Muß der Westen den Anspruch auf eine Vorherrschaft, auch auf eine moralische, nun vollends aufgeben? fragt Ingo Zamperoni gestern in den
Tagesthemen den Politikwissenschaftler Thomas Jäger. Antwort:
"Nein, das muß er nicht. Aber er muß den Anspruch aufgeben - und den hat er schon zehn Jahre aufgegeben - , daß sich das durchsetzen läßt. Deswegen ist doch der Abzug jetzt folgerichtig. (...) Da wo Interessen nicht wirklich anliegen, da engagiert man sich nicht entsprechend. Da ist man nicht wirklich bei der Sache; und so war das in Afghanistan eben auch. (...) Den Aufbau einer Gesellschaft nach eigenem Bild, den man seit den nuller Jahren propagiert hat, das ist vom Tisch. Die Vorstellung, die damals in den 90er und 00er Jahren herrschte, daß Russland und China demokratisch würden, daß sozusagen eine Welle der Demokratie ausgeht von dieser einzigen Weltmacht [Amerika] und ihren Partnern, den Europäern, die moralisch noch kräftiger hinter der Demokratie stehen, diese Blauäugigkeit, die ist nun wirklich historisch erledigt."
Schaut man in den letzten zwei Wochen in die überregionalen Tageszeitungen, hört man Interviews mit Journalisten, die in Afghanistan waren, hört man Wissenschaftler, Politiker und politische Beobachter wie Jäger und andere - immer wieder ist von "Blauäugigkeit", von "Anmaßung", von "Selbsterhebung" ... des Westens die Rede. Wie ein roter Faden zieht sich das durch sehr viele Einschätzungen.
Die außenpolitischen Leitgedanken, die mit Afghanistan verbunden waren, nation-building, Demokratieexport ... haben sich nach Libyen, Irak und jetzt Afghanistan "historisch erledigt" wie Jäger sagt. Das heißt nicht, daß der Anspruch des Westens in der Konkurrenz mit autokratischen Systemen (Türkei) oder totalitären Systemen (China) auf das bessere System aufgegeben werden muß. Aber es bedeutet, daß der Westen von seiner Hybris des Demokratieexports ablassen muß. Diese Vorstellung hat sich als unrealistisch erwiesen, zuletzt wieder in Afghanistan.
Während Cem Özdemir am Sonntag in der ARD noch von einer "wertebasierten Außenpolitik" sprach, klingt das bei Joe Biden gestern schon anders. "Er wollte mit dem Abzug aus Afghanistan auch den Fehler korrigieren, mithilfe größerer Militäreinsätze andere Länder ändern zu wollen. Und für die Zukunft soll gelten, sich nur noch Missionen mit klaren, erreichbaren Zielen zu setzen und klar konzentriert zu bleiben 'auf die fundamentalen, nationalen Sicherheitsinteressen der USA.'" (
Quelle)
Die Europäer werden auch hier (mit einem kleinen Zeitverzug) den Amerikanern folgen. Steinmeier sprach bereits von einer "Zäsur", Merkel davon, die Ziele "künftig kleiner zu setzen", was Bidens Formulierung ("nur noch erreichbare Ziele") ja recht nahe kommt. Die Neuausrichtung europäischer, amerikanischer und deutscher Außenpolitik hat begonnen. Militärische Schläge gegen terroristische Gruppen und Milizen werden weiterhin eine Option dieser Außenpolitik sein, eine Interventionspolitik mit Bessatzungsstrategie durch Bodentruppen mit anschließendem Demokratie- und Werteexport wird nicht dazugehören.