Was ist Gesellschaft.

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Alethos
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Do 13. Mai 2021, 18:11

Groot hat geschrieben :
Do 13. Mai 2021, 16:57
Um so eben Gesellschaft als Konglumerat zu verstehen, an dem eben nicht nur Individuen partizipieren, sondern auch Artefakte, Kunstwerke oder Bücher vorkommen, die wenig mit Interaktionen gemein haben, sondern eben Kommunikation ermöglichen zwischen Individuum und Gesellschaftsformation.
Wir müssen uns m.E. nicht auf Begriffe versteifen, wie z.B. den Begriff der Interaktion.

Wichtiger für ein Verstehen von Gesellschaft scheint mir der Umstand zu sein, dass wir apriori soziale Wesen sind. Menschsein trägt in sich das Apriori des Mitmenschseins. Nicht nur wären wir gar nicht ohne Mütter und Väter, also dank Anderen, sondern auch könnten wir uns weder denken noch erkennen ohne sie. Wir erkennen uns als Kinder zuallererst am Gesicht der Anderen, und wir bleiben das ganze Leben hindurch aufeinander verwiesen in diesem Bemühen um Selbsterkenntnis, die nicht stattfinden könnte, wenn sie nicht auch die Erkenntnis des Anderen implizierte.

Gesellschaft unter diesen Vorzeichen kann nichts anderes sein als die gesamte Kommunikation von Individuen im Lichte dieses Füreinanderseins - sei dieses ein Füreinander über Zeichen, Handlungen oder durch blosse An- und Abwesenheit.

Auch das Gegeneinander ist übrigens ein Verhältnis des Füreinanders - Wir sind ja, wenn verfeindet, schliesslich einander Feinde.



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Mai 2021, 07:05

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Jörn Budesheim
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Sa 15. Mai 2021, 11:31

Folgendes hat mich gerade beschäftigt, ich wollte eigentlich einen neuen Faden dazu eröffnen, aber dann ist mir aufgefallen, dass es sehr gut hierher passt: welche Verantwortung übernimmt jemand, der spricht? Zunächst einmal übernimmt man Verantwortung für die Wahrheit bzw Richtigkeit des Gesagten, das heißt z.b., man sollte auf Einwände antworten (können). Außerdem übernimmt man eine gewisse Verantwortung für die Verständlichkeit, dessen was man sagt. Man sollte so reden, dass man begründet unterstellen darf, verstanden zu werden. Aber nicht alles, was wahr und verständlich ist, ist auch für die Sprechsituation angemessen im ethischen Sinn. Auch hier trägt man eine gewisse Verantwortung, finde ich.

Der Umstand, dass wir uns für das, was wir sagen, verantworten können und auch sollten, gehört doch sicherlich auch zum gesellschaftlichen Grundbestand?!




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Mai 2021, 11:46

Welche Art von Verantwortung ist das? Bei der Verständlichkeit, vermute ich, hat man mindestens zwei Seiten: einerseits eine "ethische Verantwortung" gegenüber den anderen. (Unverständlichkeit kann der Versuch sein eine Asymmetrie herzustellen!) Auf der anderen Seite so etwas wie eine "transzendentale Verantwortung", denn Verständlichkeit gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit des Diskurses.




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AndreaH
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Mai 2021, 11:31

Der Umstand, dass wir uns für das, was wir sagen, verantworten können und auch sollten, gehört doch sicherlich auch zum gesellschaftlichen Grundbestand?!
Ja, ich denke sogar, es ist ein sehr wichtiger Punkt, der zum aktiven Miteinander beiträgt. Das was jemand spricht hat immer Auswirkungen auf die Gesellschaft. Selbst wenn man nicht die die Möglichkeit hat zu sprechen, oder es wird jemanden unterbunden zu sprechen, beeinflusst dies die Gesellschaft. Weil es immer das Individuum zu dem gesprochen wird oder nicht, auf den unterschiedlichsten Ebenen berührt.




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Jörn Budesheim
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Groot
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So 16. Mai 2021, 22:01

Alethos hat geschrieben :
Do 13. Mai 2021, 18:11
Groot hat geschrieben :
Do 13. Mai 2021, 16:57
Um so eben Gesellschaft als Konglumerat zu verstehen, an dem eben nicht nur Individuen partizipieren, sondern auch Artefakte, Kunstwerke oder Bücher vorkommen, die wenig mit Interaktionen gemein haben, sondern eben Kommunikation ermöglichen zwischen Individuum und Gesellschaftsformation.
Wir müssen uns m.E. nicht auf Begriffe versteifen, wie z.B. den Begriff der Interaktion.

Wichtiger für ein Verstehen von Gesellschaft scheint mir der Umstand zu sein, dass wir apriori soziale Wesen sind. Menschsein trägt in sich das Apriori des Mitmenschseins. Nicht nur wären wir gar nicht ohne Mütter und Väter, also dank Anderen, sondern auch könnten wir uns weder denken noch erkennen ohne sie. Wir erkennen uns als Kinder zuallererst am Gesicht der Anderen, und wir bleiben das ganze Leben hindurch aufeinander verwiesen in diesem Bemühen um Selbsterkenntnis, die nicht stattfinden könnte, wenn sie nicht auch die Erkenntnis des Anderen implizierte.

Gesellschaft unter diesen Vorzeichen kann nichts anderes sein als die gesamte Kommunikation von Individuen im Lichte dieses Füreinanderseins - sei dieses ein Füreinander über Zeichen, Handlungen oder durch blosse An- und Abwesenheit.

Auch das Gegeneinander ist übrigens ein Verhältnis des Füreinanders - Wir sind ja, wenn verfeindet, schliesslich einander Feinde.
Ja, das ist richtig. Die Kommunikation konstituiert Gesellschaft. Die Interaktionen ermöglicht eher Gemeinschaften, die dann Institutionalisierungsleistungen vollbringen (Stad/Land im Mittelalter). Auf diesen können wir in der Moderne aufbauen und sagen, dass diese Kommunikation ermöglichen, die über die Bildung von Gemeinschaften hinaus, Vergesellschaftung ermöglicht; Zivilisierung durch Kommunikation und Kultivierung in Interaktion, institutionalisierten Handlungssystemen.




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Alethos
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So 16. Mai 2021, 22:40

Wenn ich dich richtig interpretiere, sagst du, dass es einen Unterschied gibt
zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften, der im Institutionalisierungsgrad manifest wird. Das kann stimmen. Ich weiss nicht genau, inwiefern der Unterschied zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften in soziologischem Licht betrachtet relevant ist. Wir könnten ja auch einfach sagen, dass eine Gesellschaft eine höher entwickelte, spezialisiertere Form der Gemeinschaft ist oder umgekehrt eine Gemeinschaft eine weniger spezialisierte Form von Gesellschaft: beides müssten wir als soziale Grundsituation zugleich nehmen, die menschliche Individuen hinordnet als soziale Wesen, d.h. als solche, die soziale Transaktionen dürchführen können.

Nehmen wir einmal eine dystopische Situation an, in welcher alle Individuen nur noch unter dem Diktat der gesellschaftlichen Zwänge ohne Möglichkeit der freien Willensäusserung lebten: Wäre das noch Gesellschaft zu nennen oder wäre das ein neuer Organismus? Wir wären ja völlig determiniert durch den gesellschaftlichen Druck, aber es wäre doch undenkbar, das noch Gesellschaft zu nennen, in der wir uns als soziale Wesen begreifen könnten. Wäre so eine durchdeklinierte Gesellschaft nicht vielmehr asozial? Zur Sozialität gehört doch konstitutiv die Freiheit, nach Regeln zu leben, d.h. so zu leben, dass wir die Freiheit der anderen achten können. Dazu muss diese Freiheit aber möglich sein, dazu die Freiheit gehört, Transaktionen wollen zu können. Gesellschaft lebt vom freien Willen, sich an gewisse Regeln zu halten. Regeln ohne freien Willen ergeben keine Gesellschaft. Daher kann ich mir auch keine durchinstituionalisierte Gesellschaft vorstellen, die diesen Namen auch verdient.



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Mo 17. Mai 2021, 07:03

Ein paar Worte und ein paar Beispiele zu den diversen Begriffsverwendungen und sonstigen (expliziten oder impliziten) Voraussetzungen, die die Kommunikation hier schwer machen, wie ich finde: Gesellschaft und Gemeinschaft, Interaktion, Gesellschaft als Kommunikation, Psychologismus, Moral und Sinn.

Ich für meinen Teil benutze hier die Begriffe Gesellschaft und Gemeinschaft synonym. Wenn man sie unterscheiden will, dann würde ich unter einer Gemeinschaft eine Kleingruppe verstehen, wie z.b. eine Künstlergemeinschaft, eine Familie oder vergleichbares. Wir sprechen allerdings auch vom Sprachgemeinschaften, womit auf keinen Fall eine kleine Gruppe gemeint sein muss.

Sehr wahrscheinlich ist, dass in der Soziologie andere begriffliche Konventionen vorherrschen als in der Philosophie. Denkbar ist zum Beispiel, dass es soziologische Strömungen gibt, die den Begriff Interaktion für Handlungen und Kommunikationen unter Anwesenden reservieren. Das muss aber für philosophischen Zusammenhänge (oder auch für diesen Faden) keineswegs verbindlich sein. In der Philosophie wird darunter - vielleicht neben anderen - so viel wie Kooperation ganz im Allgemeinen verstanden, das zeigt ein Blick ins philosophische Lexikon, was ich weiter oben als Quelle angegeben habe. Möglich ist auch, dass Forscher wie Tomasello den Begriff noch einmal anders verwenden.

(Btw.: Meines Erachtens wäre es seltsam, ein Gespräch über dies oder das eine Interaktion zu nennen, wenn die Gesprächspartner "anwesend" sind, ein vergleichbares Gespräch via Telefon oder Messenger jedoch nicht. Natürlich ist ein Gespräch "face-to-face" etwas anderes als ein Gespräch via WhatsApp. Man kann versuchen, das begrifflich zu fixieren, aber in einem solchen Faden sollte man sich darauf untereinander einigen. Dass manche Soziologen sich auf diese Begriffsverwendung geeinigt haben, verpflichtet uns hier in einem philosophischen Forum ja nicht darauf.)

Ähnlich sehe ich es mit Niklas Luhmann und Konsorten. Niklas Luhmann hat in seiner Systemtheorie als "Grundbaustein" der Gesellschaft die Kommunikation gesehen. (Gesellschaft "besteht" aus Kommunikationen und z.b. nicht aus Menschen, siehe zum Beispiel "Detlef Krause, Luhmann Lexikon") Ich habe mich über Jahre (z.b. mit Jovis, die hier auch schreibt) über Luhmann, seine sozialen Systeme, seinen Konstruktivismus* etc. ausgetauscht. Das war im letzten Jahrhundert. Luhmann ist ein Denker des 20. Jahrhunderts, damit gehört er vielleicht noch nicht, um einen Ausdruck von ihm selbst polemisch gegen ihn zu wenden, zum alteuropäischen Denken. Aber man kann diesen Ansatz hier nicht einfach als gegeben voraussetzen. Man kann sich schließlich fragen, wie und ob die Grundidee unter Voraussetzung des philosophischen Realismus im 21. Jahrhundert noch produktiv gemacht werden kann.

Ein weiteres Beispiel: der Begriff Psychologismus. Ich habe weiter oben erläutert, wie ich den Begriff verstehe. Ich kann gerne auch noch nachtragen, wie diese Begriffsverwendung motiviert ist; ich entnehme sie der philosophischen Geschichte. Einschlägig dafür sind die Argumentationen von Husserl und Frege gegen den Psychologismus in der Logik. Markus Gabriel schließt sich dieser Verwendung an und nutzt den Begriff ebenso. Das ist nach meinem Wissen die Begriffsverwendung, die in der Philosophie sehr verbreitet ist. Das muss natürlich nicht die allein seligmachende Begriffsverwendung sein. Wenn man den Begriff jedoch anders verstanden wissen will, sollte man, wie ich finde, seine Karten auf den Tisch legen und ihn erläutern - das macht ihn für die Anderen "anschlussfähig" :-)

Und noch ein Beispiel: der Ausdruck "Sinn". Es ist klar, dass dieser Ausdruck von den verschiedensten Autoren in den verschiedensten Nuancen verwendet wird. Sowohl für Markus Gabriel als auch für Niklas Luhmann z.b. ist der Begriff grundlegend. Man kann jedoch nicht eine dieser beiden Verwendungen einfach als gegeben oder gar verbindlich voraussetzen. Daher sollte man die eigene Begriffsverwendung zumindest skizzenhaft erläutern.

Und noch etwas, weil ich gerade in Fahrt bin: "Die Historie ist eine Entlastung für die Psyche, reduziert die Komplexität, die mit der Moral einhergeht. Denn die Moral soll ja, laut Philosophiegeschichte, überzeitlich sein, also selbst der Historie noch enthoben - statt, wie modern besehen sicher sinnvoller, die Moral situativ zu setzen." (Groot) "Modern besehen"? Man kann natürlich die Ansicht vertreten, Moral sei nicht überzeitlich, sondern situativ gesetzt. Aber man kann nicht einfach geltend machen, das sei "modern besehen" sicher sinnvoller" (von mir hervorgehoben). Moralische Realisten/Objektivisten gibt es aktuell ("modern") in der Philosophie ebenso wie in ihrer langen Geschichte. Zwei Beispiele sind Markus Gabriel in "Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten" und Julian Nida Rümelin in "unaufgeregter Realismus".

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*Man kann natürlich darüber streiten, inwiefern Niklas Luhmann als Konstruktivist zu sehen ist. Es gibt einen Aufsatz von ihm über radikalen Konstruktivismus, wo er sein Ansatz, nach meinem Verständnis, radikal verunklärt :)




Groot
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Di 18. Mai 2021, 04:35

Alethos hat geschrieben :
So 16. Mai 2021, 22:40
Wenn ich dich richtig interpretiere, sagst du, dass es einen Unterschied gibt
zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften, der im Institutionalisierungsgrad manifest wird. Das kann stimmen. Ich weiss nicht genau, inwiefern der Unterschied zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften in soziologischem Licht betrachtet relevant ist. Wir könnten ja auch einfach sagen, dass eine Gesellschaft eine höher entwickelte, spezialisiertere Form der Gemeinschaft ist oder umgekehrt eine Gemeinschaft eine weniger spezialisierte Form von Gesellschaft: beides müssten wir als soziale Grundsituation zugleich nehmen, die menschliche Individuen hinordnet als soziale Wesen, d.h. als solche, die soziale Transaktionen dürchführen können.

Nehmen wir einmal eine dystopische Situation an, in welcher alle Individuen nur noch unter dem Diktat der gesellschaftlichen Zwänge ohne Möglichkeit der freien Willensäusserung lebten: Wäre das noch Gesellschaft zu nennen oder wäre das ein neuer Organismus? Wir wären ja völlig determiniert durch den gesellschaftlichen Druck, aber es wäre doch undenkbar, das noch Gesellschaft zu nennen, in der wir uns als soziale Wesen begreifen könnten. Wäre so eine durchdeklinierte Gesellschaft nicht vielmehr asozial? Zur Sozialität gehört doch konstitutiv die Freiheit, nach Regeln zu leben, d.h. so zu leben, dass wir die Freiheit der anderen achten können. Dazu muss diese Freiheit aber möglich sein, dazu die Freiheit gehört, Transaktionen wollen zu können. Gesellschaft lebt vom freien Willen, sich an gewisse Regeln zu halten. Regeln ohne freien Willen ergeben keine Gesellschaft. Daher kann ich mir auch keine durchinstituionalisierte Gesellschaft vorstellen, die diesen Namen auch verdient.
Es gibt Gemeinschaft (Vereine, Schule), Gesellschaft (Länder) und Zivilisation (Uno). Freundschaft ist eher ein psychologisches, als wirklich ein soziales Phänomen. Bei Freundschaft steht das Verhalten im Zentrum, nicht die Beobachtung.

Gemeinschaften treten auf innerhalb institutionalisierter Handlungssysteme. Während Gesellschaft über die subjektiven Handlungen, wie auch die Institutionalisierung hinausgeht und die Kommunikation, wie die Fülle der zivilisatorischen Tatbestände in Interaktionen sich darlegen.

Gemeinschaft ist, was den Horden entspringt. Der edle Wilde gründet Gemeinschaften, als Wolf vertrauen wir auf die Regulierungsmechanismen der Gesellschaft und als Bürger dann auf die anonymisierten Institutionen, die legitime Ordnung ist und die Atmosphäre erzeugt, die sich in der Kommunikation sozialer Systeme zu Augenschein kommt.

Historisch ist Gemeinschaft in den Urvölkern zu sehen. Gemeinschaften begründen die Ethnologische Forschung. Damit kann der Anthropologiebegriff weniger gewichtig gemacht werden. Aber Gemeinschaft gibt es in Gesellschaften spätestens seit dem Mittelalter innerhalb von Organisationen oder informell in Cliquen und Familie. Hierdurch begründen sich Nationalstaatliche Einigungsbestrebungen, in denen aus Gemeinschaften und Bündnissen dann Länder werden.

Gesellschaft aber ist, worin sich soziales Verhalten der Gegenwart gewahr ist. Denn unsere Ordnung basiert nunmal auf einer anonymen Vergesellschaftung, während der Nahhorizont dann durch die Gemeinschaften geprägt ist, in denen man entweder authentisch oder mittels Rollenverhalten einzug hält.

Beides gemeinsam ermöglicht die Lebenswelt. In der wir uns psychisch dann entweder körperlich-organisch oder aber geistig-transzendental erfahren; und funktional oder tief ästhetisch erfassen oder kritisch beäugen.
Die Zivilisation grenzt sich nun ab gegen die Lebenswelt, sowie gegen das System als transzendental-psychologisches oder als "Psyche in Historie". Denn die Zivilisation begründet sich, weil die Lebenswelt ein Inidividuum niemals in zwei Kulturen gleichzeitig aufwachsen kann - oder wenigstens nicht in allen. Diese ist dann autopoietisch; die Gesellschaften sind für sich ethopoietisch und supranational autopoietisch. Gemeinschaft geschieht nicht in "-poiesis", sondern ausschließlich in Interaktion. Dann wäre man bei der Polis, aus der erstmalig Gesellschaft symbolisch hergeleitet wurde.




Groot
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Di 18. Mai 2021, 05:06

Ich für meinen Teil benutze hier die Begriffe Gesellschaft und Gemeinschaft synonym. Wenn man sie unterscheiden will, dann würde ich unter einer Gemeinschaft eine Kleingruppe verstehen, wie z.b. eine Künstlergemeinschaft, eine Familie oder vergleichbares. Wir sprechen allerdings auch vom Sprachgemeinschaften, womit auf keinen Fall eine kleine Gruppe gemeint sein muss.
Sprachgemeinschaften sind ein Sonderfall. Denn bei Sprachgemeinschaften geht es eher darum, Kulturräume in einer historischen Dimension zu differenzieren, ohne dabei die bloße juristische Ordnung zum Fundament zu wählen. Sprachgemeinschaften sind dann etwas, worin Sprachspiele stattfinden, in denen Worte der formalen Welt und Gesten der sozial-symbolischen Welt ineinander finden. Weil darin der soziale Tatbestand des Spiels den Krieg und die Gewalt ausmerzt, die in der formalen Welt de Facto eh wegimaginiert ist und gleichzeitig die Worte und Formeln der formalen Welt sich im Kunstwerk frei machen können davon, nur Naturobjekt zu sein.
Sehr wahrscheinlich ist, dass in der Soziologie andere begriffliche Konventionen vorherrschen als in der Philosophie. Denkbar ist zum Beispiel, dass es soziologische Strömungen gibt, die den Begriff Interaktion für Handlungen und Kommunikationen unter Anwesenden reservieren. Das muss aber für philosophischen Zusammenhänge (oder auch für diesen Faden) keineswegs verbindlich sein. In der Philosophie wird darunter - vielleicht neben anderen - so viel wie Kooperation ganz im Allgemeinen verstanden, das zeigt ein Blick ins philosophische Lexikon, was ich weiter oben als Quelle angegeben habe. Möglich ist auch, dass Forscher wie Tomasello den Begriff noch einmal anders verwenden.

(Btw.: Meines Erachtens wäre es seltsam, ein Gespräch über dies oder das eine Interaktion zu nennen, wenn die Gesprächspartner "anwesend" sind, ein vergleichbares Gespräch via Telefon oder Messenger jedoch nicht. Natürlich ist ein Gespräch "face-to-face" etwas anderes als ein Gespräch via WhatsApp. Man kann versuchen, das begrifflich zu fixieren, aber in einem solchen Faden sollte man sich darauf untereinander einigen. Dass manche Soziologen sich auf diese Begriffsverwendung geeinigt haben, verpflichtet uns hier in einem philosophischen Forum ja nicht darauf.)
Dann aber, dann ist man ja nur metaphysisch. Aber das angestrebte Ziel ist ja metabiologisch zu sein, also organische Philosophie zu betreiben; statt nur Sternkunde, Astronomie und Tauchen im Allerkleinsten auch Belebtes klassifizieren und valide verifizieren. Denn die Grundlage liegt m.e. hier, auf welche Weise Sprache in Relation zur materiellen Historie steht. Bspw. gibt es für die Hermeneutik so gut wie keine materielle Geschichte; diese ist dort völlig zu theologisch katalysierter Philosophiegeschichte geworden.

Gesellschaft ist hierbei eben mehr als nur Interaktion, als nur bloßer Diskurs und ein bisschen Hermeneutik. Aber viele vernachlässigen diese metabiologische Perspektive zu Gunsten der Sprachlichkeit und der traditionell ausgerichteten Historizität, auf die die Sprachlichkeit hermeneutisch verweist.

Sicher kann man die Begriffe anders verwenden. Ich denke jedoch, dass es uns ja um die Entfaltung der verschiedenen Begriffe geht; also darum, zu schauen in welchen Epochen welcher Begriff passender ist, wie die größeren aus den kleineren Einheiten entspringen und wie man aus der Perspektive des Selbst diese Sachverhalte unterschiedlichst kombinieren kann um so eine begrenzte Zahl epistemischer Zugänge zu einer modernen Gesellschaft zu erfassen, die über die "Magie" der Vergesellschaftung hinausgeht.
Ähnlich sehe ich es mit Niklas Luhmann und Konsorten. Niklas Luhmann hat in seiner Systemtheorie als "Grundbaustein" der Gesellschaft die Kommunikation gesehen. (Gesellschaft "besteht" aus Kommunikationen und z.b. nicht aus Menschen, siehe zum Beispiel "Detlef Krause, Luhmann Lexikon") Ich habe mich über Jahre (z.b. mit Jovis, die hier auch schreibt) über Luhmann, seine sozialen Systeme, seinen Konstruktivismus* etc. ausgetauscht. Das war im letzten Jahrhundert. Luhmann ist ein Denker des 20. Jahrhunderts, damit gehört er vielleicht noch nicht, um einen Ausdruck von ihm selbst polemisch gegen ihn zu wenden, zum alteuropäischen Denken. Aber man kann diesen Ansatz hier nicht einfach als gegeben voraussetzen. Man kann sich schließlich fragen, wie und ob die Grundidee unter Voraussetzung des philosophischen Realismus im 21. Jahrhundert noch produktiv gemacht werden kann.
Ich persönlich halte Luhmanns Ansatz für alternativlos, aber denke natürlich, dass das weite Feld der Handlungstheorien und der praktischen Vernunft, sowie der Medientheorien und der expressiven Vernunft eine große Fläche für den Menschen bildet um andersartig und sicher "weniger Makro" die Gesellschaft ins Auge zu fassen.

Ich würde meinen, dass die Grundidee gerade für die digitalen Zeiten eine phantastische Grundlage bietet. Jedenfalls mehr als die altsozialisten Habermas oder Foucault, bei denen der eine die Rolle des Schöngeistes in Relation zu Luhmann einnimmt, der andere die des Diktatoren.
Der Punkt wäre bspw. das Gabriel auf nichts anderes zugreift, als exakt auf diese sozialen Systeme und die darin liegenden Wissensfeldern, die mittels Frege semantisch und begrifflich "dinglich" werden, zu Form plastiziert werden. Auf die Saussure zugreift mittels des Syntagma und der symbolischen Lehre der Semiotik. Damit schafft Gabriel ein Konzept, welches zusammen mit Luhmann entweder Digitalität oder aber Sozietät begründen kann; weil Gabriel nämlich dem Diskurs sagt: "Schau, es gibt alles, auch, was nur durch unsere fiktionale Seite wirkt - und eben nicht nur, was im naturwissenschaftlichen Sinne wirkt."

Ich denke, es ist unmöglich Gesellschaft in ihrer Komplexität adäquat zu begreifen, wenn man Luhmann nicht ins Boot holt. Kann aber auch verstehen, wenn man über Mead und Weber zu einer legitimen Ordnung kommt und dann auf Fragen der (deontologischen) Moral stößt.




Groot
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Di 18. Mai 2021, 05:14

Und noch etwas, weil ich gerade in Fahrt bin: "Die Historie ist eine Entlastung für die Psyche, reduziert die Komplexität, die mit der Moral einhergeht. Denn die Moral soll ja, laut Philosophiegeschichte, überzeitlich sein, also selbst der Historie noch enthoben - statt, wie modern besehen sicher sinnvoller, die Moral situativ zu setzen." (Groot) "Modern besehen"? Man kann natürlich die Ansicht vertreten, Moral sei nicht überzeitlich, sondern situativ gesetzt. Aber man kann nicht einfach geltend machen, das sei "modern besehen" sicher sinnvoller" (von mir hervorgehoben). Moralische Realisten/Objektivisten gibt es aktuell ("modern") in der Philosophie ebenso wie in ihrer langen Geschichte. Zwei Beispiele sind Markus Gabriel in "Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten" und Julian Nida Rümelin in "unaufgeregter Realismus".
Ich sage nicht, dass das verkehrt ist. Nur gründet ein moralischer Realismus m.e. faktisch in einem Monotheismus, weswegen für mich eine solche Perspektive nicht ganz unberechtigt ist. Aber sie ist eben nicht begründbar in heutiger Zeit, zumindest nicht mehrheitsfähig begründbar.

Ich würde aber meinen, dass selbst die sehr konservative Hermeneutik die Moral situativ setzt, weil diese sich ja als spezifische Urteilskraft zeigt. Sicher ist Moral als Anspruch eine reale Angelegenheit, aber ohne einen Zivilisationsbegriff oder ein anderes Gottsubstitut wird es schwer, eine solche auch tatsächlich als real zu setzen. Für gewöhnlich ist diese doch historisch entsprungen und seitdem in einer historischen Dimension in Veränderung begriffen; anders natürlich Moralphilosophie, die dann versucht transzendental eine Grundlage für Moral zu finden. (Was aber nur klappt, sofern die fundierung des Rechtswesen nicht auf wackligen Beinen steht bzw. sofern man Handlung zur Grundlage zur Moral macht)




Groot
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Di 18. Mai 2021, 05:17

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 16. Mai 2021, 18:40
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Worin ist der Stuhl? Worin der Kopf? Wodurch begrenzt?




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METASUBJEKT
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Di 18. Mai 2021, 14:14

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 19:09
Was bedeutet der Begriff Gesellschaft? Wie definieren wir Gesellschaftt?
Ist das ein loser Verbund von Individuen? Ist es eine Zweckgemeinschaft?
Wodurch zeichnet sich Gesellschaft aus, und was ist nötig, damit sie funktioniert?
Ich würde gerne erfahren was ihr darunter versteht.
Hallo NaWennDuMeinst,

Die Grundlage einer jeden Gesellschaft ist eine Kultur der Gewaltkontrolle.
Der Mensch musste erst lernen, seine Gewaltaffekte gegen Artgenossen zur Durchsetzung seines individuellen Willens zu unterdrücken, und die Ausübung dieser Gewalt unter die Hoheit eines Schiedsgerichtes zu stellen. Das übernahm dann die Vertretung seiner Interessen notfalls mit Gewalt, und schützte ihn auch vor anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft.

In modernen Gesellschaften hat sich diese Kultur der Gewaltkontrolle zum Gewaltmonopol des Staates und seiner Exekutive entwickelt. Hätte es diese Entwicklung nicht gegeben, dann würde die Menschheit bis heute nicht mehr als die Summe aller vagabundierenden Horden sein, die umherziehen und sich gegenseitig und mit Gewalt die Ressourcen streitig machen.

Der Mensch ist aus der Not heraus zu einem "zivilisierten Wesen" geworden. Weil Menschen schon immer Konkurrenten um Nahrung, Lebensraum, soziale Stellung und Geschlechtspartner gewesen sind, aber zugleich auch aufeinander angewiesen, um leichter überleben und ihren Nachwuchs besser schützen zu können.

Bis heute ist unsere Gesellschaft das Ergebnis eines Wettlaufs zwischen den Egoismen des Einzelnem und den Bemühungen, diesem Egoismus enge Grenzen zu setzen. Zunächst durch soziale Kontrolle, dann religiöse Vorschriften und später auch durch Gesetze.

Die moderne zivilrechtliche Gesetzgebung BGB, HGB usw. enthält einige Tausend Paragraphen, die notwendig sind, damit sich die Menschen nicht zügellos gegenseitig übers Ohr hauen können. Und ständig müssen neue hinzu kommen, weil die egoistische Natur des Menschen sehr erfinderisch ist. Und das Strafgesetzbuch steht für all die Taten, die Menschen bereit sind, einander zufügen. Es ist das Ergebnis von sehr schlechten Erfahrungen mit dem Wesen des Menschen.

Das Rezept für eine funktionierende Gesellschaft ist deshalb primär die Errichtung von rechtsstaatlichen Institutionen, in denen zugleich auch ein Schutz des Staates vor sich selbst eingebaut sein muss, (Verfassung, Gewaltenteilung), damit der Staat nicht an den Menschen scheitert, die im Dienste dieses Staates stehen oder jenen, die ihn regieren.

Unsere Gesellschaft steht in einer Kontinuität mit den früheren Gesellschaften, in denen noch das Raubrittertum und später die Knechtschaft durch Monarchien und Aristokratieen vorherrschend war. Um die modernen Gesellschaften zu verstehen, muss man sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass sie mehr oder weniger zivilisierte Formen einer tradierten Neigung zur organisierten Kriminalität sind. Die Betonung liegt dabei auf "mehr oder weniger".

Auf einen Begriff gebracht könnte man das Phänomen "Gesellschaft" so erklären:

Eine Gesellschaft ist das Ergebnis von Bemühungen, die schlechten Eigenschaften der Menschen eines Volkes zu kontrollieren und deren gute Eigenschaften so zu lenken, dass sie der Gemeinschaft zugute kommen. Und das mit dem Ziel, die Gemeinschaft zu stärken, zu vergrößern, und sich gegen die Konkurrenz anderer Gesellschaften behaupten zu können. Wobei verschiedene Formen gegenseitiger Ausbeutung bis heute nicht vollständig überwunden wurden, weil die Menschen noch keine Strategie entwickeln haben, um eine gerechte Verteilung von Macht durchsetzen und deren Missbrauch verhindern zu können. Die verschiedenen Völker sind bei diesem Bemühen nicht alle gleichermaßen erfolgreich. Da der Erfolg auch von der Mentalität der Mehrheit eines Volkes abhängig ist.

In dieser Fassung lässt sich der Begriff "Gesellschaft" auf menschliche Gemeinschaften zu allen Zeiten und ihrer Entwicklungsstände, unabhängig von ihrer Größe anwenden. Sie trifft in der Kernaussage auf alle menschlichen Gemeinschaften zu. Vom Naturvolk bis zur Atommacht geht es immer auch darum, einander zu disziplinieren, um gemeinschaftliches oder arbeitsteiliges Handeln und ein möglichst konflicktarmes Zusammenleben realisieren zu können.

Die Soziologie erklärt den Begriff der "Gesellschaft" etwas tautologisch anmutend. In dem Sinne, dass Gesellschaften Gruppen von Menschen sind, die interaktiv und räumlich zusammen leben, usw. Das ist nur eine präzisierte Wiederholung dessen, was allgemeinsprachlich mit "Gesellschaft" gemeint und darunter verstanden wird. Damit wird das Gemeinte nur ausführlicher beschrieben. Aber das Phänomen Gesellschaft nicht wirklich erklärt. Im Übrigen sind die etablierten Begriffe für Gesellschaft bis heute strittig.

Gesellschaft ist emergentes Phänomen. Es ist mehr als das bloß interaktive, räumliche und institutionalisierte Zusammenleben von Menschen. Der Begriff der Gesellschaft als emergentes Phänomen sollte die Institutionen ausblenden. Diese fallen besser unter den selbstständigen Begriff des "Staates", der nur eine Folge dieses Phänomens ist, dessen Entwicklung schon sehr viel früher eingesetzt hat. Die Gesamtheit der Gesellschaften mit einer staatlichen Struktur und ihren Institutionen kann man als Zivilisation bezeichnen. Gemeinschaften ohne solche Strukturen fallen unter Begriffe wie "Stammesgemeinschaften" oder "Naturvölker".

Analogien zu Vorgängen in der Natur sind mit Vorsicht zu genießen. Denn die Menschen bilden nicht nur ihre Gemeinschaften, sie können darüber hinaus auch wissen, dass sie es tun und warum sie es tun. Und sie können sich dank ihrer spekulativen Vorstellungskraft für oder gegen etwas entscheiden. Ohne dass es dafür schon einen realen Anlass geben müsste.

Die übrigen Lebewesen verhalten sich "just in time" und rein reaktiv, oder ihren evolutionär entwickelten Instinkten folgend. Auch wenn sie in Gemeinschaften leben, sind sie nicht mit einer Gesellschaft vergleichbar. Denn solche Gemeinschaften, seien es Ameisen oder Primaten, folgen damit keinen Einsichten und willkürlichen Entscheidungen, sondern nur ihren Instinkten.

Ich hoffe, Ihnen damit etwas geholfen zu haben.




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NaWennDuMeinst
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Di 18. Mai 2021, 17:54

METASUBJEKT hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 14:14
Ich hoffe, Ihnen damit etwas geholfen zu haben.
Durchaus. Vielen Dank dafür.
Mir fällt es allerdings immer noch schwer die Begriffe Gesellschaft, Staat, Volk, Gemeinschaft auseinander zu halten. Denn auf der einen Seite ist jede Teilmenge für sich eine Gesellschaft, andererseits bilden sie aber auch zusammengenommen eine Gesellschaftsform.
Ich habe auch Schwierigkeiten damit Gesellschaft als Abgrenzungsbegriff zu verstehen, also der Gedanke, dass verschiedene Gesellschaften miteinander konkurrieren.
Denn obwohl das sicher richtig ist, gibt es ja auch die menschliche Gesellschaft, also der Zusammenschluß aller Menschen (oder das worunter die Menschheit gefasst wird).

Ich meine aus den vorangegangenen Texten herauslesen zu können, dass es bei Gesellschaft vor allem um Kontrolle geht ("negative Impulse umlenken und in was Produktives wandeln").
Welche Rolle spielen dabei Interessenausgleiche? Ist das ein eine Gesellschaft definierender Faktor, bzw einer ihrer Zwecke?



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
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(William Butler Yeats)

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METASUBJEKT hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 14:14
Der Mensch musste erst lernen, seine Gewaltaffekte gegen Artgenossen zur Durchsetzung seines individuellen Willens zu unterdrücken, und die Ausübung dieser Gewalt unter die Hoheit eines Schiedsgerichtes zu stellen. Das übernahm dann die Vertretung seiner Interessen notfalls mit Gewalt, und schützte ihn auch vor anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft.
METASUBJEKT hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 14:14
Denn solche Gemeinschaften, seien es Ameisen oder Primaten, folgen damit keinen Einsichten
Ameisen folgen keinen Einsichten, Menschen hingegen schon. So verstehe ich das letzte Zitat. Ich frage mich aber: Einsicht in was? Und auch: woher wissen die Schiedsgerichte was zu tun ist? Warum entscheiden sie nicht, dass Lüge, Gewalt, Diebstahl, Unfairness etc. p.p. durchzusetzen sind?

Ein anderer Punkt: Ich hatte weiter oben von Forschungsergebnissen von Tomasello gesprochen, die nahe legen, dass unser Sinn für Kooperation tief in uns angelegt ist. Er folgt also keinem Kostennutzen Kalkül, das sich aus einer rationalen Erwägung ergibt (Helfe ich dir/hilfst du mir), sondern wir bringen das bereits mit. Wie passt das in dein Bild?




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Jörn Budesheim
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Mi 19. Mai 2021, 10:29

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 17:54
Denn obwohl das sicher richtig ist, gibt es ja auch die menschliche Gesellschaft, also der Zusammenschluß aller Menschen (oder das worunter die Menschheit gefasst wird).
Guter Punkt. Meines Erachtens leben wir bereits in der Weltgesellschaft. Aber die Institutionen und der Geist hinken noch hinterher :-)




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METASUBJEKT
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Mi 19. Mai 2021, 12:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 19. Mai 2021, 09:57
METASUBJEKT hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 14:14
Der Mensch musste erst lernen, seine Gewaltaffekte gegen Artgenossen zur Durchsetzung seines individuellen Willens zu unterdrücken, und die Ausübung dieser Gewalt unter die Hoheit eines Schiedsgerichtes zu stellen. Das übernahm dann die Vertretung seiner Interessen notfalls mit Gewalt, und schützte ihn auch vor anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft.
METASUBJEKT hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 14:14
Denn solche Gemeinschaften, seien es Ameisen oder Primaten, folgen damit keinen Einsichten
Ameisen folgen keinen Einsichten, Menschen hingegen schon. So verstehe ich das letzte Zitat. Ich frage mich aber: Einsicht in was? Und auch: woher wissen die Schiedsgerichte was zu tun ist? Warum entscheiden sie nicht, dass Lüge, Gewalt, Diebstahl, Unfairness etc. p.p. durchzusetzen sind?

Ein anderer Punkt: Ich hatte weiter oben von Forschungsergebnissen von Tomasello gesprochen, die nahe legen, dass unser Sinn für Kooperation tief in uns angelegt ist. Er folgt also keinem Kostennutzen Kalkül, das sich aus einer rationalen Erwägung ergibt (Helfe ich dir/hilfst du mir), sondern wir bringen das bereits mit. Wie passt das in dein Bild?
Hallo Jörn,

das sind Fragen, deren Antworten meine nur grobe Skizze des Phänomens "Gesellschaft" ergänzen würden. Ich betrachte Gesellschaft als ein emergentes Phänomen. Vergleichbar der Idee Le Bons, (Die Masse), der das Phänomen einer "Massenseele" beschrieben hat. Sie ist auch ein Aspekt des Phänomens Gesellschaft. Ebenso wie auch "Schwarmintelligenz" einer ihrer Aspekte ist.
Diese Aspekte beschreiben nicht den naturgegebenen Menschen, sondern etwas, das über ihn hinausgeht. Das mehr ist, als die Summe der Menschen.
Und in dieser Ebene suche ich auch die Quelle für moralisches Empfinden.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Moral ein emergentes Phänomen sein könnte. Also nicht naturgegeben.
Es gibt eine Kombination, bestehend aus dem naturgegebenen Wesen des Menschen als empathiefähiges Säugetier; und der in Gemeinschaft betriebenen Bewältigung seiner Lebensbedingungen, in denen der Mangel entscheidend mitwirkt, und seiner Fähigkeit, von der eigenen Existenz wissen zu können.

Aus dieser Kombination könnten Mitgefühl, Gerechtigkeitssinn und moralische Empfindungen hervorgegangen sein, die sich später auch zu festen Erwartungen und Regeln institutionalisierten.

Denn die "Anfälligkeit" für moralische Empfindungen muss nicht natürlichen Ursprungs in dem Sinne sein, dass die Natur es so "will". Die Natur des Menschen oder höherer Lebewesen könnte ebenso gut so beschaffen sein, dass Moralität nur optional, also zu ihren Möglichkeiten gehört. Man konnte auch sagen, dass sie diese lediglich nicht verhindert. Denn es gibt ja auch die Unmoral, das Verbrechen, Lügen, Gewalt, die ebenso zu diesen Optionen zählen. Hinzu kommt die gestalterische Freiheit bei der Entwicklung eines Wertesystems. Verschiedene Völker können hinsichtlich ihrer Werte unterschiedlicher Ansichten sein.

Ich will sagen: Der Mensch, wie auch höhere Säugetiere, die in sozialen Gemeinschaften leben, könnten naturgemäß so ausgestattet sein, dass ihnen beide Optionen offen stehen. Aber nur der Mensch ist fähig, die Empfindung von Mitgefühl auch zu reflektieren, zu thematisieren und daraus die verschiedensten Regeln zu entwickeln, die eine Verletzung dieser Gefühle, im Sinne eines schmerzhaften Mitempfindens verhindern sollen. Er ist dazu fähig, weil er von diesen Gefühlen wissen kann. Und weil er dieses Wissen in seiner Vorstellung willentlich reproduzieren kann. Moralische Prinzipien entwickeln zu können, ist eine Freiheit, die ihm seine biologische Natur gewährt.

Zu "Kosten/Nutzen"
Die Bereitschaft zur Kooperation würde ich auch im natürlichen Wesen vermuten. Und das nicht nur bei Menschen. Und wenn es nicht die Lebensbedingungen gäbe, die eine solche Kooperation erforderlich machten,
würde es sie nicht geben. Nicht alle Säugetiere haben das nötig und leben deshalb sehr gut auch als Einzelgänger.

Aber das ist ein Aspekt, der nicht mit diesen Worten untersucht werden sollte.
"Kosten/Nutzen" framen die Betrachtung und ziehen das gemeinte in den Kontext eines seelenlosen Wirtschaftsprinzips. Das ist ein modernes Phänomen und hat nur wenig mit dem ursprünglichen Affekt zu tun, eine Kooperation zu suchen und sie einander zu gewähren.




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METASUBJEKT
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Mi 19. Mai 2021, 20:21

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 17:54
METASUBJEKT hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 14:14
Ich hoffe, Ihnen damit etwas geholfen zu haben.
Durchaus. Vielen Dank dafür.
Mir fällt es allerdings immer noch schwer die Begriffe Gesellschaft, Staat, Volk, Gemeinschaft auseinander zu halten. Denn auf der einen Seite ist jede Teilmenge für sich eine Gesellschaft, andererseits bilden sie aber auch zusammengenommen eine Gesellschaftsform.
Ich habe auch Schwierigkeiten damit Gesellschaft als Abgrenzungsbegriff zu verstehen, also der Gedanke, dass verschiedene Gesellschaften miteinander konkurrieren.
Denn obwohl das sicher richtig ist, gibt es ja auch die menschliche Gesellschaft, also der Zusammenschluß aller Menschen (oder das worunter die Menschheit gefasst wird).

Ich meine aus den vorangegangenen Texten herauslesen zu können, dass es bei Gesellschaft vor allem um Kontrolle geht ("negative Impulse umlenken und in was Produktives wandeln").
Welche Rolle spielen dabei Interessenausgleiche? Ist das ein eine Gesellschaft definierender Faktor, bzw einer ihrer Zwecke?
Mit der Frageform: "Was bedeutet...." tun sich viele Menschen oft recht schwer.

Vielleicht sollten Sie sich bei der Anwendung von Sprache, von Fremdbestimmungen frei machen. Es gibt so etwas wie eine "Begriffshörigkeit" Man sucht nach einer Autorität, die einem klare Regeln vorgibt, was bestimmte Wörter bedeuten. Man sucht sie dann im etablierten oder spezialisierten Sprachgebrauch und den üblichen Quellen wie Enzyklopädien. Diese Regelungen allzu ernst zu nehmen, zügelt und behindert das freie Denken. Nur in den Naturwissenschaften sind solche Regeln zumeist gerechtfertigt. In den Geisteswissenschaften weniger, bis garnicht.

Sie als philosophischer Denker sind es, der urteilen und entscheiden muss, was Wörter wie Gesellschaft, Staat, Volk, Gemeinschaft, bedeuten sollen. Anfangs sind dies nur Wörter, von denen Sie in etwa wissen, was damit gemeint ist. Und erst wenn Sie diesen eine Bedeutung zugeschrieben haben, sind es auch "Begriffe". Ihre Begriffe, um genau zu sein.

Solange Ihre Bedeutungszuschreibung nicht den etablierten Kontext eines Wortes, oder seinen Bedeutungsraum verlässt, wird man Sie trotzdem verstehen können, weil Sie ihre Gedanken in größeren Sinneinheiten äußern. Sie sagen nicht einfach nur "Staat" und sonst nichts. Der innere Zusammenhang Ihrer Äußerungen, sowie das Zusammenspiel ihrer Begriffe geben Hinweise darauf, in welchem Sinne sie Ihre Begriffe verwenden. Sollte die Äußerung allein das nicht hergeben, hat man immer die Möglichkeit, explizite Hinweise zu geben.

Sie sagen, es falle Ihnen schwer, die Begriffe Gesellschaft, Staat, Volk, Gemeinschaft auseinander zu halten. Das ist der Fall, wenn Sie diese nicht selbst gebildet haben. Und das könnte wiederum daran liegen, dass sie bisher noch nichts schriftliches verfasst haben, dessen Thematik eine Kombination aller diese Wörter erfordert hat.

Ich versuche das mal an einem Beispiel zu zeigen:

Ein "Volk" ist eine Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamen genealogischen und kulturellen Wurzeln. Entwickeln sich in deren Zusammenleben institutionalisierte Strukturen, wie Arbeitsteilung, Berufsstände, Verwaltungen, Schiedsgerichtsbarkeit, usw.. dann bekommt dieses Volk Züge einer staatlich organisierten Gemeinschaft.

Verselbstständigen sich diese Institutionen, indem Teile eines Volkes ausschließlich für die Belange dieser Institutionen (Ämter) abgeordnet werden, dann ist ein Staat entstanden.

Ein Volk, das sich zu einer staatlich organisierten Gemeinschaft entwickelt hat, ist eine Gesellschaft. "Gesellschaft" ist aber nicht gleich Gesellschaft. Jedes Volk entwickelt individuelle Gesellschaftsformen: Demokratien, Monarchien, Despotien usw..

Eine "Gesellschaft" ist keine reale Entität, sondern dasjenige, was wir über eine staatlich organisierte Gemeinschaft wissen; was man an ihr beobachten kann; und wie wir sie beschreiben würden. Ganz real, existieren für uns nur die Menschen denen wir begegnen, mit denen wir Kommunizieren oder interagieren können und das räumliche Gebiet, das wir mit ihnen teilen. Alles was über diese sinnliche Wahrnehmung hinaus geht, stellen wir uns nur vor.

Das gleiche gilt auch für den "Staat". Es gibt nur die Menschen, die so organisiert tätig sind, als würde es ihn geben. Der anschauungsbedürftige Menschenverstand betrachtet mangels echtem Staat dann eben die Gebäude der Institutionen als Staat. An irgend etwas muss man sich ja "festhalten".

Und weiter: Alle Menschen zusammen bilden die Menschheit.
Die Gesamtheit der Gesellschaften bildet unsere Zivilisation. Naturvölker zählen zur Menschheit, gelten aber nicht als zivilisiert. Auch Stammesgemeinschaften, ohne eigene staatliche Organisation, sind in diesem Zivilisationsbegriff nicht enthalten.

In diesem Text ist erkennbar, was die Begriffe Gesellschaft, Staat, Volk, Gemeinschaft hier bedeuten sollen. Deren Zuschreibung ist eine Kombination aus unreflektiertem Vorwissen, Orientierung an etabliertem Sprachgebrauch und einer willkürlichen Anpassung an das, was ich mit ihnen erklären will und wie ich die Dinge sehe.
Das mit meinen Begriffen gemeinte ist zu verstehen. Man muss aber nicht mit einverstanden sein.

Besonders geisteswissenschaftliche Begriffe sind wie Pferde, die von vielen klugen Leuten ins Rennen geschickt, und von anderen klugen Leuten kritisch, argwöhnisch und manchmal sogar eifersüchtig beäugt und thematisiert werden.

Sie stehen untereinander in einem Wettbewerb und müssen ihre Leistungsfähigkeit erst unter Beweis stellen. Diejenigen Begriffe machen letztlich das Rennen, mit denen etwas bisher unsichtbares sichtbar gemacht, mehr gezeigt, besser erklärt, oder anschaulicher beschrieben werden kann, als mit den Begriffen der Konkurrenz. Das sind dann auch diejenigen Begriffe auf die sich die Mehrheit der wissenschaftlichen Community irgendwann einigt.
Wortbedeutungen sind in diesem Sinne akademische Mehrheitsbeschlüsse.
Denn Bedeutungen können nicht wahr sein. Nur mehr oder weniger gut anwendbar.




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Jörn Budesheim
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Do 20. Mai 2021, 06:22

Simon Lohse, Zur Emergenz des Sozialen bei Niklas Luhmann hat geschrieben : ... Der grundsätzliche Streitpunkt ist demnach der Status des Sozialen. Handelt es sich bei diesem tatsächlich um einen eigenständigen Phänomenbereich, der sich nicht auf die Ebene der Individuen reduzieren lässt, oder muss davon ausgegangen werden, dass es sich lediglich um eine scheinbare Form der Eigenständigkeit handelt? Die hinter dieser Frage liegenden Probleme werden innerhalb der Wissenschaftsphilosophie bereits seit den 1920er Jahren unter den genannten Begriffen Emergenz und Reduktion diskutiert. Die allgemeine Grundidee der Emergenz ist die, „dass beim Zusammenschluss von Komponenten (A-Ebene) zu einem System (BEbene) dieses System gänzlich neuartige, unerwartete Eigenschaften aufweisen kann, die von der Ebene der Komponenten her grundsätzlich unverständlich, unableitbar und unvorhersehbar sind“ (Hoyningen-Huene 2007: 191). Vertreter einer reduktionistischen Position sind dagegen der Ansicht, dass sich diese Systemeigenschaften mittels umfassenden Wissens über die A-Ebene und die genaue Zusammensetzung des Systems der B-Ebene auf die A-Ebene zurückführen lassen. Der Reiz von Emergenztheorien besteht in dem Versuch das „Beste zweier Welten“ in sich zu vereinen: Besondere Phänomene (B-Ebene), wie mentale Zustände oder eben das Soziale, sollen im Rahmen einer naturalistischen Ontologie erklärt werden, ohne zusätzliche Substanzen oder immaterielle Sphären postulieren zu müssen. Gleichzeitig wird die Reduzierbarkeit der emergenten Phänomene ausgeschlossen, da ein solches Unternehmen den besonderen Eigenschaften der Phänomene nicht gerecht würde oder aus anderen Gründen nicht mçglich sei. Dieser Artikel setzt sich mit einer der originellsten und am meisten diskutierten Sozialtheorien des letzten Jahrhunderts auseinander, die eine Art der Emergenz des Sozialen behauptet und damit in der Tradition Durkheims steht: Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie. Der Gegenstand dieser Studie ist die Verwendung von Emergenzerklärungen in Luhmanns Theorie, vor allem, um Luhmann anschlussfähig für den momentan geführten Mikro-Makro-Diskurs zu machen und dadurch Licht auf die generellen Voraussetzungen einer aussichtsreichen emergentistischen Soziologie zu werfen ...
Dieses Zitat ist nicht unbedingt zum Anschließen gedacht, sondern nur ein Hinweis darauf, dass die beiden Fäden über die Gesellschaft und über die starke Emergenz womöglich zusammenhängen.




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