Merkmale herausfinden müßten und daraus dann ableiten, welches Ding es ist. Man könnte es vielleicht "ganzheitliche" Identifizierung nennen. Dieses unmittelbare Erkennen könnte eine Erklärung dafür sein, warum es beispielsweise schwierig ist, das herausragende Merkmal oder die Eigenschaft, die einen Tisch zum "Tisch" macht, zu beschreiben. Und es würde auch erklären, warum wir innerhalb bestimmter Grenzen einen Tisch als "Tisch" erkennen, obwohl er die typischen Merkmale schon fast nicht mehr aufweist.




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Jovis
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Do 6. Mai 2021, 18:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 10:43
transfinitum, zitierend hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 06:55
Da alle Dinge nur relativ existieren, können sie keine Wesenhaftigkeit besitzen, sie sind „leer“ von Eigennatur.
Das leuchtet mir nicht ein. Ich meine, es ist genau umgekehrt: Dinge existieren nur in Beziehungen*, aus denen sich ihre Wesenhaftigkeit jedoch ergibt. Nehmen wir einen Springer beim Schach. Er wäre nicht, was er ist ohne die 64 Felder, den Läufer, den Turm, die Dame, den König und die Bauern. Aber in genau diesem Set hat er sein Wesen. Sein Wesen besteht darin innerhalb dieser Ordnung die Stelle "Springer" einzunehmen. Springer sind auch nicht „leer“ von Eigennatur, weil sie ihrerseits der "Ort" von vielfältigen Beziehungen sein können. Der Springer, wenn er zum Beispiel aus Holz ist, ist der Ort für dieses biologische materielle Geflecht, in dem vielleicht auch Holzwürmer ihren Platz finden.

*Ich würde den Ausdruck "relativ" gerne vermeiden, um Anklänge an Formen von Relativismus fernzuhalten. Stattdessen finde ich den Ausdruck "Relation" besser oder eben "Beziehungen".
Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, ob man die "Wesenhaftigkeit" dem Ding zuschreibt oder ob man sie als Funktion der jeweiligen Beziehung versteht. Im ersteren Fall hätte sie einen festen "Ort", wie du es nennst, im zweiten Fall würde sie nur aufscheinen, solange die jeweilige Beziehung besteht, und mit dem Ende der Beziehung sich auch wieder auflösen. Der Springer ist nur Springer innerhalb des Schachspiels. Wenn mir beim Mensch ärgere dich nicht eine Figur fehlt, kann ich den Springer aus der Spieleschachtel nehmen und ihn als Ersatz benutzen. Dann hätte er eine völlig andere Funktion.




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Jörn Budesheim
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Do 6. Mai 2021, 19:09

Jovis hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 18:52
Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, ob man die "Wesenhaftigkeit" dem Ding zuschreibt oder ob man sie als Funktion der jeweiligen Beziehung versteht.
Ich wähle die dritte Option :) das Ding ist das Ding nur in der jeweiligen Beziehung.




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Alethos
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Do 6. Mai 2021, 19:35

Ist das wirklich eine dritte Option oder die zweite von Jovis? Wenn das Ding sein Wesen erhält in der relationalen Funktion, dann ist doch ein Ding dieses Ding nur in dieser Beziehung, weil es eben wesentlich bestimmt wird durch seine tatsächliche Verortung im Gesamtsystem der Tatsachen, in welchem er erscheint. Sein Wesen als dieses Ding bestimmt sich in der Beziehung, weshalb er Ding nur in der „als“-Form ist (als Ding im Zusammenhang des Schachbretts und der Schachregeln ist es Schachfigur. Als Ding in den Händen eines Kinds ist es Spielzeug. Als Ding, das von Holzwürmern gefressen wird, ist es Futter usw.)



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Jörn Budesheim
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Do 6. Mai 2021, 20:10

Alethos hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 19:35
Ist das wirklich eine dritte Option oder die zweite von Jovis?
Jovis hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 18:52
Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, ob man die "Wesenhaftigkeit" dem Ding zuschreibt oder ob man sie als Funktion der jeweiligen Beziehung versteht.
Ich verstehe Jovis hier so: wir haben auf der einen Seite Dinge oder auf der anderen Seite Beziehungen.

Ich bezweifle das "oder".

Es gibt die Dinge nicht, wenn es die Relationen nicht gibt und es gibt die Relationen nicht, wenn es die Dinge nicht gibt. Das ist eine unauflösbare Relationalität. Meine Option ist daher: der Springer ist das Ding, was er ist, in dieser Ordnung, dem Beziehungsgeflecht. Und das war mein Einwand gegen das Folgende: "Da alle Dinge nur relativ existieren, können sie keine Wesenhaftigkeit besitzen, sie sind „leer“ von Eigennatur." Und ich sage, im Gegenteil: sie besitzen eine Wesenheit, weil sie in Relation existieren.

Jetzt kann Jovis ja erläutern, ob ich sie richtig verstehe :)




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Jovis
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Fr 7. Mai 2021, 08:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 20:10
Alethos hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 19:35
Ist das wirklich eine dritte Option oder die zweite von Jovis?
Jovis hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 18:52
Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, ob man die "Wesenhaftigkeit" dem Ding zuschreibt oder ob man sie als Funktion der jeweiligen Beziehung versteht.
Ich verstehe Jovis hier so: wir haben auf der einen Seite Dinge oder auf der anderen Seite Beziehungen.

Ich bezweifle das "oder".

Es gibt die Dinge nicht, wenn es die Relationen nicht gibt und es gibt die Relationen nicht, wenn es die Dinge nicht gibt. Das ist eine unauflösbare Relationalität. Meine Option ist daher: der Springer ist das Ding, was er ist, in dieser Ordnung, dem Beziehungsgeflecht. Und das war mein Einwand gegen das Folgende: "Da alle Dinge nur relativ existieren, können sie keine Wesenhaftigkeit besitzen, sie sind „leer“ von Eigennatur." Und ich sage, im Gegenteil: sie besitzen eine Wesenheit, weil sie in Relation existieren.

Jetzt kann Jovis ja erläutern, ob ich sie richtig verstehe :)
Ja, du hast mich richtig verstanden, ich hatte "oder" gemeint. Ich bin mir allerdings noch nicht im Klaren darüber, wie ich selbst dazu stehe. Das war also kein Statement, sondern nur der Versuch des gedanklichen Aufdröselns.

Gerade beim Springerbeispiel kann ich deine dritte Option nicht nachvollziehen. Der Gegenstand selbst, als physisches Ding, ist doch in diesem Zusammenhang völlig beliebig. Es gibt stilisierte Schachfiguren, da erkennt man ja nicht einmal mehr, welche Figur welche Funktion übernehmen soll, wenn man sie nicht auf dem Schachbrett anordnet. Oder diese Geschichten von Gefangenen, die sich Schachfiguren aus Brotkügelchen formen. Jeder beliebige Gegenstand, wenn er größenmäßig einigermaßen passt, könnte als Springer dienen. Das Wesen des Springers liegt einzig in seiner Funktion, in den Spielregeln. Solange er am Spiel teilnimmt, "hat" er die Wesenheit des Springers. Nimmt man ihn aus dem Spiel heraus, ist er wieder "leer".

Beim Menschen dagegen sehe ich das anders, zumindest wenn ich einen Menschen in seiner Besonderheit nehme. Viele seiner wesentlichen Eigenschaften sind zwar in unzähligen Relationen entstanden, gehören aber auch außerhalb dieser Relationen zu ihm, machen ihn in seiner Geschichtlichkeit aus.

(Ich habe momentan wenig Zeit, werde also nur sporadisch antworten können.)




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infinitum
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 5. Mai 2021, 19:57
transfinitum, Descartes zitirend hat geschrieben :
Mi 5. Mai 2021, 13:16
Was aber sehe ich außer Hüten und Mänteln, unter denen sich Automaten verstecken könnten?
Aber ist es nicht so, dass Rene Descartes hier mehr über sich selbst und seine mögliche oder unmögliche Erkenntnis der Dinge spricht als über die Dinge selbst und ihr Wesen?
ja, natürlich! Er spricht erstmal sehr viel über "seinen" Erkenntnisvorgang und seine Überlegungen, die er beim Wahrnehmen hat. Er bleibt aber nicht dabei, aus seiner erlangten subjektiven Sicht versucht er aber dann in einem weiteren Zitat diese Erkenntisse auf das Andere/Objekt anzuwenden:
Es mag nämlich sein, dass das, was ich sehe, nicht wirklich Wachs ist, es mag auch sein Es mag nämlich sein, daß ich nicht einmal Augen habe, durch die mir rgendetwas erscheint; aber es kann schlicht überhaupt nicht sein, daß, wenn ich sehe, bzw. (was ich jetzt nicht unterscheide) wenn ich denke, daß ich sehe, ich selbst, der Denkende, nicht irgendetwas bin. Aus einer vergleichbaren Überlegung heraus ergibt sich wiederum dasselbe. Denn wenn ich aufgrund dessen, daß ich es berühre, urteile, daß es Wachs ist, ergibt sich ebenso, daß ich bin; und genau dasselbe daraus, daß ich es vorstelle, oder aus irgendeiner anderen Ursache. Dasselbe, was ich in bezug auf das Wachs bemerke, kann aber auch auf alles andere angewendet werden, das außerhalb von mir vorhanden ist.



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infinitum
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Fr 7. Mai 2021, 11:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 10:43
transfinitum, zitierend hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 06:55
Da alle Dinge nur relativ existieren, können sie keine Wesenhaftigkeit besitzen, sie sind „leer“ von Eigennatur.
Das leuchtet mir nicht ein. Ich meine, es ist genau umgekehrt: Dinge existieren nur in Beziehungen*, aus denen sich ihre Wesenhaftigkeit jedoch ergibt. Nehmen wir einen Springer beim Schach. Er wäre nicht, was er ist ohne die 64 Felder, den Läufer, den Turm, die Dame, den König und die Bauern. Aber in genau diesem Set hat er sein Wesen. Sein Wesen besteht darin innerhalb dieser Ordnung die Stelle "Springer" einzunehmen. Springer sind auch nicht „leer“ von Eigennatur, weil sie ihrerseits der "Ort" von vielfältigen Beziehungen sein können. Der Springer, wenn er zum Beispiel aus Holz ist, ist der Ort für dieses biologische materielle Geflecht, in dem vielleicht auch Holzwürmer ihren Platz finden.

*Ich würde den Ausdruck "relativ" gerne vermeiden, um Anklänge an Formen von Relativismus fernzuhalten. Stattdessen finde ich den Ausdruck "Relation" besser oder eben "Beziehungen".
Das Zitat, welches Du hervorgehoben hast, drückt den Zustand des Wesens m. E. aus einer radikal buddhistischen Sichtweise aus, welcher dem Nirvana gleicht. Ich verstehe das so, dass aus dieser Leerheit jede mögliche Form angenommen werden kann, die Form ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext. Ein weiterer Vergleich wäre das Wasser- es ist variabel und nicht fassbar und kann jede Form annehmen. (hier gibt es bei Interesse ein Zitat von Bruce Lee)
Wenn man nun das Beispiel des Springers betrachtet, dann wird das aber schon schwer diese radikale Sichtweise anzuwenden. Denn ein Springer hat auf jeden Fall seine äußere Form und seine Rolle im System "Schachspiel", woraus sich seine Funktion ergibt. Die Rolle der Relation würde ich so einordnen, dass sich das Wesen durch das "Inmittensein" der Relation definiert. Und der buddhistische Ansatz wäre dann ein Wesen, welches keine Relationen aufweist.
Mir stellt sich aber nun immer noch die Frage: kann man das Wesen der Dinge unabhängig von einer Relation betrachten oder muss diese zwingend gegeben sein?



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infinitum
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Fr 7. Mai 2021, 11:49

Friederike hat geschrieben :
Do 6. Mai 2021, 16:36
Ich würde gerne wissen, wie Ihr die beiden Beispiele, das Erkennen der Menschen und des Wachses, versteht:

Es kommt mir nicht auf die Unterscheidung der Erkenntnis"organe" an, sondern die Art und Weise, wie der Verstand erkennt. Ich verstehe Desc. nämlich so, daß wir Dinge unmittelbar (und untrüglich) identifizieren, ohne daß wir zuerst bestimmte Merkmale herausfinden müßten und daraus dann ableiten, welches Ding es ist. Man könnte es vielleicht "ganzheitliche" Identifizierung nennen. Dieses unmittelbare Erkennen könnte eine Erklärung dafür sein, warum es beispielsweise schwierig ist, das herausragende Merkmal oder die Eigenschaft, die einen Tisch zum "Tisch" macht, zu beschreiben. Und es würde auch erklären, warum wir innerhalb bestimmter Grenzen einen Tisch als "Tisch" erkennen, obwohl er die typischen Merkmale schon fast nicht mehr aufweist.
ich denke auch, dass D. dies durch seinen Erkennensvorgang beabsichtigt, damit er sich ein Urteil über das, was außerhalb von ihm stattfindet, abgeben kann. Hier bezieht er sich auf den Geist und, dass der Tisch auch unabhängig von der Wahrnehmung existiert, wenn er existiert. Das ist aber irgendwie schwierig, denn wenn kein Sinneseindruck zur Verfügung steht, dann ist es wirklich schwer den Tisch zu erkennen. Aber ich glaube, ich bin jetzt selbst verwirrt gerade.. :oops:



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AndreaH
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Sa 8. Mai 2021, 05:55

Ich hätte es so gesehen,
Descartes wollte damit dastellen, dass es nicht nur die Sinne sind, die das Wesen erkennen lassen, sondern immer eine Gesamtheit der Erfahrung in Verbindung mit dem Geist.
Jeder einzelne Sinn nimmt augenblicklich etwas wahr, dieser einzelne Sinn kann aber auch einer Täuschung unterliegen, da es ja nur eine Momentaufnahme der jeweiligen Situation ist.
Wie kommt man aber zur Erkenntnis, dass sich unter den Mänteln keine Automaten befinden?
Durch die unzähligen Erfahrungen die wir gemacht haben. Auch Enttäuschungen gehören meiner Meinung zu einer Erfahrbarkeit. Die Erfahrbarkeit schöpft immer aus einer Gesamtheit.
Mit dem Wesen der Dinge, wäre dies sehr stimmig und passend.
Wenn wir das Wesen von etwas wahrnehmen, dann erschließt sich das bei jedem sehr individuell und aus einer großen Gesamtheit heraus. Jeder hat sehr unterschiedliche  Erfahrungen und Wahrnehmungen gemacht. Es sind jedoch sehr viele Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen von Menschen gleich. Diese konformen Übereinstimmungen geben uns die Möglichkeit die wesentlichen Eigenschaften hervorzuheben.
Die wesentlichen Eigenschaften lassen uns dann das Wesen der Dinge erkennen.




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Jörn Budesheim
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Sa 8. Mai 2021, 11:15

Jovis hat geschrieben :
Fr 7. Mai 2021, 08:45
Gerade beim Springerbeispiel kann ich deine dritte Option nicht nachvollziehen. Der Gegenstand selbst, als physisches Ding, ist doch in diesem Zusammenhang völlig beliebig
Vorneweg: Ich für meinen Teil glaube nicht, dass das physische Ding der Gegenstand selbst ist. Aber ich habe eine andere Frage: fügen wir gerne den Brotkrumen-Springer in die fragliche Situation ein - wieso folgt daraus, dass ich stattdessen auch einen Metall-Springer einsetzen könnte, dass der Brotkrumen-Springer nicht genauso in die Situation eingebettet ist, wie ich es beschrieben habe?




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Alethos
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Sa 8. Mai 2021, 12:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 11:15
Jovis hat geschrieben :
Fr 7. Mai 2021, 08:45
Gerade beim Springerbeispiel kann ich deine dritte Option nicht nachvollziehen. Der Gegenstand selbst, als physisches Ding, ist doch in diesem Zusammenhang völlig beliebig
Vorneweg: Ich für meinen Teil glaube nicht, dass das physische Ding der Gegenstand selbst ist. Aber ich habe eine andere Frage: fügen wir gerne den Brotkrumen-Springer in die fragliche Situation ein - wieso folgt daraus, dass ich stattdessen auch einen Metall-Springer einsetzen könnte, dass der Brotkrumen-Springer nicht genauso in die Situation eingebettet ist, wie ich es beschrieben habe?
Das folgt daraus ja nicht.

Der Brotkrumen-Springer ist in die Situation eingebettet. Brotkrumen ist es wegen des Brots, aus dem er besteht, Springer aber nur wegen des Schachspiels.

Es ist also nicht vordringlicher, dass dieser Gegenstand dort Brotgegenstand oder Springergegenstand sei. Springer-Gegenstand ist er wesentlich wegen der Verwendung als solchen im Zusammenhang eines Schachspiels. Brotkrume ist er wesentlich im Zusammenhang des Brotseins. Aber in diesem konkreten Zusammenhang, dass er Brotkrumen-Springer ist, überlagern sich ja beide Wesentlichkeiten (des Schachfiguren- und Brotkrumengegenstands) zu einem Wesen, das sich nicht mehr auflösen lässt so, dass gesagt werden könnte, wesentlich bestimme sich Gegenstand g durch Eigenschaften G. Er ist ja nicht wesentlicher Schachfigur oder wesentlicher Brotkrume, sondern dieser dort so und so verwendete, in diesen und diesen Zusammenhängen vorkommende Gegenstand.
Der Schachgegenstand (als solcher Gegenstand des Schachspiels) ist kein materieller, denn nichts am Schachgegenstandsein ist materiell, obwohl das Schachfigurendasein natürlich auch überlagert mit einem Materieding als Holz- oder Plastikfigur existieren kann (und praktischerweise auch sollte).

Wenn wir behaupten wollten, dass ein Gegenstand g wesentlich bestünde aus Eigenschaften G, würden die vielfältigen Zusammenhänge unterschlagen, in denen der Gegenstand g vorkommen kann. Durch diese setzt er sich zusammen zu einem vielfältigen Ding: zu einer Schachfigur, die gleichzeitig Materie-Ding ist, die sich sowohl ergibt aus dem Zusammenhang der Spielregeln oder der strategischen Geometrien auf dem Spielfeld als auch der Naturgesetze, weshalb sich dieses Ding im Raum von Feld zu Feld verschieben lässt oder als Holzfigur bestehen kann.

Wesentlich ist m.E. auch seine im milden Sonnenlicht eines müden Sommerabends glänzende Farbe. Ich denke, sogar die Freundschaft der zwei alten Männer im Park, die seit Jahren mit denselben Figuren spielen, gehört wesentlich zu diesem Ding. Sie gehört nicht wesentlich zum Ding als Schachfigur , sondern zum Ding auch als Beispiel ihrer freundschaftlichen Verbundenheit.

Wesen, in diesem Sinn verstanden, verkörpert eine substanzielle, lebendige Kategorie der Dinge.



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Jörn Budesheim
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Sa 8. Mai 2021, 13:16

Wir reden nach wie vor über verschiedene Dinge, deswegen kommen wir zusammen auch nicht weiter. Wenn ich das Wort Wesen verwende, wenn ich nicht gerade Lebewesen sage, dann meine ich das, wonach man fragt, wenn man z.b. fragt: was ist Mut? Was ist Liebe? Was ist der Mensch? Was ist Zeit? Was ist Gerechtigkeit? Du hingegen fragst dich, was das Wesen dieses Krumens ist. Das sind für mich zwei verschiedene Fragestellungen.




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Alethos
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Sa 8. Mai 2021, 13:49

Ja, das ist wahrscheinlich der Dreh- und Angelpunkt unseres Aneinandervorbeiredens: Für mich ist der Begriff „Wesen“ nur zu haben auf direktem Weg über die existenziellen Dinge.
Liebe, Menschsein etc. das ist nicht eigentlich das, was sich zeigt als Liebe, Menschsein etc. im relevanten Sinne von: „Sie existieren.“

Liebe ist immer eine Liebe zu jemandem oder etwas, aber nicht zu jemand oder etwas Beliebigem. Es mag sein, dass jede Liebe sich diese Eigenschaft teilt, dass sie auf etwas oder jemanden bezogen existiert, aber doch ist sie in ihrem Wesen dieses Ding der wirklich Liebenden in der Tatsache des Verliebtseins. Und auch „der Mensch“ als Wesen in diesem abstrakten Sinne, ohne die Gegenwärtigkeit des menschlichen Individuums, hat keine Menschlichkeit, was ja auch ein eigentliches Merkmal des Menschseins ist (und nicht etwa nur das „Nichtplankton-Sein“).

Ich fühle mich durch einen Wesensbegriff, wie du ihn vorschlägst, nur logisch animiert, nicht in allen Fasern meines Lebendigseins :) (man verzeihe mir die schwülstige Formulierung...)



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Sa 8. Mai 2021, 13:58

Alethos hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 13:49
Liebe ist immer eine Liebe zu jemandem oder etwas, aber nicht zu jemand oder etwas Beliebigem.
Hier versuchst du dich in einer Wesens Analyse, um zu zeigen dass es so etwas wie eine Wesens Analyse nicht geben kann. Das scheint mir ein ziemlich klarer Fall von performativem Selbstwiderspruch zu sein.




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Sa 8. Mai 2021, 14:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 13:58
Alethos hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 13:49
Liebe ist immer eine Liebe zu jemandem oder etwas, aber nicht zu jemand oder etwas Beliebigem.
Hier versuchst du dich in einer Wesens Analyse, um zu zeigen dass es so etwas wie eine Wesens Analyse nicht geben kann. Das scheint mir ein ziemlich klarer Fall von performativem Selbstwiderspruch zu sein.
Guter Punkt!

Ich versuche eine Wesensanalyse unter Einbezug der Umstände, wegen denen das Wesen eines Dings eben vielfältig und unergründlich ist. Das ist selbstwidersprüchlich.

Meine Lösung: Ich erkläre, dass wir wissen, was ein Tisch ist durch seine wesentlichen Eigenschaften als Tisch, und behaupte, dass wir dadurch nicht erfasst haben, was das Wesen des Dings dort ist, das (auch) Tisch ist. Das Wesen des Dings ist unergründlich, weil es nicht nur dieser Gegenstand ist. Seine „Ganzheit als Ding“ ist viele Gegenstände zugleich.



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Sa 8. Mai 2021, 15:37

Alethos hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 13:49
Für mich ist der Begriff „Wesen“ nur zu haben auf direktem Weg über die existenziellen Dinge
Damit riskierst du aber, etwas ganz wesentliches zu verpassen.

And here why: Die existenziellen "Dinge" haben diese oder jene Eigenschaften. Hans ist so und so, Ulrike wieder anders, Peter noch mal anders und Karin ebenso. Auf der "Objektstufe" hast du jetzt vier verschiedene Eigenschaften Sets. Mehr ist hier auf "direktem Wege" nicht zu machen.

Aber eine Wesens Analyse, die von den "existenziellen Dingen" abstrahiert, kann zu einer höherenstufigen Wesens Erkenntnis führen. Sie kann z.b. erkennen, dass die vier verschiedenen Eigenschaftensets in Wahrheit Ausdruck ein und desselben Wesensmerkmals sind, nämlich z.b. dass sich Hans, Ulrike, Peter und Karin, sowie alle Menschen überhaupt gelegentlich fragen, was das Ganze hier überhaupt soll, was der eigene Platz darin ist, wer man eigentlich ist und so weiter und so fort.




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Sa 8. Mai 2021, 16:33

Ja, ich anerkenne dieses Argument.

Individuen können nicht nur unter dem Aspekt ihres individuellen Seins als von einander verschieden betrachtet werden, sondern müssen einander im Lichte ihrer Zugehörigkeit zu einem übergeordneten Bereich in wesentlichen Eigenschaften dieser Ordnung gleich sein. Nur so ergibt „Menschheit“, z.B. in der kantschen Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs, einen Sinn.
„Menschheit“ ist ein realer Begriff, der das Wesen des Menschen als soziales und dadurch auch als moralisches Wesen überhaupt verstehbar macht. Dank dieses Begriffs werden zugleich alle menschlichen Individuen, ungeachtet ihrer Verschiedenheit in manchen Aspekten, erfasst als soziale und moralische Wesen, die einander nicht nur Fremde sind, sondern auch Artverwandte.



„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.“ (Kant)



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So 9. Mai 2021, 06:39

transfinitum hat geschrieben :
Fr 7. Mai 2021, 11:32
Und der buddhistische Ansatz wäre dann ein Wesen, welches keine Relationen aufweist.
Ich kenne mich mit Buddhismus überhaupt nicht aus. "Ein Wesen, welches keine Relationen aufweist", würde man in unserer Traditionen wohl eine Substanz nennen.
transfinitum hat geschrieben :
Fr 7. Mai 2021, 11:32
Ich verstehe das so, dass aus dieser Leerheit jede mögliche Form angenommen werden kann, die Form ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext.
Leerheit hieße dann also: Offenheit für vieles oder Nichtfestgelegtheit?




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Friederike
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So 9. Mai 2021, 15:44

Alethos hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 14:03
[...] Meine Lösung: Ich erkläre, dass wir wissen, was ein Tisch ist durch seine wesentlichen Eigenschaften als Tisch, und behaupte, dass wir dadurch nicht erfasst haben, was das Wesen des Dings dort ist, das (auch) Tisch ist. Das Wesen des Dings ist unergründlich, weil es nicht nur dieser Gegenstand ist. Seine „Ganzheit als Ding“ ist viele Gegenstände zugleich.
Dann kann man auf den Begriff "Wesen" und das, was mit ihm gemeint ist, doch verzichten, oder nicht? Wenn man sagt, es gäbe das Wesen eines Dinges und es sei aber unergründlich, dann werden Wort und Wesen sinn-los. Das ist nichts gegen Dich @Alethos, es ist eine fragende Feststellung. Man könnte anstelle von Wesen ebensogut irgendein anderes, ein ausgedachtes Wort nehmen, irgendeine Buchstabenfolge, von der niemand weiß, was sie bedeutet. Das heißt, es muß im Hintergrund Deiner Äußerung eine bestimmte Bedeutung von "Wesen" geben, vor dem die Äußerung Sinn ergibt. Aber welche Bedeutung ist das? Man könnte vielleicht sagen, es ist genau das, was über "etwas" nicht gesagt werden kann, nur bleibt die Bedeutung des Wortes "Wesen" dann auch "leer" (mir fällt nur "leer" ein).




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